# taz.de -- Posthumes Buch von Richard Rorty: Keine höhere Wahrheit | |
> An allem ist zu zweifeln: In seinen nachgelassenen Vorlesungen | |
> präsentiert sich Richard Rorty als „Werterelativist“ mit moralischer | |
> Klarheit. | |
Bild: Hielt die Ironie hoch: Richard Rorty (1931-2007) | |
Bevor [1][Richard Rorty vor 15 Jahren starb], galt er als der bedeutendste | |
lebende Philosoph der Welt. Man kann das mangels Philosophenwaage | |
naturgemäß schwer messen, aber in Sachen Einfluss und Zitierungen trifft | |
dieses Urteil gewiss zu. | |
Bauchspeicheldrüsenkrebs sei bei ihm diagnostiziert worden, hatte er davor | |
an seinen Freund Jürgen Habermas geschrieben, dieselbe Krankheit, „die | |
[2][Derrida] killte“. Seine Tochter, so der vollendete Ironiker Rorty, | |
vertrete daher die Hypothese, dass diese Art des Krebses von „zu viel | |
Heidegger-Lektüre“ herrühre. | |
Jetzt legt der Suhrkamp Verlag eine der grundlegendsten Arbeiten von Rorty | |
vor, Vorlesungen nämlich, in denen er die wesentlichen Kernpunkte seines | |
philosophischen Denkens durchbuchstabiert. „Pragmatismus als | |
Antiautoritarismus“ ist die Vortragsreihe übertitelt, darin versuche Rorty | |
nichts weniger als die „Vollendung der Aufklärung“, wie sein | |
Philosophen-Kollege Robert B. Brandom in der Einleitung notiert. | |
Wenn Aufklärung die Vernunft aus den Fängen von Autorität und Theologie, | |
von Metaphysik und irgendwelchen Letztbegründungen befreit habe, so ist | |
sie, können wir Rorty interpretieren, doch auf halbem Wege (oder zumindest | |
knapp vor dem Ziel) stehen geblieben. Immer wieder suchte sie nach | |
„Wahrheit“, nach universalistischer Gültigkeit, biss sich aber damit in den | |
Schwanz. | |
## Größer als das Subjekt | |
Proklamierte sie einerseits den Imperativ, sich des eigenen Verstandes zu | |
bedienen zwecks Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des | |
Subjektes, grübelte sie doch immer über irgendetwas, das größer als dieses | |
Subjekt sei. | |
Rorty dagegen meinte: „Wahrheit ist nirgendwo da draußen“, sie existiere | |
weder unabhängig von den sprachlichen Äußerungen noch von Traditionen und | |
Begrenztheiten derer, die sie aussprechen. Das Denken müsse ohne Autorität | |
auskommen – die Grundthese, die titelgebend wurde. | |
Später musste er sich anhören – etwa vom jüngst verstorbenen Papst Joseph | |
Ratzinger –, ein Wegbereiter eines teuflischen Werterelativismus zu sein; | |
Rorty selbst bemerkte in seiner lakonischen Art, die allzu grandiose | |
Formeln verabscheute, dass „Pragmatiker wie ich mit den antimetaphysischen, | |
‚postmodernen‘ Denkern sympathisieren“. | |
Dabei unterstellt ja Rorty gerade nicht, das wird in seinen Vorlesungen | |
noch einmal deutlich, dass alles gleich und Werturteile nicht zu treffen | |
seien – im Gegenteil. Er unterstreicht nur, dass sie sich weder auf höhere | |
Wahrheiten noch auf tiefere Einsichten über ein angebliches „Wesen“ hinter | |
den „Erscheinungen“ stützen können. Unser Gefühl für „moralische | |
Abscheulichkeit“ etwa sei ein „korrigierbares Kulturvermächtnis“, es | |
entspringe keiner Objektivität, sondern entstehe „durch | |
Intersubjektivität“. | |
## Nicht Wahrheit, sondern Hypothese | |
Dass alle Menschen Brüder werden sollen, könne nicht als Wahrheit | |
proklamiert werden, sondern allenfalls als Hypothese, die beweisen müsse, | |
dass sie in der Praxis „das menschliche Leben künftig besser“ machen würd… | |
Und diesen Beweis könne die Hypothese durchaus erbringen. Rorty: „Daher | |
glaube ich, dass das Thema ‚Wahrheit‘ keine Relevanz für die demokratische | |
Politik erlangen kann.“ | |
Natürlich wolle er als Hochschullehrer auch „erziehen“. So wie die | |
SS-Männer die Hitlerjugend zu Grausamkeit erziehen wollten, wolle er seine | |
Schüler und Schülerinnen zu demokratischen Subjekten „umerziehen“, die die | |
Gleichheit hochhalten. Nur meine er, dass es keine unnatürliche Instanz | |
jenseits menschlicher Interaktion gebe, die beglaubigen könne, dass sein | |
Motiv ein „wahreres“ als jenes der SS-Leute sei. | |
So dekonstruierte Rorty alle Begrifflichkeiten metaphysischer Schwundformen | |
wie Wahrheit, Erhabenes, „die Realität“ (Letztere existiere ja auch nicht | |
jenseits kommunikativer Praktiken) und andere Absolutheitsansprüche. Auch | |
Menschenrechte seien eine Konstruktion, und die Behauptung, sie hätten | |
immer schon existiert – also schon bevor man sie anerkannte –, sei eine | |
sinnlose Aussage. Was wir so salopp ein moralisches Gesetz nennen, sei ein | |
„konkretes Geflecht sozialer Praktiken“. | |
In seinem Hauptwerk „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ hatte Rorty die | |
Ironikerin als eine Person charakterisiert, „die der Tatsache ins Gesicht | |
sieht, dass ihre zentralen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind“ �… | |
also zufällig und veränderlich, eine Person, die „unaufhörliche Zweifel an | |
dem abschließenden Vokabular (hegt), das sie gerade benutzt“. | |
## Dekonstruktion mit Standpunkt | |
All das kulminiert bei Rorty gerade nicht in Relativismus im Sinne von | |
Standpunktlosigkeit durch Dekonstruktion von allem. Als Sohn undogmatischer | |
Gewerkschaftsaktivisten in New York City geboren, war das Ziel einer | |
gerechteren Welt stets der Polarstern, dem er folgte, und in seinen letzten | |
Lebensjahren warf er sich zunehmend in politische Debatten, nicht zuletzt | |
mit seinem kleinen Buch „Achieving our Country“ („Stolz auf unser Land“… | |
der Titel der deutschen Ausgabe). | |
Er gab viele Interviews, polemisierte gegen eine auf Differenz und | |
Sprachspiele orientierte Kulturlinke, die die Nöte der einfachen Leute | |
vergesse, kritisierte die „schwache und ineffektive Opposition“, zu der die | |
US-Demokraten geworden seien. Er war viel beschäftigt, auch deshalb hat er | |
es höchstwahrscheinlich verabsäumt, die nun so spät aufgelegten Vorlesungen | |
in den Druck zu bringen. | |
12 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Robert Misik | |
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