# taz.de -- Deportationen im Nationalsozialismus: Die letzte Adresse vor der De… | |
> Vor 85 Jahren nötigten die Nazis Juden:Jüdinnen per Gesetz, in | |
> „Zwangsräume“ umzuziehen. Das Aktive Museum hat eine digitale Ausstellung | |
> konzipiert | |
Bild: Hier an der Kleiststraße in Schöneberg stand ein sogenanntes „Judenha… | |
Ein Zimmer, eine Familie – mehr Platz gab es meist nicht, wenn | |
Juden:Jüdinnen in die Wohnungen oder Häuser ihrer jüdischen | |
Mitbürger:innen einziehen mussten. Ein weißer Judenstern kam auf die | |
Tür, so konnte alle Welt erkennen, wer hier wohnte – und wie systematisch | |
der NS-Staat die jüdische Bevölkerung verfolgte. | |
Das am 30. April 1939 in Kraft getretene „Gesetz über Mietverhältnisse mit | |
Juden“ berechtigte nichtjüdische Vermieter:innen, jüdischen Mieter:innen | |
grundlos und mit einer Räumungsfrist von wenigen Wochen zu kündigen. Zudem | |
wurden jüdische Wohnungseigentümer:innen verpflichtet, jüdische | |
Personen bei sich aufzunehmen. In der Folge entstanden in vielen Städten | |
sogenannte „Judenhäuser“, in denen die jüdische [1][Bevölkerung auf meist | |
sehr engem Raum zusammenleben musste.] So auch in Berlin. | |
„Mir war das Problem der ‚Zwangsräume‘ gar nicht bewusst, bevor ich | |
angefangen habe, mich damit zu beschäftigen“, sagt Marc Mendelson. Er ist | |
Teil der Gruppe des Aktiven Museums, die das Thema für Berlin erforscht | |
hat. „Ich wusste, dass die Juden da noch ein paar Jahre gewohnt haben, ehe | |
sie deportiert wurden. Was das genau bedeutet hat, war mir nicht klar.“ | |
[2][Diese Lücke zu füllen, ist Ziel der digitalen Ausstellung | |
„Zwangsräume“,] das aus der Forschungsarbeit von rund 40 Mitgliedern des | |
Aktiven Museums entstanden ist. [3][Auf einer interaktiven Karte] lässt | |
sich genau nachvollziehen, wo es Zwangsräume gegeben hat, 791 sind es zum | |
derzeitigen Stand. Zu 32 Häusern und deren Bewohner:innen haben die | |
teils professionellen, teils Laien-Forscher:innen detailliert geforscht, zu | |
den Geschichten gibt es umfangreiches Material in Form von historischen | |
Dokumenten und Fotografien sowie 3-D-Animationen. Zusammen ergibt das ein | |
sehr plastisches Bild von jüdischem Leben und Leid in Berlin zwischen 1939 | |
und 1945. | |
## Die Vorfahren von Marc Mendelson lebten in Schöneberg | |
„In Schöneberg gab es besonders viele Zwangsräume, hier lebte eine große | |
jüdische Community“, sagt Yves Müller, einer der Profi-Historiker:innen des | |
Projekts. Ein weiterer Grund war „Germania“, das – nie realisierte – | |
Großbauprojekt des Nazi-Architekten und Generalbauinspektors Albert Speer. | |
„Die Nord-Süd-Achse, an der repräsentative Behördenbauten errichtet werden | |
sollten, führte quer durch Schöneberg“, sagt Müller. „Gebäude, die für… | |
Abriss vorgesehen waren, wurden genutzt, um jüdische Mieter:innen, die aus | |
ihren Wohnungen vertrieben wurden, unterzubringen. Dahinter steckte ein | |
höchst ausgeklügeltes System.“ | |
Das Amt von Speer war auch im übrigen Stadtgebiet für die Einquartierung | |
der obdachlos gemachten jüdischen Bevölkerung verantwortlich, Unterstützung | |
bei Organisation und Durchführung dieses Massenumzugs erhielt es von der | |
Gestapo und der jüdischen Gemeinde – durch ihre Einbeziehung hoffte | |
Letztere, besonders harte Fälle mildern zu können. | |
Auch die Vorfahren von Marc Mendelson lebten in Schöneberg. „Von ihnen habe | |
ich erst erfahren, als ich begann, meine Familiengeschichte zu erforschen“, | |
erzählt er der taz. „Rose Mendelsohn war die dritte Frau meines | |
Urgroßvaters. Er hatte schon drei Söhne, darunter meinen Großvater. Und | |
auch Rose brachte drei Kinder in die Ehe mit, Suse, Lilli und Max Henoch.“ | |
Lilli Henoch war eine bekannte Spitzensportlerin der Leichtathletik, | |
zehnmal wurde sie Deutsche Meisterin und hatte vier Rekorde aufgestellt, | |
als sie von den Nazis mit einem Berufsverbot belegt wurde. Mehrfach erhielt | |
sie das Angebot, im Ausland zu arbeiten, warum sie ablehnte, ist ungewiss. | |
Vielleicht wollte sie die Mutter nicht allein lassen. | |
## Stolpersteine erinnern an den letzten freiwilligen Wohnort | |
Stolpersteine erinnern an den letzten freiwilligen Wohnort in der | |
Haberlandstraße 11 (heute Treuchtlinger Straße 5). Über die | |
Stolperstein-Initiative hat Mendelson einiges über das Schicksal seiner | |
Verwandten in Erfahrung gebracht. Recherchen in Museen, Archiven sowie | |
Datenbanken im Internet halfen die Geschichte zu präzisieren: Mehrere Jahre | |
mussten Rose Mendelsohn und ihre Tochter fremde Familien in ihrer Wohnung | |
beherbergen, bis sie schließlich selbst zum Umzug gezwungen wurden. Im Mai | |
1941 zogen die beiden Frauen in die Kleiststraße 36 – es ist das Haus, das | |
Mendelson für das Ausstellungsprojekt genauer untersucht hat. | |
In dem Gebäude unweit des U-Bahnhofs Nollendorfplatz gab es laut Mendelson | |
insgesamt vier sogenannte „Judenwohnungen“. An die 18 Juden:Jüdinnen, die | |
hier gelebt haben, erinnert heute nichts mehr, ein Neubau ersetzt das im | |
Krieg zerstörte Haus. Dank alter Grundrisse und Fotos weiß Mendelson aber, | |
wie es hier früher ausgesehen hat. „Das Zimmer, das sich meine | |
Stief-Urgroßmutter und ihre Tochter teilen mussten, lag im zweiten Stock“, | |
berichtet er. „Hauptmieterin der Dreizimmerwohnung war Maria Askenazy, sie | |
lebte hier mit ihren Söhnen Manfred und Erwin, 10 und 12 Jahre alt. Der | |
Vater war nach Argentinien geflüchtet.“ | |
Oft hat Mendelson versucht sich vorzustellen, wie die beiden fremden | |
Familien miteinander gelebt haben. „Rose und Lilli werden auf die Jungs | |
aufgepasst haben“, vermutet er. Jüdische Kinder durften nicht in | |
öffentliche Schulen gehen, ab Juni 1942 blieben auch die jüdischen Schulen | |
geschlossen. „Und die Mutter wurde von den Nazis gezwungen, in der Fabrik | |
zu arbeiten.“ Maria Askenazy schuftete für die Siemens & Halske AG. | |
Vielleicht haben auch die Althertums ausgeholfen, Rudolf und seine alte | |
Mutter Elsbeth, die Anfang 1942 das dritte Zimmer der Wohnung bezogen. Frau | |
Althertum war die Erste, die die Gestapo holte, sie kam nach | |
Theresienstadt, fand Marc Mendelson heraus. Das war im Sommer 1942. Einen | |
Monat später traf es Mendelsons Ahninnen, im September 1942 wurden Rose | |
Mendelsohn und Lilli Henoch ins Ghetto Riga deportiert und dort ermordet. | |
## Der Oberfinanzpräsident übernahm nicht nur das Vermögen | |
[4][Die wenigen Dinge, die die beiden Frauen in ihrem Zimmer hinterließen], | |
werden die Beamten der Vermögensverwertungsstelle – ein vom | |
Oberfinanzpräsidenten eigens eingerichtetes Amt für die Verwertung | |
jüdischen Eigentums – bald abgeholt haben. Sofern die nichtjüdischen | |
Nachbarn im Haus nicht schon vorher zugeschlagen hatten. Gut möglich ist | |
auch, dass der Hausmeister den Schlüssel für Nachmieter verwahrte, als die | |
Wohnung der Familie Askenazy geräumt wurde – meist wurden „frei gewordene�… | |
Wohnungen sogleich neu belegt, um Mietrückstände zu vermeiden. Der | |
Oberfinanzpräsident übernahm nicht nur das Vermögen, sondern auch die | |
Schulden der Juden:Jüdinnen. | |
Die Räumung erfolgte im Mai 1943, nur drei Monate nachdem Maria Askenazy | |
und die Kinder sowie der Untermieter Rudolf Althertum nach Auschwitz | |
verschleppt und dort ermordet wurden. Ein ähnliches Schicksal traf auch die | |
meisten anderen jüdischen Menschen im Haus. Für elf von ihnen war dieser | |
Ort die letzte Station auf dem Weg in den Tod. | |
„Die Zwangsräume waren zentraler Teil der Verfolgung der Juden in | |
Deutschland“, sagt Historiker Yves Müller. Von den 78.700 Berliner | |
Juden:Jüdinnen, die 1939 noch in der Stadt lebten, wurden die meisten aus | |
Zwangsräumen abgeholt. | |
Perfide ist, dass Vertreibung, Deportation und Vernichtung der | |
Juden:Jüdinnen ebenfalls aus einem jüdischen Haus organisiert wurde. | |
Yves Müller hat dazu geforscht. „Das repräsentable Gebäude in der | |
Kurfürstenstraße 115/116 gehörte einst dem Jüdischen Brüderverein“, erz�… | |
Müller. „In den großen Räumlichkeiten wurden Feste gefeiert und politische | |
Versammlungen abgehalten.“ | |
Nach der Reichspogromnacht 1938 wurde der Verein verboten, daraufhin wurden | |
die prächtigen Räume von der Gestapo genutzt. In Erinnerungsberichten | |
jüdischer Holocaust-Überlebender taucht die Adresse oft wegen der hier | |
befindlichen „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ auf, hier mussten | |
sie vorstellig werden, um Bürokratisches rund um ihre Vertreibung zu | |
erledigen. | |
## In mindestens drei Wohnungen lebten 26 Juden:Jüdinnen | |
Traurige Berühmtheit hat dieser Ort aber vor allem wegen des hier | |
ansässigen „Judenreferats“ erlangt. Ab 1941 organisierten Adolf Eichmann | |
und mehrere Dutzend Mitarbeiter von hier den massenhaften Mord an | |
Juden:Jüdinnen und anderen NS-verfolgten Bevölkerungsgruppen. | |
„Eichmanns Beamte arbeiteten und lebten Wand an Wand mit jüdischen | |
Menschen, die im selben Haus zwangsweise einquartiert worden waren“, | |
berichtet Yves Müller aus seinen Recherchen. In mindestens drei Wohnungen | |
lebten 26 Juden:Jüdinnen, die letzten wurden im September 1943 deportiert. | |
Kaum einer überlebte. | |
„Als Historiker fällt es mir schwer, Parallelen zur Gegenwart zu ziehen“, | |
sagt Yves Müller, darauf ziele die Ausstellung auch nicht ab. In Anbetracht | |
der „Remigrations“-Phantasien von AFD und Konsorten ergebe sich ein | |
gewisser Gegenwartsbezug jedoch ganz von selbst. | |
„Unsere Ausstellung über die Zwangsräume macht deutlich, dass die | |
Ausgrenzung von Juden:Jüdinnen lange vor den Vernichtungslagern | |
begann“, so der Historiker. Sie nahm mit Gesetzen ihren Anfang und setzte | |
sich in unzähligen Verwaltungsakten fort. Hausverwalter:innen, | |
Anwält:innen, Händler:innen und viele andere Personen und Firmen trugen | |
ihren Teil bei. „Wenn man auf die Karte unserer Ausstellung schaut, wird | |
sofort klar, wie flächendeckend das war. Das war Alltag, überall in | |
Berlin.“ | |
30 Apr 2024 | |
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## AUTOREN | |
Karlotta Ehrenberg | |
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