| # taz.de -- 30 Jahre Pogrome in Hoyerswerda: Geschichte vom verlorenen Stolz | |
| > Hoyerswerda war DDR-Arbeiteridyll und wurde zur braunen Zone. Im Buch | |
| > „Kinder von Hoy“ lässt Grit Lemke die Boheme der Stadt zu Wort kommen. | |
| Bild: Und die schmutzige Wäsche wurde abgeholt: Plattenbausiedlung in Hoyerswe… | |
| Womöglich ist er der berühmteste Sohn der Stadt: der Liedermacher mit den | |
| dünnen Haaren und der Mitropa-Aschenbecher-Brille. Die [1][Rede ist von | |
| Gundermann], der in Grit Lemkes dokumentarischem Roman „Kinder von Hoy“ | |
| zwar eine Nebenrolle, aber doch eine wichtige spielt. | |
| Lemke erzählt von einem Hoyerswerda, das man so gar nicht kennt: als Stadt | |
| der sozialistischen Zukunft, die in den 50ern aus dem Lausitzer Boden | |
| gestampft wird, in der es an Stelle von Kohleöfen und Außentoiletten | |
| Wasserklosetts, Zentralheizungen und geräumige Familienwohnungen gibt. | |
| Einer Stadt auch, die ganz im Rhythmus der wechselnden Schichten des | |
| nahegelegenen Kraftwerks Schwarze Pumpe funktioniert. | |
| Für die Kinder ist diese Stadt ein Ort der Freiheit trotz allgegenwärtiger | |
| kontrollierender Blicke. Die eigenen Eltern mögen gerade auf Arbeit sein, | |
| aber irgendein Erwachsener wird nach der Schicht schon aus dem Fenster | |
| schauen und die Kinder, sollten sie doch einmal etwas aushecken, | |
| zurechtweisen: „Es war ein sehr viel weitläufigeres Behütet-Sein, mit | |
| vielen unterschiedlichen Menschen. Kinderkrippenerzieherinnen und | |
| Kindergärtnerinnen. Der Spielplatz. Die Nachbarn. Der Block, der | |
| Wohnkomplex, der Schulweg. Keine Sorge der Eltern, dass man über die Straße | |
| gehen muss. Sehr viel Vertrauen aller Erwachsenen in die Dinge, die da | |
| kommen – und in die Kinder. Ich bin schon zum Kindergarten alleine | |
| gegangen.“ | |
| Das sagt Schudi, eine der zahlreichen Stimmen, die Lemke zu Wort kommen | |
| lässt. Darunter auch der mosambikanische Vertragsarbeiter David. Sie | |
| werden, gemeinsam mit der Erzählstimme, im Modus einer filmischen Reportage | |
| collagiert. Hier merkt man, dass Grit Lemke bereits als ausgezeichnete | |
| Dokumentarfilmerin von sich reden machte. Nämlich in ihrem Film „Gundermann | |
| Revier“, der nicht nur den baggerfahrenden Liedermacher beleuchtet, sondern | |
| auch eine Braunkohleregion im Umbruch. | |
| Gewiss könnte „Kinder von Hoy“ auch als Vorlage eines Dokumentarfilms | |
| dienen. Die Bezeichnung „Roman“ aber deutet an, dass es einen Willen zur | |
| Form, auch zur Verdichtung des Stoffs gibt. Vielleicht auch die Freiheit | |
| auszumalen. Ausmalen ist das Stichwort! Vielleicht zum ersten Mal haben wir | |
| es da mit einer Erzählung von Hoyerswerda zu tun, die bunt ist. Die nicht | |
| nur von tristem Vorwendegrau und schauerlichem Nachwendebraun erzählen | |
| will. | |
| ## Der eigene Dialekt | |
| In den Originaltönen, die man ja nur lesen, nicht hören kann, klingt der so | |
| typische Hoy-Sound an: Weder so richtig Sächsisch noch Brandenburgisch, mit | |
| verschliffenem Binnen-G, ganz weich und buttrig, wie Käsekuchen, und dem Ö, | |
| das wie ein langes E klingt. Mal mehr, mal weniger stark dringt das | |
| Dialektale aus dem Text: Es ist eine Mischung aus Dia- und Soziolekt. | |
| Denn immer auch geht es um die gemeinsame, die geteilte Sprache, in der | |
| Hoyerswerda zu Hoy (für andere Sachsen auch Hoywoy) wird, und Schwarze | |
| Pumpe einfach nur Pumpe ist. | |
| Der dialektale Einschlag wird immer dann stärker – so jedenfalls hat man | |
| den Eindruck – wenn es ums Emotionale geht. Wie den Wegfall der Arbeit, der | |
| Orbeet: „Auf einmal wird etwas zur Währung, was bis jetzt nichts anderes | |
| war als Frühling, Sommer, Herbst und Winter, wie Ausziehn Waschen Bette: | |
| Orbeet. Sie war etwas, was unweigerlich eintrat – ob man wollte oder nicht. | |
| Nun lernen wir, dass die Welt sich teilt in solche, die Arbeit nehmen, und | |
| andere, die sie geben.“ | |
| Davor, in den 70er und 80er Jahren, ist Hoyerswerda auch demografisch eine | |
| ganz besondere Stadt. In den eilig hochgezogenen Plattenbauvierteln lebt | |
| eine überdurchschnittlich junge Stadtbevölkerung: Arbeiter und ihre Kinder. | |
| Die Schulen sind übervoll, und auf jeder der zahlreichen Etagen der | |
| Wohnkomplexe gibt es Spielkameraden für die Kinder. | |
| ## Kinder im Kollektiv | |
| Für die einen mag es eine Utopie sein, für die anderen ein Schreckensbild: | |
| Aber die Kinder sind von Anfang an Teil eines Kollektivs; die | |
| Arbeiterkinder werden weniger von einer intensiven Beziehung zur Mutter | |
| geprägt als zu jener zu den Omas, Erzieherinnen oder Lehrerinnen. | |
| Auch für die Mütter hat Hoyerswerda seine Vorzüge. Einmal wöchentlich wird | |
| die schmutzige Bettwäsche vom VEB Schwanenweiß eingesammelt und gereinigt – | |
| die werktätigen Frauen sollen sich damit nicht auch noch abmühen müssen. | |
| Gott bewahre, dass der Mann sich der mühseligen Aufgabe des Wäschewaschens | |
| ohne Waschvollautomat widmen muss! | |
| Lemkes Stimmen sind Arbeiterkinder, die sich vor und nach der Wende in | |
| einem avantgardistischem Künstlermilieu bewegen. Noch versuchen die | |
| Protagonisten, dem Rechtsruck und den enormen Umbrüchen nach 1989 | |
| Kreativität und gemeinschaftliche Aktionen entgegenzusetzen. Umso | |
| unbegreiflicher wirken dann die Ereignisse, die am [2][17. September 1991] | |
| ihren Anfang nehmen. Lemkes Protagonisten sind nah dran an den Rechten, die | |
| auf einem Markt vietnamesische Händler angreifen und später vor die | |
| Wohnblocks der als „Asylanten“ verschrienen vietnamesischen und | |
| mosambikanischen Vertragsarbeiter ziehen. | |
| ## Entsetzen und Unverständnis | |
| Als „Kinder aus Hoy“ auf die pogromartigen Ausschreitungen zu sprechen | |
| kommt, merkt man den Stimmen ein bis heute anhaltendes Entsetzen und | |
| Unverständnis an. Nein, der Rechtsruck habe nicht mit der Wende begonnen; | |
| schon vorher habe sich eine rechte Szene entwickelt. Im Moment des | |
| Mauerfalls mit dem Wegbrechen einer staatlichen Ordnungsmacht und der | |
| raschen Veränderung der gesellschaftlichen Strukturen gerät etwas ins | |
| Rutschen. Es ist wie im Bergbau. Die Welle ist nicht mehr aufzuhalten. | |
| Viel ist in den 30 Jahren „seit Hoyerswerda“ (die Pogrome sind auf eine | |
| Minimalformel geschrumpft) gerätselt wurden, was den „Rechtsruck“ in den | |
| Neuen Bundesländern, für den Hoyerswerda zum Menetekel und Symbol wurde, | |
| bewirkt haben mag. Vom „Töpfchenzwang“ über den nicht aufgearbeiteten | |
| Nationalsozialismus und einer vorzeitigen [3][Exkulpierung der Bürger] auf | |
| dem Staatsgebiet als Antifaschisten mussten viele Gründe herhalten. | |
| Lemke enthält sich klugerweise jeder Deutung, sie lässt die O-Töne | |
| unkommentiert. Sie will darstellen; der Leser soll sich schon selbst eine | |
| Meinung bilden. So erscheint die Entwicklung von der beinahe idyllisch | |
| anmutenden, wenn auch kohlestaubgesättigten Stadt zur braunen Zone umso | |
| rätselhafter. | |
| ## Dadaistisch angehaucht | |
| Als es nach den Ausschreitungen erste zaghafte Versuche | |
| zivilgesellschaftlicher Proteste gibt, rücken westdeutsche Demonstranten an | |
| und formieren einen schwarzen Block. Als die westdeutschen Protestler | |
| beginnen, das frische Straßenpflaster zur Bewaffnung aufzureißen, regt sich | |
| ostdeutscher Widerstand. | |
| „Einer der Umstehenden wagt sich zu den Vermummten und redet auf sie ein. | |
| Seine Brigade hätte die Steine grade erscht diese Woche verlegt. Wofür man | |
| sie rausreißen müsse? Höhnisches Gelächter. Faschistenschweine! Sie werden | |
| es so oft sagen, bis alle Hoyerswerdschen, die demonstrieren wollten, sich | |
| entfernt haben.“ | |
| Lemke erzählt entlang einer doppelten Differenz: Das dadaistisch | |
| angehauchte Avantgardemilieu ihrer Protagonisten bricht mit dem elterlichen | |
| Arbeitermilieu, ist aber anders als jenes im Westen. Aber auch die | |
| ostdeutschen Arbeiter sind andere; anders jedenfalls als ihre Pendants im | |
| Westen: „Bei uns aber war man nicht Bergmann in dritter Generation. Man | |
| fuhr nicht mit dem Aufzug unter Tage, sondern mit dem Mannschaftswagen in | |
| den Tagebau oder mit dem Schichtbus nach Pumpe“, heißt es mit Blick auf die | |
| Kohlekumpel im Ruhrgebiet. | |
| ## Ende der Braunkohle | |
| Tatsächlich schreibt Lemke über eine Gesellschaft der Diskontinuitäten, in | |
| der man sich des Vergangenen entledigt und zunächst zuversichtlich in die | |
| Zukunft blickt. Dass die Wende als „Bruch“ diese disruptionserfahrenen | |
| Menschen so erschüttert haben soll, glaubt man danach nicht mehr so recht. | |
| So entpuppt sich das gängige Ost-Nachwende-Narrativ einmal mehr als | |
| unvollständig, vereinfacht. | |
| Etwas aber spürt man: den Verlust von Stolz auf eine Stadt, die | |
| buchstäblich dafür lebt, Energie fürs ganze Land, fürs System zu | |
| produzieren. Auch dann noch, als anderswo längst das Ende des Systems | |
| herbeiprotestiert wird. Womöglich versteht man auch gegenwärtige Kämpfe um | |
| das Ende der Kohleförderung in der Lausitz besser, nachdem man Lemkes Buch | |
| gelesen hat. | |
| 17 Sep 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Marlen Hobrack | |
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