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# taz.de -- Kritik von Philosoph Jürgen Habermas: Social Media essen Diskurs a…
> Das neue Buch von Habermas heißt „Ein neuer Strukturwandel der
> Öffentlichkeit“. Er ist dem deutschen Netzdiskurs voraus.
Bild: Jürgen Habermas betrachtet Social Media nicht durch eine rosarote Brille
Deutschland ist traditionell spät dran. Reichsgründung, Demokratie,
Digitalisierung, Waffenlieferungen an die Ukraine. Wir sind eine
„Verspätete Nation“. So sagt es [1][Helmuth Plessner] in einem Buch, das
Jürgen Habermas 1959 rezensiert hat. Da hatte, so viel zum Zeitkolorit,
Konrad Adenauer noch vier Amtsjahre vor sich.
Jetzt, 63 Jahre später, veröffentlicht Habermas ein [2][neues Buch]: „Ein
neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik“
(Suhrkamp). Nicht nur seine biblische Publikationsspanne beeindruckt,
sondern vor allem die, digital-deutsch formuliert, Agilität, mit der er
sich den „Plattformcharakter“ von Facebook, Twitter & Co vornimmt. Habermas
wird Plattformdenker. Gilt immer noch: Wo Habermas ist, ist Deutschland?
Leider nicht. Denn als Plattformdenker wie -kritiker ist Habermas dem
deutschen Diskurs weit voraus. Beispiel Soziologie. Andreas Reckwitz
zufolge geben die Plattformen den Menschen auf dem „Markt der kulturellen
Güter“ Orientierung und „erleichtern“ ihnen damit die Entscheidungen bei
der Kuratierung des eigenen Lebens.
## Berliner Neobiedermeier
Auf diesen Reckwitz-Gedanken verweist Habermas. Sicher, das Netz bietet
stilbildenden Content, der bei der instagramtauglichen Einrichtung im
Berliner Neobiedermeier hilft. Irgendetwas muss ja die rasante Ausbreitung
der Altbau-Alokasien antreiben.
Doch bei aller Sympathie für die kultur- und interieurkritische
Denktradition [3][Walter Benjamins]: Reckwitz’ Plattformverständnis ist zu
idealistisch und zudem unpolitisch. Er verwechselt Blattform und Plattform.
In den alten analogen Zeiten gab es ein Kaleidoskop von medialen Kanälen:
Zeitungen, Litfaßsäulen, Möbeleinrichter, Galerien, Illustrierte,
Fernsehen, Radio und so weiter.
Tausende analoge Influencer kommentierten die Welt über ihren Kanal und
versuchten, die Menschen von Ansichten, Trends und Angeboten zu überzeugen.
Das ist Habermas’ „Öffentlichkeit“. Heute gibt es weniger als eine Handv…
digitale Plattformen, deren geheim gehaltene Algorithmen nur ein einziges
Ziel verfolgen, nämlich das beschönigend so genannte „Engagement“ der User
zu steigern. Das heißt: die Verweildauer und Aktivität auf der jeweiligen
Plattform. Aus diesem Grund belohnen die Algorithmen Emotionalisierung, und
das bedeutet vor allem negative Emotionen. Denn sie bringen Eskalation.
## Nüchterne Logik
Dabei folgen die Algorithmen keiner politischen Agenda, sondern allein der
nüchternen Logik der Plattformökonomie. Fake News und Hass verbreiten sich
im Netz um ein Vielfaches schneller als Fakten und Differenzierung. Der
Effekt auf die User ist alles andere als nüchtern, im Gegenteil.
US-Netz-Vordenker Jaron Lanier fordert, anstelle des Euphemismus
„Engagement“ die Begriffe „Suchterzeugung“ und „Verhaltensmanipulatio…
verwenden. Hinzu kommt ein ökonomisches Missverständnis, das immer noch
weit verbreitet ist.
Denn die Plattformen funktionieren über Netzwerkeffekte und
Selbstverstärkung, nicht mehr über die Skaleneffekte des
Industriezeitalters. Skaleneffekte bewirken Kostenvorteile durch
Massenproduktion und höhere Stückzahlen, die den Stückpreis sinken lassen.
Ganz anders die Netzwerkeffekte der digitalen Ökonomie. Sie bedeuten: Je
mehr Menschen ein Produkt oder ein Serviceangebot nutzen, desto wertvoller
wird es für jeden User. So entsteht aus den Netzwerkeffekten ein
selbstverstärkender Sog ins Monopol.
Das ist das Winner-takes-it-all-Prinzip der Plattformökonomie. Es erklärt,
warum innerhalb weniger Jahre aus einer Handvoll Plattformen globale
Monopole geworden sind. In der westlichen Welt ist heute Google die
Suchmaschine, Amazon der Onlinehändler und Facebook das soziale Netzwerk.
Wettbewerb und damit auch Vielfalt im alten Sinne gibt es hier nicht mehr.
Das Paradox lautet: Wettbewerb findet statt – aber nur auf dem Kanal von
Twitter, Facebook und Instagram.
## Ökonomische Eskalationsagenda
Dieses Kuratierungsmonopol der Plattformen, ihre Gleichgültigkeit, ja
ausdrücklich erklärte Nichtverantwortlichkeit gegenüber jeglichem Inhalt
sowie ihre ökonomische Eskalationsagenda übersieht der deutsche Diskurs –
nicht aber Habermas.
Immer schon prägen Technologie und Ökonomie die Kultur. Die
Instagram-Attitude des Ich-bin-so-hübsch-und-doch-so-traurig, die
Twitter-Polarisierung in Wutbürger und Moralapostel, der Realitätsverlust
in den Echokammern von Facebook sind allesamt Effekte der
Plattformökonomie. Die Technologie formatiert Kultur und Gesellschaft, das
hatten schon Friedrich Nietzsche und Marshall McLuhan festgestellt: Nicht
nur wir Menschen formen die Maschinen und die Medien, sondern umgekehrt
auch sie uns.
Ohne Druckpressen und Flugblätter hätte sich die Reformation nicht gegen
die katholische Kirche durchgesetzt, ohne Buchdruck nicht die Aufklärung.
Dampfmaschine und Mechanisierung brachten im 19. Jahrhundert
kapitalistische Auswüchse und proletarisches Elend, aber auch
Gewerkschaften, Sozialstaat und Marxismus.
## Halb Faust, halb Idiot
Anders gesagt: Alle Kultur- und sozialen Phänomene haben ihre
technologischen und ökonomischen Voraussetzungen, man könnte auch sagen:
Apriori. In diesem Sinne beschreibt Shoshana Zuboff die Welt, in der wir
leben, als digitaltechnologisch umgesetzten Überwachungskapitalismus, der
durch staatliche Regulierung eingehegt werden muss. Denn Geiz ist geil,
denkt der Mensch, und zahlt – halb Faust, halb Idiot – lieber mit seinen
Daten als mit seinem Geld.
Das muss nicht so sein. Es gibt erfolgreiche digitale Abo-Modelle wie
Spotify und Netflix, sogar bei Social Media: LinkedIn Premium. Es könnte
sich also lohnen, Jaron Lanier zu folgen und mit ihm so lange die sozialen
Medien zu boykottieren, bis sie ihr Geschäftsmodell ändern.
Solange die Aufmerksamkeitsökonomie den Krawall anheizt, wird sich nie ein
Diskurs ergeben, in dem nach Habermas der „zwanglose Zwang des besseren
Arguments“ herrscht. Genau das ist seine Sorge, wenn er vom „Versiegen“ d…
„Deliberation“ spricht, der „rationalisierenden Kraft der öffentlichen
Auseinandersetzungen“, ohne die die Demokratie nicht auskommt.
## Dialektik der Plattformen
Doch so eindringlich Habermas die Plattformen als Gefahr für die liberale
Demokratie beschwört, so klar sieht er auch ihre positiven Seiten. #metoo,
#fridaysforfuture and #blacklivesmatter sind Bewegungen, deren
„Selbstermächtigung“ erst durch Social Media möglich wurde. Auch die
Plattformen haben ihre Dialektik.
Dass allerdings gerade die, mit Habermas’ Worten, „große[n]
emanzipatorische[n] Versprechen“ der sozialen Medien von etablierten
Digitalinfluencern wie Sascha Lobo einseitig überbetont werden, verwundert
nicht. Denn sie sind ja in dem Maße biased, wie ihre eigene
Öffentlichkeitsrendite von den Plattformen abhängt. Oder wie Habermas
schreibt: „Influencer[n], die um die Zustimmung von Followern für ihr
eigenes Programm und ihre eigene Reputation werben“, geht es um
„öffentliche[] Sichtbarkeit“ und „Distinktionsgewinn“.
Habermas’ Fazit klingt bundespräsidial vage. Es sei „verfassungsrechtliches
Gebot, eine Medienstruktur aufrechtzuerhalten, die den inklusiven Charakter
der Öffentlichkeit und einen deliberativen Charakter der öffentlichen
Meinungs- und Willensbildung ermöglicht.“
## Skepsis vor eigener Courage
Wie soll das funktionieren? Ist es überhaupt noch möglich? Habermas lässt
das offen. Vielleicht gibt es bei ihm eine Skepsis vor der eigenen
disruptiven Courage. Einmal spricht er von den „möglicherweise [!]
disruptive[n] Auswirkungen“ der Plattform-Medien „auf die politische
Öffentlichkeit“, obwohl die Evidenz dieser disruptiven Auswirkungen ihm ja
gerade Anlass ist, den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ neu zu denken.
Schon 2008 hatte Habermas geschrieben: „[D]er Markt hat einst die Bühne
gebildet, auf der sich subversive Gedanken“ in Zeitungen, Zeitschriften und
Literatur „von staatlicher Unterdrückung emanzipieren konnten. Aber der
Markt kann diese Funktion nur so lange erfüllen, wie die ökonomischen
Gesetzmäßigkeiten nicht in die Poren der kulturellen und politischen
Inhalte selbst eindringen, die über den Markt verbreitet werden. Nach wie
vor ist dies an Adornos Kritik der Kulturindustrie der richtige Kern.“
2022 scheint Habermas zu übersehen, dass dieses Eindringen längst
stattgefunden hat. Heute folgen nicht nur die Inhalte der Plattformlogik,
sind nicht nur Inhalte plattformoptimiert, sondern auch
plattformgeneriert. Noch nie hat, mit McLuhan, das Medium so brutal auf die
Message durchgeschlagen. Social Media ruiniert den Diskurs. Doch wir können
etwas dagegen unternehmen, ein bisschen und jetzt gleich. Wir können
aufhören, innerhalb von Sekunden Dinge zu retweeten, die uns unruhig
machen, um damit andere unruhig zu machen. Einfach mal den Finger
stillhalten. Denken wir ruhig darüber nach, eine halbe Stunde oder so.
19 Sep 2022
## LINKS
[1] /The-Cambridge-Habermas-Lexicon/!5601388
[2] /Neues-Buch-von-Juergen-Habermas/!5878340
[3] /Neue-Biografie-ueber-Walter-Benjamin/!5728844
## AUTOREN
Andreas Barthelmess
Stefan Börnchen
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