Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über Fortschrittsphilosophie: Gemachter Weltgeist
> Gibt es überhaupt einen Fortschritt in der Geschichte? Die Philosophin
> Rahel Jaeggi problematisiert in ihrem neuen Buch den Fortschrittsbegriff.
Bild: Weltgeist zu Pferde? Napoleon I. passiert die Truppen in der Schlacht v…
Vorige Woche noch hatte [1][Hegel hart gearbeitet, erschöpft hatte er das
Manuskript für diesen epochalen Wälzer – die „Phänomenologie des Geistes…
– zur Post getragen, jetzt ist er Teil einer jubelnden Masse in der Jenaer
Altstadt: Vorbei rauscht der französische Triumphzug, Napoleon voran.
Euphorisiert schreibt Hegel einem Freund vom „wunderbaren Empfinden,“
diesen Weltgeist zu Pferde selbst gesehen zu haben. Für Hegel ist Napoleon
ein welthistorisches Individuum, das eigenhändig sozialen Fortschritt
bringt.
In [2][Rahel Jaeggis] fast überzeugendem neuem Buch „Fortschritt und
Regression“ wird SED-Funktionär Günther Schabowksi zu einem ähnlichen
Fortschrittstreiber erkoren. Am 9. November 1989 liest er, mit vielen
„Ähhhs“ gespickt, im Drehstuhl der Pressekonferenz lümmelnd, seine alles
verändernden Sätze ab. Welthistorische Individuen hatten schon bessere
Zeiten.
Zumindest eines eint den stolzen Napoleon und die Marionette Schabowski:
Beide lösen soziale Probleme, wie Jaeggi mit Bezug auf Hegel und den
amerikanischen Pragmatismus postuliert. Napoleon gibt Frankreich
Bürgerrechte, Schabowski befreit die in der DDR Eingesperrten.
Rahel Jaeggi, Professorin für Praktische Philosophie in Berlin, hat ein
Programm: Ideen aus der Philosophiegeschichte retten, an deren Rettung kaum
einer mehr glaubt. Das hat sie schon in ihrem ersten Buch gemacht, zum
[3][Entfremdungsbegriff – bei Marx noch aufgeladen mit einer robusten
Vorstellung der menschlichen Natur.]
## Machen Gesellschaften Fortschritte?
In ihrem neuen Buch bemüht sich Jaeggi nun um die Rettung der
Geschichtsphilosophie. Hoffnungslos verloren ist die Idee, dass unsere Welt
sich ohne viel Zutun fortschrittlich weiterentwickelt. Aber „keine
Geschichtsphilosophie ist … auch keine Lösung.“ Der Begriff des
Fortschritts selbst ist problembehaftet. Gelingt es Jaeggi dennoch, ihn vor
dem Müllberg der Begriffsgeschichte zu retten?
„Es gibt Fortschritt immer nur in einem bestimmten Sinne“, sagt Protagonist
Ulrich in Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Während Hegel
Napoleon bejubelt, macht der preußische König das Gegenteil. Während wir
heute Schabowski feiern, war Honecker sicher anders zumute. Ist Fortschritt
also notwendigerweise relativ und damit untragbar als Kritikwerkzeug? Ja,
Fortschritt auf ein bestimmtes Ziel hin ist ungeeignet, sagt Jaeggi. Wir
brauchen einen anderen Fortschrittsbegriff, einen der kein Ziel ins Auge
fasst, sondern einen Prozess als solchen evaluiert.
„Gesellschaften haben kein Ziel, sie lösen Probleme“, schreibt Jaeggi.
Vielleicht machen Gesellschaften also Fortschritte, wenn sie Probleme
erfolgreich lösen? Allerdings muss man hier unterscheiden zwischen
Problemen erster und zweiter Ordnung. Denn soziale Gefüge verändern sich
ständig, sie sind „immer schon dynamische Gebilde“, sie reagieren konstant
auf Probleme erster Ordnung. Gibt es eine Dürreperiode, spart man
Getreide; ist ein Gasengpass zu erwarten, füllt man die Gasspeicher. Nichts
davon ist Fortschritt oder auch nur sozialer Wandel – es ist business as
usual.
## Ist der Weihnachtsmann echt?
Aber stellen wir uns eine menschenverachtende Monarchie vor, die Getreide
verprasst und exportiert, oder eine wirtschaftsfreundliche Regierungsform,
die Gasunternehmen unerhörte Gewinne erlaubt, statt die Gasversorgung zu
garantieren.
In beiden Fällen sind soziale Gefüge aus spezifischen Gründen unfähig mit
ihren Problemen erster Ordnung umzugehen, sie haben Probleme zweiter
Ordnung: Probleme mit ihren sozialen, ökonomischen, und politischen
Problemlösungsprozessen. Wenn sie diese Probleme – durch Abschaffung der
Monarchie oder Gesetze zu mehr Wirtschaftskontrolle – nachhaltig lösen,
dann, so Jaeggi, kann man von Fortschritt reden.
Mit diesem prozessualen Verständnis – Probleme lösen statt Ziele anpeilen �…
versucht Jaeggi, die Rede vom Fortschritt zu retten. Aber geht das wirklich
ganz ohne Werte, ausschließlich prozessbasiert? Ist es nicht auch schon
eine Lösung, die Untergebenen einfach verhungern zu lassen?
Selbstverständlich wissen wir heute, dass es eine schlechte, eine
grauenvolle Lösung wäre. Aber sie ist eben nur deshalb schlecht, weil wir
robuste Werte wie Gleichheit und Würde aller als Teil einer guten Lösung,
als Teil unserer Ziele sehen.
Dass Jaeggi diese Werte gerade nicht will, liegt daran, dass sie sich über
die Zeit hin verändern. Es gibt nicht nur „Fortschritt hin zur Moral“
sondern „Fortschritt in der Moral“. Untergebene verhungern zu lassen war
nicht immer grauenvoll, einst war es ein Zeichen von Stärke und harter
Hand. Man kann jetzt darauf beharren, dass die einstigen einfach die
falschen Werte waren.
## Wer die wahren Werte kennt
Philosophisch wird das Argument hier stumpf – was macht unsere jetzigen
Werte zu den richtigen, und woher wissen wir das? Und politisch ist die
Sturheit eh zahnlos, denn wer lässt sich schon von einem überzeugen, der
einfach behauptet, die wahren Werte zu kennen?
Aber, so kann man zurückfragen, wer lässt sich schon von der Behauptung
überzeugen, dass die favorisierte Problemlösung zweiter Ordnung unpassend
war? Jaeggi bringt hier selbst das Beispiel des Gouverneurs von Utah, der
2022 dazu aufrief, gegen die Austrocknung des Colorado River anzubeten.
Ihm, so schreibt sie, ist „der Gedanke, dass es sich hierbei um einen
defizienten Problemlösungsmechanismus zweiter Ordnung handelt, aller
Voraussicht nach völlig fremd“ – touché!
Scheitert also Jaeggis Fortschrittsdefinition doch daran, dass an der
entscheidenden Stelle die politischen Reißzähne fehlen? Gelegentlich
schmuggelt sie Robusteres ein; dann ist die Rede von Fortschritt als
„Emanzipationsprozess“, von „Herrschaft“ als Regression. Oder eine gute
Problemlösung wird zu einem „rationalen Antwortgeschehen auf die bestehende
Krise“.
Sind Normen der Vernunft zeitloser als Normen der Moral? Vorstellungen von
Rationalität scheinen doch immer ein bisschen unsere Vorstellungen von
Rationalität zu sein. Das findet zumindest die feministische
Wissenschaftsphilosophie und entlarvt unsere Rationalität als patriarchal
durchsetzt.
## Ein Entzauberungsprozess
Mit der Lektüre von „Fortschritt und Regression“ durchläuft man – ganz
unpassend zur Jahreszeit – einen Entzauberungsprozess: Fortschritt muss
prozessual statt substanziell verstanden werden, der Weihnachtsmann ist
erfunden statt echt.
Bin ich das kleine Kind, das mit dem Fuß aufstampft und trotzig behauptet:
„Aber der Weihnachtsmann, es gibt ihn doch!“? Oder ist der
Fortschrittsbegriff mehr wie der Weihnachtsmann als uns lieb ist? Wenn er
nicht substanziell sein kann, dann gibt es ihn nicht.
24 Dec 2023
## LINKS
[1] /250-Jubilaeum-des-Philosophen-Hegel/!5697517
[2] /Rahel-Jaeggi-zu-Philosophie-und-Wandel/!5937545
[3] /Debatte-Entfremdung-bei-Marx/!5501103
## AUTOREN
Paula Keller
## TAGS
Philosophie
Fortschritt
Geschichte
Hegel
Kritische Theorie
Philosophie
Jürgen Habermas
## ARTIKEL ZUM THEMA
Rahel Jaeggi zu Philosophie und Wandel: „Eine Idee von Emanzipation“
Oft bleiben Proteste in der Defensive, sagt Rahel Jaeggi. Die Kämpfe um
Vergesellschaftung haben das Potential zu verbinden und nach vorne zu
weisen.
250. Jubiläum des Philosophen Hegel: Frischer Blick von links
Der Journalist Dietmar Dath präsentiert in seinem neuen Buch die
Philosophie Hegels. Das tut er kompakt und ohne Best-of-Zitate als Bonmots.
Habermas' neue Philosophiegeschichte: Angebot zur Verständigung
Jürgen Habermas hat noch einmal ein gewichtiges Buch geschrieben: eine
zweibändige Philosophiegeschichte, die auch ein Kommentar zur Zeit ist.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.