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# taz.de -- Buch über Flucht nach Europa: Bilder der Entrechtung
> Der EU-Abgeordnete Erik Marquardt schildert in seinem Buch „Europa
> schafft sich ab“ das Leid der Menschen an den europäischen Außengrenzen.
Bild: Geflüchtete auf einem Boot der türkischen Küstenwache im April 2021
Die Frage, die Erik Marquardt umtreibt, stellen sich viele: „Wie kann das
in Europa einfach geschehen?“ [1][Marquardt ist seit 2019 EU-Abgeordneter
für die Grünen], davor arbeitete er als Fotograf. Jahrelang hat er die
europäischen Außengrenzen bereist. Sein Buch handelt von dem Leid, das
Menschen widerfährt, die nach Europa fliehen müssen.
Marquardt, Jahrgang 1987, hat sich das nicht nur angesehen. Er gründete
NGOs, mobilisierte Spenden, um Schiffe zur Seenotrettung ins Meer und
Rettungsflugzeuge nach Afghanistan zu schicken, und klopfte beim Papst an,
damit der die Rettungsschiffe unter die Flagge des Vatikanstaats stellen
möge.
Sein Einzug ins Parlament hat an dieser Art, die Dinge anzugehen, nichts
geändert. Marquardt ist ständig auf Lesbos oder der Balkanroute unterwegs
und kann im EU-Parlament umso informierter darüber sprechen, was im Namen
der EU heute Menschen angetan wird.
„Europa schafft sich ab“ heißt das bei Rowohlt erschienene Werk. Der auf
Thilo Sarrazins Werk anspielende Titel ist nicht der Originellste,
Marquardt wird das in Kauf genommen haben, weil sein Projekt eben darin
besteht, Sarrazins Diktum auf den Kopf zu stellen: Nicht Zuwanderung oder
„Moralismus“ bringen Europa in Gefahr, sondern die Abkehr von den eigenen
Grundwerten. Diese Abkehr schildert Marquardt anhand von Erzählungen von
seinen Reisen.
Eigenhändig gesammelte Empirie
Nicht als Fotograf, sondern mit Worten zeichnet er Bilder der Entrechtung,
von Helfern und Schleppern, von Rettern und Opfern, von Hoffnung, Gewalt
und dem politischen Betrieb, der all dies verfestigt. Es ist eine
eigenhändig gesammelte Empirie, deren Geschichte Marquardt mit aufblättert:
Vom Kolonialismus, der Zurückweisung von Jüd*innen an der Schweizer
Grenze zur NS-Zeit, der Geburt der Genfer Konvention spannt er den Bogen zu
„Dublin“, „2015“, dem Aufstieg der Populisten, der Kriminalisierung von
HelferInnen, dem Ertrinkenlassen im Mittelmeer, [2][dem berüchtigten Lager
Moria] und den „Pushbacks“ in der Ägäis: Wer genau wissen will, was an
Europas Außengrenzen los ist und warum, der ist nach dem Lesen schlauer.
Viele sehen die EU angesichts dieses Elends als moralisch zu verkommen, um
einen positiven politischen Bezugspunkt darzustellen. Marquardt nicht. Er
verteidigt die Staatengemeinschaft trotz allem, denn: Wäre Europa heute
eine bloße Ansammlung separater Nationalstaaten, ginge es keinem Flüchtling
besser. Den von Malta bis Polen, von Deutschland bis Spanien zu
beobachtenden „Trend, Grundprinzipien wie Rechtsstaatlichkeit,
Menschenrechte und die Achtung der Menschenwürde zu missachten“, sieht
Marquardt nicht schon an seinem Ende, sondern in einem Stadium, das
Gegensteuern zulässt: „Unsere Generation muss heute und hier den Beweis
antreten, dass die europäische Idee nicht nur ein Lippenbekenntnis ist.“
Wie dieser Beweis aussehen könnte, darüber hat er sich Gedanken gemacht Die
Forderung nach „Bewegungsfreiheit für alle“ sei „philosophisch interessa…
aber politisch nicht wirkmächtig“, schreibt Marquardt. Ein „großer Wurf�…
der alle Probleme löst, sei nicht zu erwarten. Realpolitik soll es also
richten, gepusht von einer Zivilgesellschaft, die Druck von unten macht für
viele kleine Lösungen.
Eine Hoffnung dabei: die Städte. Hunderte sind es mittlerweile in ganz
Europa, die an den Nationalstaaten vorbei Aufnahmebereitschaft
signalisieren. Sie können der Brüsseler EU-Administration einen Ausweg
bieten, die seit Jahren an den nationalen Regierungen scheitert,
Aufzunehmende zu verteilen. Es fehle, schließt Marquardt, in Europa heute
nicht an Möglichkeiten für die „Hunderttausenden, die für Humanität und
Rechtsstaatlichkeit eintreten“.
23 Sep 2021
## LINKS
[1] /Zivile-Luftbruecke-nach-Afghanistan/!5791447
[2] /Ein-Jahr-nach-Brand-in-Moria/!5795520
## AUTOREN
Christian Jakob
## TAGS
Buch
Politisches Buch
Europa
EU-Flüchtlingspolitik
Balkanroute
Moria
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
Schwerpunkt Flucht
Kroatien
Schwerpunkt Rassismus
Philosophie
Schwerpunkt Angela Merkel
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