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# taz.de -- Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen: Er war dabei, er hat es gewus…
> Der Umfang der Anklage gegen früheren Auschwitz-SS-Wachmann Hanning geht
> weit über bisherige Prozesse in Deutschland hinaus.
Bild: Der ehemalige SS-Wachmann Reinhold Hanning zeigte während der Verhandlun…
Detmold taz | Der Angeklagte schweigt. Selbst Angaben zu seiner Person
kommen Reinhold Hanning am Donnerstag nicht über die Lippen. Der 94-Jährige
ist vor dem Detmolder Landgericht der Beihilfe zum Mord in mindestens
170.000 Fällen angeklagt. Von Januar 1943 bis zum Juni 1944 war er als
SS-Wachmann im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz tätig.
Mehr als 71 Jahre ist das her. Auf dem Weg zu seinem Platz zwischen seinen
beiden Verteidigern Andreas Scharmer und Johannes Salmen geht Hanning am
ersten Prozesstag vorsichtigen Schritts und gebeugten Hauptes. Seinen Kopf
hebt er auch während der knapp zweistündigen Verhandlung nicht.
Fast scheint es, als interessiere sich der alte Mann nicht dafür, was sich
um ihn im voll besetzten Saal abspielt. Hanning werde „derzeit“ keine
Aussage zur Sache machen, erklärt einer seiner Anwälte, die beileibe keine
rechtsradikalen Szene-Juristen sind.
Das Detmolder Gericht hat die Verhandlung wegen des besonderen öffentlichen
Interesses in die Räume der Industrie- und Handelskammer am Rande der Stadt
verlegt. So können gut 200 Zuhörer das Verfahren in dem großen, von zwei
Fensterfronten geprägten Saal verfolgen.
## Wachmänner waren am Morden beteiligt
Hanning lässt auch keine Regung erkennen, als der Leitende Oberstaatsanwalt
Andreas Brendel die Anklage verliest. Der Dortmunder Jurist geht auf den
Gesamtkomplex des Lagers Auschwitz ein: Nicht nur seien dort die Menschen
nach ihrer Selektion durch das Giftgas Zyklon B in grausamer Weise ermordet
worden.
Brendel verweist auch auf die „Vernichtung durch die Lebensverhältnisse“
für diejenigen Juden, die nicht sofort ins Gas geschickt wurden, sondern
als Arbeitssklaven in Auschwitz dienen mussten: keine ausreichende
Kleidung; unzumutbare hygienische Bedingungen und ärztliche Betreuung; der
ständige Hunger, der bei vielen Menschen zum Tod führte; und schließlich
die Massenhinrichtungen von Häftlingen durch Erschießungen an der
„schwarzen Wand“.
Aus der während Hannings Dienstzeit erfolgten „Ungarn-Aktion“, bei der die
ungarischen Juden fast ohne Ausnahme nach Auschwitz deportiert wurden,
ergibt sich die in der Anklage genannte Zahl von 170.000 Morden.
Diese Anklage geht in ihrem Umfang weit über das hinaus, was bisher zu
Auschwitz in deutschen Gerichtssälen verhandelt worden ist: An all diesen
Mordaktionen seien die Wachmänner der SS-Totenkopfverbände Auschwitz
beteiligt gewesen. Hanning habe gewusst, was sich in dem Lager abgespielt
habe.
## Überlebender verlor 35 Familienangehörige im Holocaust
Die Strategie der Verteidigung wird zunächst nur in Umrissen deutlich. So
rügen Salmen und Scharmer zwar die kurzfristige Umbesetzung der Kammer
infolge der Erkrankung eines Richters. Sie verzichten aber auf
entsprechende Rechtsmittel, um dem Eindruck einer Verfahrensverschleppung
zu entgehen.
Zugleich erklären sie, eine Vernehmung Hannings durch die
Staatsanwaltschaft in seinem Privathaus, bei dem der seinen Einsatz in
Auschwitz zugegeben hatte, könne nicht als legal betrachtet werden.
Begründung: Der Angeklagte habe die Belehrung über seine Rechte nicht
verstanden. Ob das allerdings dazu führt, dass die Verteidigung Hannings
Anwesenheit in Auschwitz in Abrede stellen will, bleibt am ersten
Verhandlungstag unklar.
Richterin Anke Gudda, flankiert von zwei weiteren Berufsrichterinnen, führt
die Verhandlung freundlich, aber bestimmt. Als Ersten bittet sie den
94-jährigen Leon Schwarzbaum in den Zeugenstand.
## „Wir stehen beide bald vor dem höchsten Richter“
Der Auschwitz-Überlebende und Nebenkläger berichtet aufgewühlt, wie er in
das Lager verschleppt wurde, dort die Selektion zwischen „Arbeitsfähigen“
und „Arbeitsunfähigen“ überstand und danach als Arbeitssklave in Auschwitz
dahinvegetieren musste.
Er beschreibt unter anderem, wie ein SS-Offizier einem Wachmann den Befehl
erteilte, ein etwa 17-jähriges Mädchen mit roten Haaren zu erschießen –
ohne dass es dazu irgendeinen besonderen Grund gegeben hätte. Als der
Wachmann zögerte, habe der Offizier ihr selbst in den Kopf geschossen.
Schwarzbaum, der im Holocaust 35 Familienangehörige verlor, richtet zum
Schluss seiner Aussage einen dramatischen Appell an den ebenso alten
Angeklagten. „Herr Hanning, wir stehen beide bald vor dem höchsten
Richter“, sagt er. Deshalb solle er endlich die Gelegenheit nutzen und vor
dem Gericht über seine Taten sprechen. Der ehemalige SS-Unterscharführer
Reinhold Hanning, in seinem zweiten Leben Chef eines Molkereifachhandels im
westfälischen Lage, jetzt verwitweter Rentner, zeigt keinerlei Reaktion.
11 Feb 2016
## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Auschwitz-Prozess
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Holocaust
Schwerpunkt Nationalsozialismus
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Nazis
"Arisierung"
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