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# taz.de -- Holocaust und Literatur: Poetik der Fassungslosigkeit
> Kann man, darf man den Holocaust erzählen? Darüber diskutierten auf einem
> Symposium in Jena Hayden White, Saul Friedländer und Christopher
> Browning.
Bild: Das Holocaust-Mahnmal in Berlin.
Kann man den Holocaust so beschreiben wie die Schulreform in Preußen oder
die Geschichte der Gefängnisse in den USA, nämlich als eine Abfolge von
Ereignissen und als Ergebnis von Strukturen? Wenn nicht, wie dann? Dürfen
oder müssen Beschreibungen des Holocausts mehr als andere Erzählungen sein?
Erfordert die Beschreibung des Holocausts andere, eigene ästhetische
Mittel? Schaut man heute, 70 Jahre nach dem Geschehen, anders auf diese
Fragen? Welche Rolle werden die Zeithistoriker künftig in der Beschreibung
des Holocausts spielen?
Über dieses Knäuel von Fragen zerbrach man sich am Wochenende auf einem
Symposium in Jena den Kopf; "Den Holocaust erzählen?", lautete der Titel.
Das Treffen war eine Art Wiederaufführung. Saul Friedländer, Essayist,
Holocaustüberlebender und Historiker, der Literaturwissenschaftler Hayden
White und der NS-Historiker Christopher Browning hatten über dieses Thema
schon 1990 in Los Angeles debattiert. Jena sollte eine Art Revival,
vielleicht ein Versöhnungstreffen werden - es kam etwas anders.
Hayden White ist 82 Jahre alt, ein vitaler, marxistischer Intellektueller.
Er trägt einen kleinen Ohrring und strahlt eine lässige, unakademische
Vergnügtheit aus, die hierzulande selten ist. Nachdem White wie verabredet
45 Minuten geredet hatte, machte er, obwohl erst mitten in seinem Skript
angekommen, einfach Schluss und sagte: "Den Rest könnt ihr euch doch
sowieso denken." 1973 hat White "Metahistory" veröffentlicht, das damals
eine gehörige Provokation war und noch immer ist. Der Kerngedanke ist
einfach: Historiker schreiben Texte. Texte sind Erzählungen, die denselben
dramaturgischen Gesetzen folgen wie Romane. White kündigte zwar salopp an,
er werde 40 Jahre danach "Metahistory" nicht verteidigen, aber genau das
tat er. "Die Historiker glauben, der Inhalt ist entscheidend, nicht die
Form. Das ist falsch", so White kategorisch. Die Geschichtswissenschaft
produziert "Artefakte". Historiker dächten noch immer viel über Methodik
nach, aber selten über diskursive Form. Jules Michelet oder Leopold von
Ranke lese man doch wegen ihres Stils, nicht wegen der blanken Fakten, die
sie berichten.
Whites Analyse des Holocausts fiel unoriginell aus. Die industrielle
Vernichtung der Juden sei Ausdruck der Zerstörungskraft der Moderne
gewesen, letztlich des Kapitalismus. Daher sollten sich Historiker der
ästhetischen Formen der Moderne bedienen. Und als Paradebeispiel
präsentierte White "Das Dritte Reich und die Juden", das zweibändige Opus
magnum von Saul Friedländer, der bei der Debatte Geschichtserzähler versus
Faktenhistoriker auf der anderen Seite des Zauns stand.
## Nach vorne, nach hinten
"Die Jahre der Vernichtung" öffne einen Panoramablick auf den Holocaust
1939 bis 1945. Friedländer collagiere Pläne, Taten und die Organisation der
Täter mit Zeugnissen der Opfer, deren Stimmen wie ein Chor die
Ereignisgeschichte durchbrächen. Friedländers "Das Dritte Reich und die
Juden" versuche wissenschaftliche Genauigkeit mit staunendem Entsetzen zu
verbinden. Es seien keine neuen Fakten oder Quellen, die dieses Buch
singulär erscheinen ließen, es sei die erzählerische Komposition und ihre
"Poetik der Fassungslosigkeit", so Dan Diner in Jena. Interessant wäre, ob
die Fassungslosigkeit spezifisch für die Holocaustgeschichtsschreibung ist
oder ob sie auch für den Gulag gilt. Diese Debatte fand nicht statt.
White und als side kick Wulf Kansteiner versuchten Friedländers zweiten
Band "Jahre der Vernichtung" als Modell einer Holocaustgeschichtsschreibung
zu lesen, die endlich die Formensprache der modernen Literatur nutze und
ein Art Antwort auf "Metahistory" sei. Mit Zeitsprüngen und raschen
Ortswechseln, mit Auslöschungen des Zeitkontinuums rücke "Jahre der
Vernichtung", von allen und ein paarmal zu oft als Meisterwerk gelobt,
unversehens an die Seite von Virginia Woolf.
Der Text, so Kansteiner, "wird schwer kalkulierbar, weil sich die Zeit
manchmal nach vorne, mal nach hinten bewegt". In dieser konstruierten
Unübersichtlichkeit, in der die lineare Zeiterfahrung zerrinnt, spiegele
sich ästhetisch die existenzielle Verunsicherung der Opfer. Und das
Publikum werde, wie in Daniel Libeskinds Architektur des Jüdischen Museums
Berlin oder Eisenmans Berliner Holocaust-Mahnmal, mit solchen ästhetischen
Kniffen in die Lage versetzt, sich der Gefühlslage der Opfer zu nähern.
Eindeutigkeiten würden untertunnelt, das Publikum in ein Spiegelkabinett
von Ambivalenzen geführt. So wie Joyce eine Sprachform für die Komplexität
moderner Erfahrung zu finden gesucht habe, so suche Friedländer eine für
die Beschreibung des Holocausts. Nur moderne Literatur könne offenbar das
Wunder vollbringen, von umfassender Sinnlosigkeit zu sprechen, ohne diese
Wunde mit dem heilenden Verband sinnstiftender Erzählung sogleich zu
schließen.
## Gepäck verdächtig schwer
Was misstrauisch macht, ist, dass die Ästhetik der literarischen Moderne
umstandslos auf eine eindeutige Moral - Empathie mit den Opfern -
verpflichtet wird. Misstrauisch macht auch die Reihe von Kronzeugen, die
aufgerufen wurde, um "Jahre der Vernichtung" als Exempel für die endlich
geglückte Synthese von Historiografie und Fiktion zu präsentieren. Sie
reichte von Joyce über Kafka bis zu Walter Benjamin. Dieses Gepäck war
verdächtig schwer.
Der Historiker Friedländer wies diese freundliche Übernahme charmant, aber
deutlich zurück. Er komme sich vor wie der alte Mann, dem in dem Witz zwei
übereifrige Pfadfinder, die unbedingt Gutes tun wollen, über eine stark
befahrene Straße helfen - allerdings wollte er gar nicht auf die andere
Straßenseite. Schon gar nicht, um dort den Thron des Meisters literarischer
Geschichtsschreibung zu besteigen. Die Zeitsprünge in "Jahre der
Vernichtung" seien keine narrativen Effekte, sondern schlicht der
Komplexität des Materials geschuldet. Eine umfassende Ereignisgeschichte,
die von Dänemark bis Bulgarien, von der Wannseekonferenz bis Palästina, von
den Ängsten 16-Jähriger im Getto in der Ukraine bis zur Kollaboration beim
Judenmord von Paris bis Kiew reiche, lasse sich nicht ohne zeitliche Brüche
erzählen. Von nichtlinearer Zeit könne keine Rede sein: Der Holocaust, so
Friedländer, habe Anfang, Mitte und Ende. Es gehe, kurzum, nicht um das Ja
oder Nein zu Erzählung, sondern um die Grenze zwischen literarischem und
historischem Erzählen. Die Logik von Historikern sei auf Wirklichkeit und
Wissen geeicht, die von Literatur auf Wesen oder Wahrheit.
Christopher Browning, wie Friedländer einer der führenden
Holocausthistoriker und Autor der Studie "Ganz normale Männer" über das
Polizeibataillon 101, verfolgte die Debatte etwas abwesend. "Geschichte ist
keine Fiktion", so sein hemdsärmeliges Resümee. Man müsse Texte schreiben,
die verstanden würden und dem Holocaust ein Gesicht gäben. Für Historiker,
so Friedländer, komme es anders als für Romanciers darauf an, zu wissen,
wer die Tür der Gaskammern schloss.
## Über die Tabus hinweg
Kann man, darf man beschreiben, was dahinter geschah? Kann man den
Holocaust als Ganzes erzählen? Elie Wiesel, der Auschwitz überlebte, befand
einmal, dass "eine Geschichte über Majdanek Gotteslästerung" sei. Dieses
Darstellungsverbot, das ein Derivat religiöser Bilderverbote ist, spiegelt
die Idee, dass der Holocaust ein einzigartiges Ereignis war, das die
Geschichte selbst unterbrochen hat. Daniel Fulda zeigte, dass die
Geschichte der Holocaustbeschreibungen über diese Tabuisierungen
hinweggegangen ist. Auch Elie Wiesel beschrieb den Holocaust in recht
konventionellen Formen. Die Idee, dass der Holocaust nicht darzustellen
ist, ist gewissermaßen Teil der Darstellung des Holocausts geworden.
Sollen Historiker den Holocaust eher erzählen als analysieren? Norbert Frei
formulierte leise skeptische Einwände. "Geschichte erzählen" sei in der
Bundesrepublik mal ein Kampfruf der Konservativen gewesen, denen das Faible
der Linken für Strukturen und Sozialgeschichte gegen den Strich gegangen
sei. Ganz unschuldig ist die Forderung nach erzählender
Geschichtsschreibung nicht. Nach vorne gewandt kann Erzählen womöglich ein
Fluchtweg für die Zunft der NS-Historiker sein. Es ist mit dem Versprechen
verknüpft, im Deutungsgeschäft gegen die visuellen Medien nicht vollends
unterzugehen. Unter der Hand ist die Debatte Erzählung versus Quellen auch
eine über die Angst der NS-Historiker vor Bedeutungsverlust.
Neu ist diese Furcht nicht. Als Christopher Browning 1970 seinem Professor
eröffnete, über den Judenmord zu forschen, riet der ab. Das Thema habe
wirklich keine Zukunft.
14 Jun 2011
## AUTOREN
Stefan Reinecke
Stefan Reinecke
## TAGS
Historikerstreit
Elie Wiesel
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