| # taz.de -- Neue Biografie über Walter Benjamin: Immer radikal, niemals konseq… | |
| > Stunden und Tage tiefster Verstimmung: Howard Eilands und Michael W. | |
| > Jennings’ monumentale Walter-Benjamin-Biografie ist auf Deutsch | |
| > erschienen. | |
| Bild: Walter Benjamin. Die Aufnahme entstand um 1925 | |
| An Biografien über Walter Benjamin (1892–1940) herrscht kein Mangel, ganz | |
| zu schweigen an Einführungen in Leben und Werk oder gar an anschwellender | |
| Sekundärliteratur über Benjamin. Es liegen momentan eine ältere Biografie | |
| von Werner Fuld (1990) vor sowie zwei jüngere von Uwe-Karsten Heye (2014) | |
| und Lorenz Jäger (2017). Die jetzt in der Übersetzung von Ulrich Fries und | |
| Irmgard Müller auch auf Deutsch zugängliche monumentale Biografie der | |
| beiden amerikanischen Literaturwissenschaftler Howard Eiland und Michael | |
| W. Jennings erschien zuerst 2014 auf Englisch. Sie macht an Umfang, | |
| Materialdichte und akribischer Darstellung die Vorgängerinnen obsolet und | |
| ist in jeder Hinsicht ein ganz großer Wurf. | |
| Benjamin war zeitlebens ein Briefschreiber. Mittels der erhalten | |
| gebliebenen und mittlerweile gedruckten Briefe rekonstruieren die beiden | |
| Autoren nicht nur Benjamins Leben, sondern auch die Entstehung seiner | |
| Schriften in ihrer „ausgeprägten Vielschichtigkeit“, wie die Biografen | |
| betonen. Was Benjamins Leben angeht, stützten sie sich vor allem auf seinen | |
| Briefwechsel mit dem fünf Jahre jüngeren Freund Gerhard Scholem | |
| (1897–1982), der seit 1923 in Palästina als Religionshistoriker forschte | |
| und lehrte sowie die Bibliothek der Hebräischen Universität Jerusalem | |
| leitete. | |
| Scholem und Benjamin wechselten nicht nur Briefe. Scholem archivierte auch | |
| alle veröffentlichten Schriften Benjamins und betreute und verwahrte nach | |
| dem Tod zusammen mit Theodor W. Adorno den Nachlass. Neben Scholem gehörten | |
| Adorno und Max Horkheimer vom Institut für Sozialforschung zu den | |
| kontinuierlichen Briefpartnern. Dauerthema fast aller Briefe in den 1920er | |
| und verstärkt in den 1930er Jahren war Benjamins prekäre wirtschaftliche | |
| Lage, nachdem er im März 1933 ins Exil vertrieben worden war. Sie | |
| verschlechterte sich laufend. | |
| Die düsteren Aussichten nach gescheiterter Habilitation (1925), | |
| Wirtschaftskrise (1929) und Scheidung von seiner Frau Dora (1930) | |
| beförderten Benjamins Depressionen und Suizidabsichten. Es ist eine | |
| erschütternde Lektüre, seinem Lebenslauf in die materielle Verelendung und | |
| Vereinsamung zu folgen. Die zeitweise erwogenen Alternativen – Exil in | |
| Moskau oder Palästina – waren mangels Arbeitsmöglichkeiten und | |
| Sprachkenntnissen noch schlechter als das Durchhalten in Frankreich. | |
| Der Schulreformer und Mitbegründer der Jugendbewegung Gustav Wyneken | |
| (1875–1964) wurde zum intellektuellen Mentor des jungen Walter Benjamin. | |
| Dessen Vater war ein erfolgreicher Kaufmann aus der „wohlsituierten, | |
| assimilierten, jüdischen Oberschicht“, in der die Religion eine | |
| untergeordnete Rolle spielte. Im Studium in Freiburg und Berlin engagierte | |
| sich Benjamin in der Freien Studentenschaft, die sich zur Jugendbewegung | |
| zählte. | |
| In einem Aufsatz zum „Leben der Studenten“ (1914) bekannte sich Benjamin zu | |
| freien, nicht hierarchischen Beziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden. | |
| Ein Schock für den 22-jährigen Studenten war der Suizid von zwei Freunden | |
| eine gute Woche nach Kriegsbeginn 1914. Benjamin selbst simulierte ein | |
| nervöses Leiden, um nicht eingezogen zu werden. Von seinem Mentor Wyneken | |
| sagte er sich los, weil dieser für den Krieg eintrat. | |
| 1917 heiratete er Dora Pollak und übersiedelte im Juli zum Studium nach | |
| Bern, wohin ihm auch Scholem folgte. Hier promovierte er 1919 mit einer | |
| Arbeit über den „Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik“. | |
| Benjamin und seine Frau lebten von Zuwendungen von Benjamins Eltern, die | |
| jedoch verbunden waren mit der Aufforderung, ins elterliche Haus | |
| einzuziehen, was zu Spannungen führte, weil der Vater auf einem „Brotberuf“ | |
| des Sohnes bestand. 1925 machte er einen Habilitationsversuch in Frankfurt | |
| am Main mit einer Arbeit über den „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. | |
| In der Einleitung entwarf er eine „Theorie der Kritik“ und der Erkenntnis, | |
| die nicht nur nach Ansicht der Biografen ins „Esoterische“ abglitt wie zur | |
| Behauptung, „Ideen“ seien „ewige Konstellationen“ und verhielten sich �… | |
| den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen“. | |
| Benjamin erlebte eine fulminante Liebesbeziehung zur lettischen | |
| Schauspielerin und Regisseurin Asja Lacis (1891–1979), mit der er im Sommer | |
| 1924 fünf Monate in Capri zusammenlebte, als eine „vitale Befreiung“. | |
| Nebenher gewann er durch sie „Einsicht in die Aktualität eines radikalen | |
| Kommunismus“, wie er Scholem schrieb. | |
| Die Affäre brachte seine Ehe in eine Krise, obwohl sie noch sieben Jahre | |
| andauerte. Beruflich scheiterten zwei Zeitschriftenprojekte und die | |
| Bemühung um eine Stelle als Lektor beziehungsweise Rundfunkmitarbeiter. Zu | |
| einer intensiven Auseinandersetzung mit Marx kam Benjamin zeitlebens nicht. | |
| Seine Gewährsleute in Sachen Marxismus blieben Bert Brecht und Karl Korsch, | |
| den er häufiger zitierte als Marx. Benjamins politisches Credo, „immer | |
| radikal, niemals konsequent … zu verfahren“ bewahrte ihn vor den Irrwegen | |
| dogmatischer Leninisten-Stalinisten. Von einer Vermittlung zwischen Politik | |
| und Religion hielt er gar nichts, sondern sprach von einem „paradoxen | |
| Umschlagen des einen in das andere“, womit er den religiösen Freund Scholem | |
| verärgerte, weil er gelegentlich mit einem Amalgam aus Materialismus und | |
| Theologie kokettierte. | |
| Trotz seiner Distanz zum Leninismus-Stalinismus und seiner bescheidenen | |
| Kenntnis des Marxismus geriet er darüber in Konflikt mit Adorno und | |
| Horkheimer, die ihn mit einem Stipendium jahrelang über Wasser hielten. | |
| Adorno witterte einen politischen Einfluss des „schlechtesten Brecht“ auf | |
| Benjamin. Dieser half Benjamin, damit er das Leben in Pariser Absteigen | |
| 1934 und 1936 jeweils für einige Wochen gegen ein komfortableres in | |
| Dänemark tauschen konnte. | |
| Bereits Ende der 20er Jahre begann Benjamin mit der Arbeit an seinem | |
| monumentalen Passagen-Werk, das unvollendet blieb. Es besteht im | |
| Wesentlichen aus Exzerpten, die über 1.000 Seiten umfassen. Der Versuch, | |
| für diese Mosaiksteine aus surrealistischen Inspirationen, Ideen, Begriffen | |
| und Spekulationen einen methodischen Zugang mit der „geschliffenen Axt der | |
| Vernunft“ zu finden, war aussichtslos. Benjamin kombinierte | |
| historisch-materialistische Theoriefragmente, Sprachanalyse mit disparaten | |
| Stücken seines aus- und umherschweifenden intellektuellen Flanierens, | |
| woraus kein Buch wurde. Davon zeugen die Diskussionen über komplexe | |
| methodologische Probleme. | |
| Jürgen Habermas sprach in diesem Zusammenhang jüngst von „Benjamins dunkel | |
| glühenden Fragmenten“ im Passagen-Werk. Dieser selbst verwies auf „profane | |
| Erleuchtung“ oder „dialektische Bilder“, die gleichzeitig voraus und | |
| rückwärts deuten oder wie Träume an „Erwachen und Erinnern“ partizipiere… | |
| Neben der Vorarbeit für das Passagen-Werk machte sich Benjamin einen Namen | |
| als Essayist und Literaturkritiker. Diese Arbeit empfand er als | |
| „schmähliche Verdienstschreiberei“ und „Brotarbeit“, die ihm und seinem | |
| Sohn – dank der Unterstützung seiner Frau bis zur Scheidung 1930 – ein | |
| prekäres Überleben sicherten. Aber in politischen wie in Geldfragen zeigte | |
| Benjamin eine „störrische Blindheit“ (Eiland/Jennings). | |
| Die Aufsätze über Kafka, Brecht, Hofmannsthal, Proust, Stefan George, Karl | |
| Kraus, aber auch Goethe und Keller bilden bis heute Messlatten für | |
| Literaturkritik; einer Kritik, die „Werke von innen“ beleuchtet und „das | |
| Eingehen der Wahrheitsgehalte in den Sachgehalt“ (Benjamin) aufspürt und so | |
| für „das Fortleben der Werke“ sorgt. Viele dieser Arbeiten erschienen an | |
| abgelegenen Orten und nach 1933 unter Pseudonymen. Sein Name geriet in | |
| Vergessenheit. Erst nach Benjamins Suizid am 27. 9. 1940 wurde er wieder | |
| entdeckt. | |
| Im größten Elend des Exils, als der fast mittellose Benjamin in der Pension | |
| seiner geschiedenen Frau in San Remo „gleichsam in den Trümmern seiner | |
| eigenen Vergangenheit sich einzunisten“ gezwungen sah, entstanden in | |
| „Stunden und Tagen tiefster Verstimmung“ der großartige Essay über | |
| Baudelaire, zwei Exposés zum Passagen-Werk, der Essay „Das Kunstwerk im | |
| Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ sowie die Thesen „Über den | |
| Begriff der Geschichte“. | |
| 1 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Walther | |
| ## TAGS | |
| Walter Benjamin | |
| Geschichte | |
| Biografie | |
| Jürgen Habermas | |
| Theater | |
| Hannah Arendt | |
| Walter Benjamin | |
| Walter Benjamin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Kritik von Philosoph Jürgen Habermas: Social Media essen Diskurs auf | |
| Das neue Buch von Habermas heißt „Ein neuer Strukturwandel der | |
| Öffentlichkeit“. Er ist dem deutschen Netzdiskurs voraus. | |
| Biografie über Maria Orska: Wiederentdeckung eines Theaterstars | |
| In Berlin und in Wien wurde Maria Orska vor 100 Jahren ein Star. Ursula | |
| Overhage erzählt in ihrer Biografie deren aufregendes Leben nach. | |
| Hannah-Arendt-Ausstellung in Berlin: Königin der Chuzpe | |
| Hannah Arendts Denken erlebt eine Renaissance. Das Deutsche Historische | |
| Museum in Berlin widmet ihr nun eine Ausstellung. | |
| Herausgeber Rolf Tiedemann gestorben: Feinarbeit am Text | |
| Der Philosoph war ein herausragender Editionsphilologe. Er machte sich | |
| einen Namen mit der ersten Bibliografie über die Erstdrucke von Walter | |
| Benjamin. | |
| Biografie über Walter Benjamin: Im Weltbürgerkrieg | |
| Was deutsch ist und was nicht? Lorenz Jäger rechnet mit dem Philosophen | |
| Walter Benjamin ab. Am Ende des Buches wird er selbst zur Partei. |