| # taz.de -- Sachbuch „Unbehagen“ von Armin Nassehi: Die Gesellschaft, was i… | |
| > Alles könnte anders sein, wenn nur alle mitmachen würden? Der Soziologe | |
| > Armin Nassehi zeigt in seinem Buch, warum diese Annahme fehlgeht. | |
| Bild: Die Gesellschaft kann nicht kollektiv handeln, weil sie kein Kollektiv is… | |
| Das „Unbehagen“, das der Münchner [1][Soziologe und Public Intellectual | |
| Armin Nassehi] zum Titel seiner neuen Gesellschaftstheorie gemacht hat, ist | |
| die Folge des Frustes, dass es nicht so läuft, wie es laufen soll, obwohl | |
| das Wissen darüber da ist, was man ändern müsste, etwa um die Erderhitzung | |
| so zu begrenzen, dass es einigermaßen weitergehen kann. | |
| Schuld sind meist angeblich karrieristische oder korrupte Politiker, böse | |
| Unternehmen und der andere Teil der Gesellschaft, der ich-, konsum-, | |
| markt-, staats- oder sonst wie besessen einfach nicht einsehen will, wie es | |
| doch aus Vernunft- und Moralgründen zu sein hätte. | |
| Verdrängt wird damit das Problem, das wir seit Niklas Luhmann kennen – dass | |
| nämlich die Gesellschaft überfordert ist von der Komplexität und | |
| Liberalität der Moderne. | |
| Welche aber als „Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichem“ eben auch die | |
| große Stärke und Errungenschaft der liberalen Demokratie ist: Es gibt | |
| keinen Gott, Kaiser und kein Zentralkomitee, wo alles zusammenläuft und | |
| autoritär geregelt wird. | |
| ## Globalisierte Welt nicht steuerbar | |
| Die unterschiedlichen Systeme sind vielleicht sogar produktiv und kreativ, | |
| das ist super, aber eben nicht als Ganzes steuerbar und in der | |
| globalisierten Welt auch nicht mehr in dem Maße politisch bearbeitbar, wie | |
| das in der relativ homogenen und national orientierten | |
| Industriegesellschaft der Nachkriegsbundesrepublik der Fall war. | |
| Nun sehen akademische Classic-Linke Nassehi gern skeptisch. Erstens weil er | |
| ihnen als systemischer Vordenker grün-schwarzer Allianzen gefährlich | |
| praxisorientiert zu sein scheint, zweitens weil sie Luhmann’sche | |
| Ironiekompetenz immer als Status-quo-Affirmation verstehen wollen. In der | |
| ersten Welle der Pandemie kam ja aus links-autoritären Kreisen der | |
| glückliche Seufzer, Corona zeige doch, dass man sehr wohl „durchregieren“ | |
| könne. Tenor: Warum nicht immer so? | |
| Nassehis These lautet: Moderne Gesellschaften können mit ihrem | |
| Instrumentarium ein spezielles Problem lösen, in der ersten Pandemiephase | |
| war es das Gesundheitsproblem. Sie können aber nicht einen Problemkomplex | |
| lösen, weil in der Praxis unterschiedliche Interessen und Werte | |
| gegeneinanderstehen. In Pandemiephase 1 waren es Unternehmen, | |
| Arbeitsplätze, Familien, Kinder, deren Probleme nicht bearbeitet wurden und | |
| teilweise eskalierten. | |
| Corona war aber eben keine Ausnahme, sondern zeigte pars pro toto, wie | |
| schnell eine moderne Gesellschaft durch die Zielkonflikte ihrer Systeme und | |
| Teile überfordert ist. | |
| Corona zeigt auch: Weder lässt sich eine Gesellschaft dadurch organisieren, | |
| dass man sie moralisch bespricht und dann alle „vernünftig“ oder | |
| „solidarisch“ miteinander sind, noch muss Politik einfach nur mal richtig | |
| wollen und dann wird es schon. Die Gesellschaft kann nicht kollektiv | |
| handeln, weil sie kein Kollektiv ist, und das ist gut so. | |
| Sie ist ausdifferenziert. Die Überforderung oder Unfähigkeit ist also | |
| systemimmanent – anders als bei totalitären Systemen, die aber ihre eigenen | |
| Probleme haben. | |
| Was kann man tun, um mit dem offensichtlichen gesellschaftlichen Mangel an | |
| Problemlösungskompetenz umzugehen? | |
| Viele der klug daherkommenden politisch-soziologischen Analysen enden neben | |
| routinierter Empörung und der Forderung nach sozioökonomisch linkerer | |
| Politik (die aber bei Wahlen nicht nachgefragt wird) immer noch mit der | |
| lahmen Beschwörung eines einsichtigen Menschen, was magisches Denken at its | |
| worst darstellt. | |
| Nassehi ist da viel weiter: Für kollektive Veränderung hilft keine Moral, | |
| sondern nur Mittel, die sich bewähren. Die Fahrradstadt in den Niederlanden | |
| setzte sich durch, weil sie sich für die Leute bewährte. Autofrei setzt | |
| sich durch, wenn der öffentliche Nahverkehr besser und bequemer für die | |
| Leute ist. Das ist das eine. | |
| ## Abwägung der Interessen | |
| Vor allem aber kann man mit Nassehi die notwendige Perspektivenverschiebung | |
| verstehen, um die Systeme für ein gemeinsames Interesse produktiv zu | |
| machen. Es reicht nicht mehr zu fragen: Wie kriege ich meine | |
| (selbstverständlich höheren) Interessen gegen die anderen | |
| (selbstverständlich niedrigen) durch? Es geht darum, zu verstehen, was die | |
| anderen brauchen und was die eigenen Interessen mit deren Interessen | |
| machen. Nicht aus Altruismus, sondern um die eigenen Interessen | |
| voranzubringen. | |
| Perspektivendifferenz statt normativer Sicherheit – das ist das | |
| Kunsthandwerk, das über den Erfolg künftiger Koalitionen und die Zukunft | |
| unserer Gesellschaft im 21. Jahrhundert entscheiden wird – und das kann man | |
| bei Armin Nassehi lernen. | |
| 25 Oct 2021 | |
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| [1] /Nassehi-bei-Konrad-Adenauer-Stiftung/!5712921 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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