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# taz.de -- Biografie über Walter Benjamin: Im Weltbürgerkrieg
> Was deutsch ist und was nicht? Lorenz Jäger rechnet mit dem Philosophen
> Walter Benjamin ab. Am Ende des Buches wird er selbst zur Partei.
Bild: Über ihn ist eine neue Biografie erschienen: Walter Benjamin
Der deutsche Schriftsteller Walter Benjamin nahm sich 1940 auf der Flucht
vor antisemitischer Verfolgung an der französisch-spanischen Grenze das
Leben; er wurde gerade mal 48 Jahre alt. Seinen erst postum publizierten
geschichtsphilosophischen Thesen vertraute er den Gedanken an, dass auch
die Toten vor dem Feind nicht sicher seien; dieser Feind aber habe zu
siegen nicht aufgehört. „Walter Benjamin. Das Leben eines Unvollendeten“
lautet der Titel einer neuen, einer weiteren Biografie dieses nach wie vor
rätselhaften Autors.
Lorenz Jäger, der es jetzt unternommen hat, der ersten Biografie Werner
Fulds aus dem Jahr 1979, der konzisen Darstellung Bernd Wittes in der Reihe
der Bildmonografien aus dem Jahr 1985 sowie schließlich der mehr als
tausend Seiten zählenden, unvollendet gebliebenen Werkgeschichte
Jean-Michel Palmiers aus dem Jahr 2009 eine weitere Biografie an die Seite
zu stellen, ist in geistesgeschichtlichen Fragen bestens ausgewiesen.
Als Verfasser einer umstrittenen politischen Biografie Adornos, einer
frühen Studie zur Geschichte des Hakenkreuzes im Weltbürgerkrieg sowie
eines Buchs über die revolutionären Aktivitäten von Freimaurern ist ihm die
erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, des „Zeitalters der Extreme“ (E.
Hobsbawm) bestens bekannt. Entsprechend fällt das von ihm gemalte
Lebensbild Benjamins aus: das eines linken Kämpfers im Weltbürgerkrieg.
So deutet er eine frühe Publikation Benjamins aus dem Jahr 1912 als eine
„höchst merkwürdige Apologie des Literaten“ und versieht dieses Urteil mit
einer Fußnote, die geeignet ist zu schockieren. Sieht man im reichhaltigen
Anmerkungsteil nach, was Jäger in Fußnote 34 des zweiten Kapitels zur
Identität von Literat und Intellektuellem zu vermerken hat, findet man
nicht nur den Hinweis, dass schon Hitler die Begriffe „Jude“ und „Literat…
meist synonym verwendet habe, sondern auch ein wörtliches Zitat aus einer
Ausgabe von „Mein Kampf“ aus dem Jahre 1943.
Für Jäger wird Walter Benjamin damit zum Prototyp jener Feinde Hitlers: zum
Typ des jüdischen Literaten, Angehörigen eines Volkes, das nach der von
Jäger zustimmend zitierten Auskunft Max Webers nach einer „künftigen Gott
geleiteten politischen und Sozialrevolution“ strebte.
## Bezeichnende Schiefe
Das zu untermauern, fällt Jäger leicht: War doch Benjamin eng mit Gershom
Scholem befreundet, der nicht ganz zu Unrecht von Jäger als ethnischer
Nationalist gezeichnet wird. Durchaus angemessen zeigt Jäger, dass und wie
Benjamin, der vielen immer noch als „kritischer Theoretiker“ gilt, auf
Metaphysik angewiesen war: Bedürfe doch Benjamin der Metaphysik, da er
theologisch und messianisch philosophieren wolle. Dieses Streben aber sei –
so Jäger unter Bezug auf den Politologen Jacob Talmon – totalitär.
Zudem hatte Benjamin Umgang mit höchst eigentümlichen Geistern, etwa mit
dem „Zauberjuden“ Oskar Goldberg – er wurde durch Thomas Manns „Doktor
Faustus“ als Chaim Breisacher verewigt. Auf ihn verweist Jäger, wenn er
sich mit Benjamins Schrift „Kritik der Gewalt“ aus dem Jahre 1921
auseinandersetzt und eine entsprechende Passage so charakterisiert: „Nun
ist das Schlüsselwort des Zeitalters gefallen: ‚Vernichtung‘. Das
Verhängnis kann beginnen.“
1921, das war drei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges – einem
Erfahrungsraum, der Kriegsteilnehmer wie Ernst Jünger und solche, die wie
Benjamin in die Schweiz gingen, unüberbrückbar voneinander trennen sollte.
Jäger bezeichnet vor diesem Hintergrund Benjamin als „jüdischen Kritiker
der deutschen Literatur“, wenngleich darauf hinzuweisen ist, dass etwa die
Bezeichnung von Autoren als „evangelische Kritiker der deutschen Literatur“
schief klingt.
Diese Kennzeichnung „jüdischer Kritiker“ trifft nur dann zu, wenn man
„Deutsche“ und „Juden“, als Angehörige unterschiedlicher Völker, heute
sprechen wir von „Ethnien“, betrachtet. Genau das war die Voraussetzung von
Antisemitismus.
Zu Beginn des siebten Kapitels, in dem Jäger Benjamins Beziehung zu dem
protestantischen Intellektuellen Florens Christian Rang behandelt, fragt er
allen Ernstes: „In welchem Sinne war Benjamin deutsch, vom Bildungsgang und
von der Staatsangehörigkeit abgesehen?“
## Richtige Ahnung
Diese 2017 gestellte Frage setzt voraus, dass „deutsch zu sein“ mehr und
anderes ist, als lediglich BürgerIn des deutschen Staates zu sein und die
Bildungsgüter deutscher Sprache zu beherrschen. Jäger weiß sich auf der
sicheren Seite, wenn er sich erneut auf Scholem beziehen kann, der von
Benjamin und Kafka behauptete, dass sie deutsche Schriftsteller, aber keine
Deutschen waren. Er versteht Benjamin als einen intellektuellen Teilnehmer
am innerdeutschen Bürgerkrieg, der im Januar 1933 durch den Sieg der
Nationalsozialisten beendet wurde und linken, in Deutschland gebliebenen
Juden „nur eine stille Revolutionshoffnung“ ließ.
Gegen Ende seines Buches wird der Biograf freilich selbst zur Partei. Nun
kommentiert er pseudophilosemitisch Benjamins Metaphorik. Dieser hatte in
seinen geschichtsphilosophischen Thesen anfangs die Theologie mit einem
Zwerg verglichen, der unter einem vermeintlichen Schachautomaten, dem
„Historischen Materialismus“ sitzt. Jäger deutet diese kühne Metapher als
Bestätigung antisemitischer Verschwörungstheorien.
Noch problematischer werden Jägers Ausführungen, wenn er Benjamin die
Aneignung „allerhärtester bolschewistischer Maximen“ zuschreibt. An dieser
Stelle insinuiert er sogar, bezeichnenderweise ohne Fußnotenverweis, dass
sich Benjamin die Maxime „Kein Ruhm dem Sieger, kein Mitleid den Besiegten“
zu eigen gemacht habe.
In der Summe vollzieht Jäger also eine postume Ausbürgerung Benjamins als
eines bolschewistisch-jüdischen Teilnehmers am Weltbürgerkrieg. Benjamins
geschichtsphilosophische Thesen zeugen von einer richtigen Ahnung.
11 Mar 2017
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Walter Benjamin
Politische Theorie
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