| # taz.de -- Geschichte der jüdischen Familie Scholem: Die Brüder Scholem | |
| > Ein Buch zeigt die Familiengeschichte der Scholems als Sozialgeschichte | |
| > des Judentums im 20. Jahrhundert. Am berühmtesten war Gershom. | |
| Bild: Die Scholem-Brüder, 1904. Von links: Reinhold, Erich, Werner und Gershom | |
| Nach ihm ist in Berlin weder ein Platz noch eine Straße benannt – anders | |
| bei seinem [1][lebenslangen Freund Walter Benjamin], der 1940 auf der | |
| Flucht vor den Nazis durch Freitod gestorben ist. Dabei war und ist Gershom | |
| Scholem der berühmteste Erforscher der jüdischen Mystik; geboren wurde er | |
| 1897 in Berlin, um Jahrzehnte später, 1982, [2][in Jerusalem zu sterben]. | |
| Dieser Sohn einer bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie hatte, was minder | |
| bekannt ist, noch drei Brüder: Erich, Reinhold und Werner. Der ihm an Nähe | |
| und Gegensatz nächste Bruder, Werner, wurde 1895 geboren und 1940 als | |
| Kommunist im KZ Buchenwald ermordet, während es den beiden älteren Brüdern, | |
| dem 1891 geborenen Reinhold sowie dem 1893 geborenen Erich gerade noch | |
| gelang, nach Australien zu fliehen. | |
| Die Geschichte der Scholems ist indes weit mehr als eine – wenn auch | |
| dramatische – Familiengeschichte, vielmehr ist sie nicht mehr und nicht | |
| weniger denn eine Sozialgeschichte des deutschen Judentums in der ersten | |
| Hälfte des 20. Jahrhunderts. | |
| Tatsächlich beginnt diese Geschichte aber bereits im 19. Jahrhundert, als | |
| im Zeitalter der Französischen Revolution und der preußischen Reformen der | |
| Staat Preußen im Jahre 1812 ein „Emanzipationsedikt“ erließ, wonach Juden | |
| (das heißt: jüdische Männer) gleichberechtigte Staatsbürger waren – | |
| wenngleich ihnen bis 1919 jede Beamtenlaufbahn, erst in Preußen, dann im | |
| Deutschen Reich verwehrt blieb. | |
| Der Urvater der Scholems jedenfalls, Marcus Scholem, zog 1812 aus Glogau | |
| nach Berlin – sein Sohn Siegfried gründete eine Druckerei, die später von | |
| Reinhold und Erich Scholem, den Urenkeln von Marcus, geleitet wurde. | |
| ## Säkularität und Tradition | |
| Die Geschichte der vier Brüder Scholem erweist sich als eine präzise | |
| Sozial- und Mentalitätsgeschichte des säkularen deutschen Judentums, eines | |
| Judentums, das zwar noch an dem einen oder anderen religiösen Ritus | |
| festhielt, aber ansonsten danach strebte, gleichberechtigtes Mitglied der | |
| deutschen Gesellschaft zu sein. | |
| Indes: da das Judentum immer eine Religion des Lernens und der Bildung war, | |
| den deutschen Juden zudem jene Beamtenlaufbahn versperrt war, zeichnete | |
| sich in Deutschland – nicht so in Polen und Russland – schnell eine | |
| Konzentration auf akademische, aber freie sowie gehobene kaufmännische | |
| Berufe ab. | |
| Im Jahr 1933 zählte das Judentum in Deutschland etwa eine halbe Million | |
| Menschen. In den Jahren des Ersten Weltkriegs hatten etwa einhunderttausend | |
| jüdische Männer im Heer des Kaiserreiches gedient, so auch Erich und | |
| Reinhold Scholem, während die beiden jüngeren Brüder zwar gemustert, aber | |
| aus verschiedenen – meist gesundheitlichen – Gründen denn doch nicht | |
| eingezogen wurden. | |
| ## Liberalismus und Jugendbewegung | |
| Alle überlebten den Krieg, sodass die beiden älteren Brüder, Reinhold und | |
| Erich, in der Weimarer Republik die Druckerei übernahmen und politisch dem | |
| nationalen – so Reinhold – beziehungsweise dem freisinnigen Liberalismus – | |
| so Erich – anhingen, während sich die beiden jüngeren, Werner und Gerhard, | |
| der Jugendbewegung, dem Studium und der Politik zuwandten. | |
| Und zwar in durchaus moderner, aber weltanschaulich entgegengesetzter | |
| Richtung: Während Werner jedweden jüdischen Partikularismus strikt ablehnte | |
| und sich dem Sozialismus und Kommunismus zuwandte, vertiefte sich Gerhard, | |
| der sich bald darauf Gershom nennen sollte, in die jüdische Tradition und | |
| Geschichte sowie in die hebräische Sprache und fasste den Beschluss, sobald | |
| wie möglich ins damalige Palästina auszuwandern. | |
| Gerhard – Gershom – Scholem war also Zionist, allerdings: anders als die | |
| politischen Zionisten in der Tradition Theodor Herzls war Gershom Anarchist | |
| und trat bis an sein Lebensende für einen Ausgleich mit den Arabern | |
| Palästinas ein. | |
| Seit 1915 mit Walter Benjamin befreundet, 1917 der elterlichen Wohnung | |
| verwiesen, lernte er in einer Pension in Berlin ostjüdische Intellektuelle | |
| wie den späteren Literaturnobelpreisträger Agnon kennen – eine Zeit, in der | |
| sich sein Entschluss zu emigrieren festigte. Gershom vollzog diesen Schritt | |
| im September 1923 und heiratete noch im Dezember des Jahres seine erste | |
| Frau, Escha. | |
| ## Suche nach einem Ausgleich mit den Arabern | |
| Von alldem handeln seine 1977 auf Deutsch publizierten Jugenderinnerungen | |
| „Von Berlin nach Jerusalem“. Der Suche nach einem Ausgleich mit den Arabern | |
| Palästinas blieb er ein Leben lang treu: noch im Juni 1967, nach dem | |
| Sechstagekrieg, sagte er in einer Rede in Zürich: | |
| „Das jüdische Volk weiß aus seiner langen Geschichte, was es heißt, zu den | |
| Besiegten zu gehören. Seit zwanzig Jahren hat es in drei Kriegen, die es | |
| nicht gesucht hat, zum ersten Mal erfahren, was es bedeutet, Sieger zu | |
| sein. Die lange und die kurze historische Erfahrung, das Gedächtnis aus dem | |
| Stand der Besiegten und das lebendige menschliche Gefühl des Siegens müssen | |
| in unserer Erfahrung einen Ausgleich finden. Friede für Israel ist zugleich | |
| auch Friede mit den Arabern.“ | |
| Werner hingegen, er war zwei Jahre älter als Gerhard, stand wie seine | |
| älteren Brüder seit 1914 im Kriegsdienst, wurde wegen Majestätsbeleidigung | |
| eingesperrt, um nach dem Krieg – nachdem er eine junge, nicht jüdische | |
| Proletarierin, Emmy Wiechelt, geheiratet hatte – zunächst Mitglied der USPD | |
| und dann der KPD zu werden, aus der er 1926 wegen „Linksabweichung“ | |
| ausgeschlossen wurde. 1933 verhaftet und mit Prozessen überzogen, wurde er | |
| schließlich im KZ Buchenwald inhaftiert, wo er im Juli 1940 „auf der | |
| Flucht“ von zwei Lagerschergen erschossen wurde. | |
| Jay Geller dokumentiert ausführlich die Diskussionen über die bis heute | |
| nicht geklärte Frage, ob der Urheber seines Todes die SS war oder ob es | |
| nicht doch Mitglieder einer stalinistischen Häftlingsorganisation waren, | |
| die diesen Mord veranlasst hatten. „Es bleibt“, so Geller 2018, „bis auf | |
| den heutigen Tag unklar, warum Werner Scholem im Juli 1940 umgebracht | |
| wurde.“ | |
| Die Schreckensnachricht ereilte die Mutter der vier Brüder sowie Erich und | |
| Reinhold in Australien, wohin zu fliehen ihnen Anfang 1939 – nach den | |
| Novemberpogromen – über Großbritannien und Kanada endlich gelang. | |
| Ihr Leben verlief, hier blieben sie sich treu, in bürgerlichen Bahnen: So | |
| übernahm Reinhold, der älteste der Brüder in Sydney, einen Betrieb für | |
| Kunststoffverarbeitung, kam damit zu einigem Wohlstand und unterstützte die | |
| Mitte-rechts stehende Liberal Party, während der etwas jüngere Erich | |
| geschäftlich erfolglos blieb und 1965 plötzlich verstarb. Sein letzter | |
| Wille bestimmte zum Erstaunen aller seiner Verwandten und Hinterbliebenen, | |
| dass er nach orthodoxem Ritus bestattet werden sollte. | |
| ## Späte Hinwendung zur Orthodoxie | |
| Doch war Erich nicht der einzige der Familie, der sich endlich der | |
| Orthodoxie zuwandte. Werners Frau, Emmy Wiechelt, die mithilfe eines ihr | |
| befreundeten SA-Mannes 1934 über die Tschechoslowakei nach Großbritannien | |
| floh, kehrte 1949 in die Bundesrepublik zurück, engagierte sich in der | |
| Jüdischen Gemeinde Hannover und konvertierte auf ihre alten Tage zum | |
| Judentum. | |
| Geller schildert auch die Nachkriegsgeschichte der Familie, ihre Urlaube in | |
| der Schweiz, ihre Tagungsreisen und Korrespondenzen, kommt aber, auf das | |
| deutsche Judentum im Ganzen bezogen, zu einem elegischen Schluss: | |
| „Die Geschichte der Familie Scholem in den 1930er-Jahren ist wie die der | |
| meisten deutschen Juden eine Geschichte der Vertreibung und Vernichtung. | |
| […] Für […] die meisten Juden, die 1933 in Deutschland lebten, führte die | |
| Flucht weltweit in Länder, die ihnen unwillig Schutz boten. Manche warteten | |
| auf die Niederlage des Dritten Reichs und hofften auf Heimkehr, aber die | |
| meisten bauten sich im Exil […] eine neue Existenz auf. So war es denn in | |
| New York, Los Angeles, Tel Aviv, Jerusalem und London und Sydney, wo Reste | |
| des historischen deutschen Judentums weiterlebten, während das jüdische | |
| Leben in Deutschland und das lange deutsch-jüdische Jahrhundert ihr Ende | |
| fanden.“ | |
| 12 Jan 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Biografie-ueber-Walter-Benjamin/!5387991 | |
| [2] /Deutsch-juedisches-Viertel-in-Jerusalem/!5502034 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
| ## TAGS | |
| Judentum | |
| Deutschland | |
| Shoa | |
| Israel | |
| zionismus | |
| Walter Benjamin | |
| Berlin im Film | |
| Hannah Arendt | |
| Jerusalem | |
| Walter Benjamin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| „Notes of Berlin“-Regisseurin über die Stadt: „Berlin bleibt nicht mehr … | |
| „Notes of Berlin“ erzählt von kleinen und großen Dingen. Regisseurin | |
| Mariejosephin Schneider darüber, warum nicht mehr so viele Menschen in die | |
| Hauptstadt wollen. | |
| Hannah-Arendt-Ausstellung in Berlin: Königin der Chuzpe | |
| Hannah Arendts Denken erlebt eine Renaissance. Das Deutsche Historische | |
| Museum in Berlin widmet ihr nun eine Ausstellung. | |
| Deutsch-jüdisches Viertel in Jerusalem: Wo Scholem und Buber stritten | |
| Mit seinem Buch „Grunewald im Orient“ erinnert Thomas Sparr an Rechavia, | |
| ein deutsch-jüdisches Stadtviertel im Westen Jerusalems. | |
| Biografie über Walter Benjamin: Im Weltbürgerkrieg | |
| Was deutsch ist und was nicht? Lorenz Jäger rechnet mit dem Philosophen | |
| Walter Benjamin ab. Am Ende des Buches wird er selbst zur Partei. |