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# taz.de -- Briefwechsel mit Habermas: Ein ganzer Kosmos
> „H wie Habermas“: Die Zeitschrift für Ideengeschichte hatte exklusive
> Einblicke in das Habermas-Archiv. Sie widmet dem Philosophen eine ganze
> Ausgabe.
Bild: Jürgen Habermas 1981 im Garten seines Hauses am Starnberger See
Es war mehr als eine gute Idee der Redaktion der Zeitschrift für
Ideengeschichte, für ein Habermas-Porträt die Korrespondenz des
Philosophen, die dieser als Vorlass an die Frankfurter
Universitätsbibliothek abgegeben hat, nach Fundstücken durchforsten
zulassen.
Die aktuelle Nummer der Zeitschrift mit dem Titel „H. wie Habermas“ besteht
aus zwei Teilen. Im ersten präsentieren und kommentieren rund zwei Dutzend
Autoren archivalische Fundstücke aus dem Habermas-Vorlass mit kurzen
Beiträgen zu Situationen, in denen Habermas, der Theoretiker des
„kommunikativen Handelns“ (1981), als dessen Praktiker oder Adressat
erscheint.
Etwa als junger Student und Autor eines Beitrags für eine Gummersbacher
Schülerzeitung, die der Frage nachgeht: „Ist unsere Generation modern?“
Oder als junger Professor und Adressat der forschen Bitte einer
Doktorandin, die ihm ihr „angesammeltes Material“ zur Lektüre schickte.
Auf Kritik in jeder Preislage traf Habermas schon vor Jahrzehnten. Etwa
jene des Bielefelder Kollegen und Kontrahenten Niklas Luhmann, der den
Titel der gemeinsamen Publikation „Theorie der Gesellschaft oder
Sozialtechnologie“ abwegig fand, aber tolerierte: „Meine Alternative zielt
direkt gegen diese Alternative als Alternative.“ Obendrein richtete er
Habermas gar nicht dezent aus, mit dessen „Herrschaftsidee“ könne „man g…
nichts anfangen“.
Der Streit um jene Alternative hat sich mittlerweile erledigt. Habermas’
weltweite Anerkennung wurde zu seinem 90. Geburtstag mit dem 800 Seiten
starken [1][„Cambridge Habermas Lexicon“] gekrönt, das den Kosmos seines
Denkens und den riesigen Raum der Rezeption seines Werks ausleuchtet.
## Weltmacht Habermas
Im zweiten Teil des Heftes analysieren neun Autoren Facetten von Habermas’
Person und Werk in längeren Beiträgen. Die Dimensionen dieses Kosmos
verführte die Wochenzeitung Die Zeit vor über zehn Jahren dazu, die Ausgabe
zu Habermas’ 80. Geburtstag mit „Weltmacht Habermas“ auf der Titelseite zu
versehen. Wörtlich genommen beruht diese Entscheidung auf einem blamablen
Missverständnis seines Werks.
[2][Hans Ulrich Gumbrecht] erinnert in seinem Beitrag zu der Zeitschrift
mit dem Titel „Weltmacht“ an Habermas’ Rede zum Gedenken an den von
Habermas hochgeschätzten, freundschaftlich verbundenen und ihm politisch
nahestehenden Kollegen Richard Rorty in Stanford 2007. Als Titel seiner
Gedenkrede wählte Habermas mit an Rorty orientierter Ironie eine Zeile aus
dem Gedicht „To foreign Lands“ von Walt Whitman: „… and to define Ameri…
her athletic democracy“.
[3][Habermas] blieb sich immer bewusst, was er und der bessere Teil seiner
Generation der US-amerikanischen „re-education“ verdankte. Und Habermas
vermochte sich mit Rorty unter „Weltmacht etwas anderes vorzustellen als
den weltweiten Export der eigenen Lebensform“. Rortys „bewegende Gesänge“
machten Habermas exemplarisch deutlich, wie viel der aufgeklärte
amerikanische, demokratisch grundierte Patriotismus Schriftstellern wie
Walt Whitman, Ralph Waldo Emerson und Henry James verdankt.
Im Selbstverständnis als Linksintellektuelle stimmten Rortys aufgeklärter
Patriotismus und Habermas’ Konzept von Verfassungspatriotismus nahtlos
überein. In Habermas’ Formulierung: „An der demokratischen Verfassung ist
(…) am wichtigsten, dass sie den Beladenen und Unterdrückten Instrumente in
die Hand gibt, mit denen sie sich gegen die Reichen und Mächtigen wehren
können.“
## Exzerpte im Weinkeller
Nicht im Habermas-Vorlass, sondern im Weinkeller Peter Sloterdijks befinden
sich dessen umfangreiche Exzerpte zu Habermas’ „Erkenntnis und Interesse“.
Kritische Einwände gegen Habermas, Kommentare oder Fragen finden sich darin
kaum. Was Sloterdijk, als er die in seinem Keller alternden Fundstücke dem
Archivar Ulrich von Bülow präsentierte, mit dem Satz kommentierte: „Wenn
das bekannt wird, ist mein Ruf als Genie dahin.“
Solche Sorgen quälten Carl Schmitt nicht, als er auf der Umschlaginnenseite
von Habermas’ „Philosophisch-politische Profilen“ (1971), den er im
Briefwechsel mit Ernst Forsthoff einen „Heldenjüngling“ nannte, eine
grafische Skizze des politischen Beziehungsgeflechts unter deutschen
Rechten, darunter Heidegger, Gehlen und Freyer anfertigte – Figuren also,
die Habermas in den „Profilen“ als „Vorreiter und Nothelfer“ der
Nationalsozialisten dargestellt hatte.
Carl Schmitt, dessen Denken und Handeln Habermas in der „Vorgeschichte der
Katastrophe“ (Florian Meinel) öfters scharf konturierte, wird zwar in den
„Profilen“ im Kontext „der mittelbaren intellektuellen Urheberschaft
politischer Verbrechen“ nicht namentlich genannt, aber Schmitt markierte
diese Stelle in seinem Exemplar mit mehrfachen Unterstreichungen.
## Briefwechsel mit Hans-Georg Gadamer
Zu den gewichtigsten Funden im Archiv von Habermas’ Korrespondenz gehört
derjenige, den Sandra Richter, die Direktorin des Deutschen
Literaturarchivs in Marbach, zur Beziehung zwischen Hans-Georg Gadamer
(1900–2002) und dem fast dreißig Jahre jüngeren Jürgen Habermas vorstellt.
Ein Jahr vor dessen Tod schrieb der damals gut 70-Jährige dem 101 Jahre
alten Nestor der deutschen Philosophie über die Zeit in Heidelberg: „Nie
wieder konnte ich mich so wohl fühlen wie unter der weisen Schirmherrschaft
von Ihnen und (Karl) Löwith“ (1897–1973).
Die rund 60 Briefe umfassende Korrespondenz zwischen den beiden Philosophen
über 40 Jahre hinweg ist geprägt von gegenseitigem Respekt, Vertrautheit
und Hochachtung weit über das hinaus, was die landläufige Briefkonvention
nahelegt. An Gadamers Hermeneutik, die ihn seit den 1960er Jahren
faszinierte und die er dank ihrer dialogischen Grundstruktur zum
nachmetaphysischen Denken zählte „in einem ernstlich ernüchterten Sinne“ …
nämlich dem, dass „wir das Gespräch, das wir sind, nicht transzendieren
können“.
Trotz Differenzen in diesem Punkt, hielt Habermas immer fest an der
Überzeugung, dass die Hermeneutik eine der Grundlagen bildet, auf denen
Diskurstheorie und Diskursethik beruhen. Er sah sich noch 1989 als
„gelehrigen Schüler der philosophischen Hermeneutik“ und würdigte seinen
Lehrer: „Dankbar bin ich (…) dafür, dass meine Studenten durch die
Begegnung mit Ihnen etwas lernen können, was ihnen in Frankfurt (von Apel
und mir) vorenthalten wird: ein Philosophieren, das seine Kraft und
Lebendigkeit schöpft aus dem Bewusstsein, am Gespräch der großen Denker
teilzuhaben.“
Sandra Richter macht in Ihrem schönen Essay deutlich, dass die Geschichte
der Kritischen Theorie und Hermeneutik vor dem Hintergrund des
Briefwechsels zwischen Gadamer und Habermas nicht um- oder neugeschrieben
werden muss: Aber die Horizontverschiebung und der durch die beiden
Virtuosen des Gesprächs angezeigte Perspektivenwechsel rücken – bildlich
gesprochen – Heidelberg vom Neckar allemal etwas näher an den Main heran.
Einzelne der längeren Aufsätze bewegen sich auf dünnem Eis und schliddern
ins Abseits – etwa Christoph Möllers lockere Rede vom „Labyrinth sozialer
Ausdifferenzierung“, das der Ästhetik in Habermas’ Werk einen „ungewisse…
Status zuweise. Oder die schroffe Behauptung eines „funktionalen
Totalitarismus“, den der Soziologe Heinz Bude bei Habermas wittert.
Nur tangential berührt der fachwissenschaftlich-ägyptologische Essay Jan
Assmanns zur Bedeutung des Buchs Hiob für die Achsenzeit das Spätwerk von
Habermas. Wenig erhellend ist auch der Essay des FAZ-Architekturkritikers
Niklas Maak, der das von den Architekten Heinz Hilmer und Christoph Sattler
entworfene Privathaus der Familie Habermas beschreibt. Maak interpretiert
sehr schöne Fotos von Barbara Klemm und Isolde Ohlbaum und bezieht die
Wärme ausstrahlenden weichen Stoffkissen auf der Couch im Haus Habermas im
Galopp auf Begriffe wie „Lebenswelt“ und spekuliert munter darüber, dass
das ganze Haus zum Teil jenes Bilds geworden sei, das „die Öffentlichkeit
sich von Habermas’ Philosophie“ mache.
16 Sep 2021
## LINKS
[1] /The-Cambridge-Habermas-Lexicon/!5601388
[2] /Buch-Crowds-zu-Fussball-im-Stadion/!5707713
[3] /Habermas-neue-Philosophiegeschichte/!5640759
## AUTOREN
Rudolf Walther
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Schwerpunkt 1968
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