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# taz.de -- Habermas' neue Philosophiegeschichte: Angebot zur Verständigung
> Jürgen Habermas hat noch einmal ein gewichtiges Buch geschrieben: eine
> zweibändige Philosophiegeschichte, die auch ein Kommentar zur Zeit ist.
Bild: Habermas 2016
Nichts an theologischem Gehalt wird unverwandelt fortbestehen; ein
jeglicher wird der Probe sich stellen müssen, ins Säkulare, Profane
einzuwandern.“ Dieser rätselhafte Satz Adornos beschäftigt Jürgen Habermas,
den großen Philosophen der unvollendeten säkularen Moderne, seit geraumer
Zeit. Nachdem spätestens mit dem Terrorangriff von 9/11 schockierend klar
wurde, dass die Religion keineswegs am Verschwinden war, wie die
Modernisierungstheoretiker des 20. Jahrhunderts angenommen hatten, traf er
sich sogar mit dem damaligen Kardinal Ratzinger, um über das Verhältnis von
Säkularisierung, Vernunft und Religion zu diskutieren. Nun hat Habermas
kurz nach seinem 90. Geburtstag eine Philosophiegeschichte vorgelegt,
welche die Konstellation von Glauben und Wissen als Leitfaden gewählt hat.
Es geht astronomisch ausgedrückt darum, wie diese beiden Planeten von
Glauben und Wissen in verschiedenen historischen Epochen zueinander
standen. Habermas will zeigen, „wie sich die Philosophie – komplementär zur
Ausbildung einer christlichen Dogmatik in Begriffen der Philosophie –
ihrerseits wesentliche Gehalte aus religiösen Überlieferungen angeeignet
und in begründungsfähiges Wissen transformiert hat“. Der Zielpunkt dieser
Geschichte ist das nachmetaphysische Denken, also eines, für das die
letzten Gründe, Ursachen und Prinzipien der Welt nicht mehr erkennbar sind.
Habermas’ Genealogie nachmetaphysischen Denkens geht von der Achsenzeit
aus. Damit ist das von Karl Jaspers so bezeichnete halbe Jahrtausend von
800 bis 200 vor Christus gemeint, in der die bis heute wirkenden Religionen
entstanden sind. Habermas verfolgt hier – immer mit Blick auf die sich
verändernden Formen der Sozialintegration – kognitive Schritte im Selbst-
und Weltverständnis von intellektuellen Eliten mit gesellschaftlicher
Wirkungspotenz.
Solche kognitiven Schritte sind zum Beispiel die Entwicklung vom Mythos zum
Logos oder der diskursive Streit um die Wahrheit, der den mythischen
Erzählungen noch fremd war, oder die Moralisierung des Heiligen durch das
Gesetz, das Gehorsam fordert und rettende Gerechtigkeit verspricht. In der
Achsenzeit findet also nach Habermas eine kognitive Revolution statt: vom
mythischen zum metaphysischen Denken.
## Glauben und Wissen
Seit der Weltbildrevolution der Achsenzeit verzweigen sich die
Entwicklungspfade der großen Zivilisationen. Habermas konzentriert sich auf
den okzidentalen Entwicklungspfad, der zu der spezifisch westlichen
Konstellation von Glauben und Wissen geführt hat, und beschreibt ihn als
einen Lernprozess, in dem sich nach und nach das Selbst- und Weltbild der
vergesellschafteten Menschen versachlicht. Der große Erzählstrang ist
dabei, wie Glauben und Wissen im christlichen Platonismus und unter dem
Dach der römisch-katholischen Kirche zueinander finden, im späten
Mittelalter sich dann ausdifferenzieren und schließlich in der frühen
Neuzeit sich voneinander trennen. Die große Wegscheide ist das 17.
Jahrhundert, in dem die Philosophie und die Wissenschaft auf Distanz zum
Christentum gehen, und zwar polemisch, da das Christentum mächtig und
repressiv ist.
Mit Hume und Kant verzweigen sich wiederum die Pfade des nachmetaphysischen
Denkens, und zwar in eine szientistische, also verwissenschaftlichte, und
eine komprehensive, also das rationale Welt- und Selbstverständnis
umfassend betreffende Philosophie. Hier entsteht eine neue Konstellation
zwischen Philosophie, Wissenschaft und Religion. Anders als Hume will Kant
jene aus dem theologischen Erbe der praktischen Philosophie stammenden
Grundfragen so rekonstruieren, dass sie noch unter den Voraussetzungen
nachmetaphysischen Denkens mit guten Gründen beantwortet werden können.
Nach Hume und Kant folgt im Zuge der Revolutionen in Amerika und Frankreich
sowie der Ausweitung und Verselbstständigung kapitalistischer
Wirtschaftskreisläufe und der funktionalen Ausdifferenzierung der
Gesellschaft und ihrer Wissenschaften im 19. Jahrhundert ein weiterer
Paradigmenwechsel von der Subjekt- zur Sprachphilosophie. Denn der Mensch,
so Habermas, ist zuerst ein kommunikativ vergesellschaftetes Subjekt.
Geschichte, Gesellschaft und Kultur werden von der Philosophie wahrgenommen
und dringen in sie ein. Hegels Schüler betreiben die soziale und
linguistische Wende.
So weit Habermas’ große Erzählung von der Evolution zum vernünftigen
Diskurs. Doch was ist sein Anliegen? „Auch eine Geschichte der Philosophie“
heißt das Buch in Anspielung auf Herders „Auch eine Philosophie der
Geschichte zur Bildung der Menschheit“. „Auch eine Geschichte der
Philosophie“ heißt nämlich: nicht nur eine weitere Philosophiegeschichte,
sondern auch eine aktuelle Einmischung, ein Kommentar zur Zeit.
## Grenzen der Toleranz
Das Buch ist ein Angebot zur Verständigung, das der säkulare Philosoph den
religiösen Kollegen macht. Habermas interessiert sich dafür, wie die
Kommunikation zwischen einerseits Philosophie und andererseits Theologie
und Religion nach der Trennung von Glauben und Wissen fortgesetzt werden
kann. Dabei ist er nicht bedingungslos gesprächsbereit. Zum einen trennt er
die Säkularisierung des Welt- und Selbstverständnisses von der
Säkularisierung der Staatsgewalt und der Gesellschaft. Zum anderen stellt
er fest, dass die Theologie selbst seit Kierkegaard eine
anthropologisch-nachmetaphysische Gestalt angenommen hat und sie damit ein
legitimer Konkurrent geworden ist. Aber eben nur dadurch. Die Grenzen der
Toleranz sind für Habermas erreicht, wenn der Universalitätsanspruch der
Vernunft vom dogmatischen Wahrheitsanspruch des religiösen Glaubens
bestritten wird.
Zugleich geht es Habermas um eine Kritik des Szientismus: „Auch die
Philosophie ist eine wissenschaftliche Denkungsart, aber sie ist keine
Wissenschaft, die daran arbeitet, immer mehr über immer ‚weniger‘, das
heißt enger und genauer definierter Gegenstandsbereiche zu lernen; sie
unterscheidet nämlich zwischen Wissenschaft und Aufklärung, wenn sie
erklären will, was unsere wachsenden wissenschaftlichen Kenntnisse von der
Welt für uns bedeuten – für uns als Menschen, als moderne Zeitgenossen und
als individuelle Personen.“ […] „Die Frage, was sich die Philosophie noch
zutrauen kann und soll, entscheidet sich heute, ungeachtet ihres
unverhohlen säkularen Charakters, an jenem transformierten Erbe religiöser
Herkunft.“
Habermas stellt sich nach wie vor in die Tradition von Kant, Hegel und
Marx, ihm geht es um den inneren Zusammenhang von theoretischer und
praktischer Vernunft. Letztendlich ist Habermas auf der Suche nach den
Spuren der Vernunft in der Philosophiegeschichte. Für Habermas ist das
Projekt der Moderne und der Aufklärung nach wie vor noch nicht vollendet:
Man soll die Welt nicht nur beobachten und feststellen, was ist. Man soll
und darf sie auch beurteilen, sich an ihr beteiligen, sie politisch
gestalten. Wir können lernen, wir können fortschreiten, wie können Nein
sagen. Eine vernünftige Freiheit ist möglich.
## Atemberaubend
Das ist Habermas’ eigene Sozialtheorie auf den Punkt gebracht. Nun wird die
gesamte Philosophiegeschichte auf sie zugerichtet. Atemberaubend. Und
gleichzeitig sehr optimistisch, wenn man sich die gegenwärtigen
Krisenerscheinungen der kapitalistischen Demokratien in Amerika und Europa
vor Augen hält, die Rückkehr von Diktatur und völkischen Mythen oder die
globalen Probleme von Finanzkrisen und Flüchtlingsdramen, Kriegen,
Kulturkämpfen und Klimawandel, nicht zu vergessen die Onlinekulturindustrie
und die asozialen Netzwerke. Habermas glaubt gleichwohl an den
sozialkognitiven Fortschritt, sogar an den moralkognitiven Fortschritt als
Denkbewegung. Ist die Philosophiegeschichte bloß eine Evolution zum
vernünftigen Diskurs?
Dies ist womöglich das letzte große Buch von Jürgen Habermas, ein letztes
Wort in eigener Sache, eine zusammenfassende Bilanz. Es ist gewichtig,
komplex und voraussetzungsvoll wie einst die Theorie des kommunikativen
Handelns, und es offenbart erneut das faszinierende Universum einer
stupenden Gelehrsamkeit und scharfsinnigen Denkens. Habermas bekennt sich
als Kantianer, aber eigentlich ist er, der an die kommunikative Vernunft
und den sozialkognitiven Fortschritt glaubt, ein Habermasianer! Wenn dann
einmal wieder jemand in Anspielung an Herder und Habermas „auch“ eine
Geschichte der Philosophie vorlegt, wird diese darin gewiss ihren Platz
finden.
17 Nov 2019
## AUTOREN
Jörg Später
## TAGS
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