Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ulrich Boschwitz „Der Reisende“: Wie schnell das geht
> Der Verleger und Herausgeber Ulrich Alexander hat den Roman „Der
> Reisende“ neu entdeckt, der kurz nach den Novemberpogromen von 1938
> entstand.
Bild: Eine jüdische Familie flüchtet unter den höhnischen Blicken von Nazis …
Peter Graf findet es erstaunlich, dass „Der Reisende“ von Ulrich Alexander
Boschwitz so gut ankommt. Immerhin sei die Hauptfigur des Romans, der
jüdische Unternehmer Otto Silbermann, der sich nach den Novemberpogromen im
Jahr 1938 auf der Flucht befindet, nicht sehr warm gezeichnet. Andererseits
wirke so seine Selbstreflexion viel plausibler, meint Graf.
Silbermann ist eine herrische Person. Gewohnt, Herr der Lage zu sein, fällt
es ihm noch schwerer als anderen, sich mit seiner neuen Rolle
zurechtzufinden: „Was war ich? Nein, was bin ich? Ein Schimpfwort auf zwei
Beinen, dem man es nicht ansieht, dass es ein Schimpfwort ist! Ich habe
keine Rechte mehr, nur aus Anstand oder Gewohnheit tun viele so, als hätte
ich noch welche.“
Silbermann echauffiert sich über seinen in Paris befindlichen Sohn, dem er
nicht zutraut, ihm ein Visum zu besorgen. Einmal fährt er einen jüdischen
Bekannten an, den er zufällig trifft und der das Pech hat, so auszusehen,
wie sich Antisemiten einen Juden vorstellen: Er kompromittiere ihn ja!
## Ernst Haffners „Blutsbrüder“
Peter Graf trägt schwarzes Jackett und Dreitagebart. Er spricht überlegt,
während er im taz-Café sitzt, so leise und unaufdringlich, dass ihn auf der
Aufnahme des Gesprächs die Stimmen der jungen Kolleginnen am Nebentisch zu
übertönen drohen. Es ist noch nicht lange her, dass Graf mit einem von ihm
wiederentdeckten Buch ein Coup gelang: Ernst Haffners 1932 erschienener
Roman „Blutsbrüder“ erzählt von einer Clique mittelloser Berliner
Jugendlicher.
Den „Blutsbrüdern“ ist es zu verdanken, dass „Der Reisende“ nun auf De…
erschienen ist. Der israelische Journalist Avner Shapira hörte von dem Buch
und interviewte Peter Graf. Als das Gespräch in Ha’aretz erschien, meldete
sich die in Israel lebende Nichte von Ulrich Boschwitz, Reulla Shachaf. Sie
legte Graf nahe, sich das Manuskript von „Der Reisende“ anzusehen, das im
Frankfurter Exilarchiv liegt. Der Roman wurde unter den Titeln „The Man Who
Took Trains“ 1939 in London und „The Fugitive“ 1940 in New York
veröffentlicht. Obwohl sich Heinrich Böll nach dem Krieg für das Buch
einsetzte, erschien es nie auf Deutsch.
Ulrich Alexander Boschwitz wurde am 19. April 1915 in Berlin geboren. Sein
Vater stammte aus einer jüdischen Familie, war aber zum Christentum
konvertiert. Die Mutter war ein Spross der Lübecker Familie Plitt, die
bedeutende Theologen hervorgebracht hat. Ulrichs Schwester Clarissa floh
1933 aus Berlin in die Schweiz, schloss sich der Zionistischen Bewegung an
und wanderte nach Palästina aus.
Ulrich und seine Mutter Martha Wolgast Boschwitz, eine Malerin, verlassen
erst 1935 Deutschland. Anlass sind vermutlich die Nürnberger Rassengesetze.
Mutter und Sohn emigrieren nach Schweden, dann nach Norwegen, wo Ulrich
Boschwitz seinen ersten Roman „Menschen neben dem Leben“ verfasste. Er ist
in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt. Die Protagonisten sind
drei Obdachlose, die sich in einen feuchten Keller einmieten. Wegen des
großen Interesses an „Der Reisende“ werde man „Menschen neben dem Leben�…
1937 in Schweden erschienen, sicher bald auf Deutsch publizieren, sagt
Peter Graf.
## Paris, Brüssel, Luxemburg
„Der Reisende“ entstand innerhalb weniger Monate nach den von der
Naziführung organisierten Plünderungen jüdischer Geschäfte, Brandanschlägen
auf Synagogen, willkürlichen Verhaftungen und Hunderten von Morden im
November 1938, die Ulrich Boschwitz vom Ausland aus verfolgte. Er hält sich
damals in Paris, Brüssel und Luxemburg auf. Schon die erste Szene des Buchs
zeigt auf beeindruckende Weise das Können des damals 23 Jahre alten Autors.
Otto Silbermann sitzt seinem ehemaligen Frontkameraden Becker gegenüber,
der lange sein Prokurist war, nun aber zum Sozius avanciert ist. Silbermann
braucht jetzt einen „arischen“ Geschäftspartner. Er ist mit Becker
freundschaftlich verbunden, drei Jahre Westfront sind nicht vergessen. Aber
nun zeigen sich im Dialog subtil die neuen Machtverhältnisse.
Der Nationalsozialist Becker bestätigt seinem alten Freund, für ihn sei er
„ein deutscher Mann – kein Jude“. Man kann schon ahnen, dass die alte
Freundschaft Becker nicht davon abhalten wird, sich Silbermanns Geschäft
für einen Spottpreis anzueignen, als dieser sich ausbezahlen lässt, um zu
flüchten.
„Vieles im Roman trägt autobiografische Züge. Diese Szene wohl eher nicht.
Aber auch in diese Figurenzeichnung fließt persönliches Empfinden ein“,
vermutet Peter Graf. Ulrich Boschwitz’ Vater starb kurz vor seiner Geburt
an der Front, wie viele jüdische Männer, die sich weniger als Juden denn
als deutsche Patrioten begriffen.
## Flucht kreuz und quer durchs Land
Dass diese erste Szene im Wartesaal der Ersten Klasse eines Berliner
Bahnhofs spielt, nimmt die Flucht Otto Silbermanns vorweg, der versucht,
durch illegalen Grenzübertritt Deutschland in Richtung Belgien zu
verlassen, aber scheitert. Fortan ist er mit der Reichsbahn unterwegs,
kreuz und quer durchs Land, weil für einen Juden, wie er sagt, „das ganze
Reich ein erweitertes Konzentrationslager“ geworden ist.
Der Reisende trifft Zivilpolizisten, stramme Nazis und Denunzianten, aber
auch Menschen, die ihr Mitgefühl nicht verhehlen, ihm Hilfe anbieten. Er
erhält er die Adresse eines jungen Kommunisten, der ihn zur Grenze bringt.
Peter Graf hat sich schon als Jugendlicher für Literatur der Weimarer
Republik, der Emigration und aus der unmittelbaren Nachkriegszeit
interessiert, Erich Maria Remarque, Manès Sperber, Alfred Andersch. Eben
hat er im Verlag das Kulturelle Gedächtnis Alfred Neumanns Roman „Es waren
ihrer sechs“ über den Widerstand in Deutschland neu herausgegeben. „Es gibt
viel mehr Schätze, als man bergen kann“, sagt er.
## Bestimmte Gruppen zum Freiwild erklären
Warum ist „Der Reisende“ jetzt so erfolgreich? „Mit den sprachlichen
Instrumenten, die am Anfang von Diskriminierung und Ausgrenzung stehen,
wird jetzt wieder gearbeitet. Das berührt die Leute an diesem Buch“, sagt
Peter Graf. Das Buch zeige, was passiert, „wenn der Staat bestimmte
Bevölkerungsgruppen nicht mehr schützt, sondern öffentlich zum Freiwild
erklärt“.
Ulrich Alexander Boschwitz zeigt die Mechanismen der Ausgrenzung, in denen
der Massenmord schon angelegt ist, nüchtern und schonungslos. „Vor zehn
Minuten ging es noch um mein Haus, einen Teil meines Vermögens. Jetzt geht
es schon um meine Knochen. Wie schnell das geht“, sinniert Otto Silbermann.
1939 folgte Ulrich Alexander Boschwitz seiner Mutter ins britische Exil.
Dort wurde er als enemy alien interniert und nach Australien geschickt.
1942 ging er an Bord eines von der britischen Regierung gecharterten
Passagierschiffs, um nach Großbritannien zurückzukehren. Am 29. Oktober
wurde die „M. V. Abosso“ im Atlantik von einem deutschen U-Boot torpediert
und versenkt.
16 Mar 2018
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Novemberpogrome
Schwerpunkt Flucht
Jüdisches Leben
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Exil
Flucht
Holocaust
Antisemitismus
Israelis
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ausstellung zu Klaus und Heinrich Mann: „Für verlustig erklärt“
Die Deutsche Nationalbibliothek zeigt die Ausstellung „Mon Oncle. Klaus und
Heinrich Mann“. Sie verfolgt das Werk der beiden Autoren bis ins Exil.
Roman über Migrationsbewegungen: Die unbekannte Familie
Francesca Melandris „Alle, außer mir“ ist ein großer Fluchtroman. Darin
wirft der italienische Kolonialismus in Äthiopien lange Schatten.
Die Arabistin, die niemand kennt: Die Jüdin und „Mein Kampf“
In der NS-Zeit arbeitete Hedwig Klein an einem Wörterbuch, mit dem Hitlers
Schrift übersetzt werden sollte. Geholfen hat es ihr nicht.
Jahrestag antisemitischer Diskriminierung: „Judenstern“ als befohlenes Stig…
Mit der Kennzeichnung 1941 begann der systematische Mord an mindestens
sechs Millionen Juden. Sie war die letzte einer Reihe von Ausgrenzungen.
TV-Doku „Ein Apartment in Berlin“: Ihr Holocaust ist ein anderer
In einem 3sat-Dokumentarfilm spielen drei junge Israelis nach, wie eine
verstorbene jüdische Familie in den 30er Jahren in Berlin lebte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.