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# taz.de -- Neues Buch von Jürgen Habermas: Diskurs oder Barbarei
> Jürgen Habermas skizziert die Gefahr, die digitale Medien für Demokratien
> bedeuten. Die These ist nicht neu, die begriffliche Schärfe faszinierend.
Bild: Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas wurde 1962 bekannt mit dem „Str…
Man kann dieses kleine 100-Seiten-Büchlein mühelos überflüssig finden. Der
Anlass ist so formal wie es runde Daten immer sind. Vor 60 Jahren erschien
[1][Jürgen Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“]. In dieser
wirkmächtigen historischen Studie skizzierte der linke Jungakademiker 1962
den Aufstieg der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihre Bedrohungen durch
Medienkonzerne und Manipulationen.
Damals entfaltete Habermas erstmals die Idee, dass die Debatte, in der „der
zwanglose Zwang des besseren Argumentes“ zählt, keine idealisierte
Intellektuellenidee ist, sondern die Herzkammer der Demokratie.
Ohne Raum jenseits von Macht, kapitalistischer Ökonomie und Staat, ohne
herrschaftsfreien Diskurs ist eine rationale Selbstverständigung der
Gesellschaft nicht möglich. Sonst wird Demokratie zur Fassade.
Der Band „Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative
Politik“ enthält drei Texte. Einen zentralen Essay, der mit der gebotenen
Skepsis die Effekte digitaler Medien auf die politische Öffentlichkeit
beschreibt, sowie zwei Texte, die [2][Habermas’ Konzept einer deliberativen
Politik] erläutern, also jener Demokratie, die auf vernünftigem Diskurs
fußt.
## Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit
Alle drei Texte sind bereits veröffentlicht. Ist dieses Buch sinnvoll?
Durchaus. Denn die Texte finden sich teils an entlegenen Orten wie dem
„Oxford Handbook on Deliberative Democracy“. Vor allem aber verdienen sie
Aufmerksamkeit, weil sie auf hoher theoretischer Flughöhe, aber gleichwohl
verständlich, komprimiert zwei Schlüsselfragen verhandeln: Was hält unsere
Gesellschaften zusammen? Und welche Rolle spielen digitale Medien dabei?
Folgt man Habermas, dann bleibt uns seit Aufklärung und Säkularisierung nur
der Diskurs, um Staat und Gesellschaft zu begründen. Und zwar heute noch
mehr als früher. „Je heterogener die sozialen Lebenslagen, die kulturellen
Lebensformen und die individuellen Lebensstile einer Gesellschaft sind,
desto mehr muss das Fehlen eines a fortiori bestehenden
Hintergrundkonsenses durch die Gemeinsamkeit der öffentlichen Meinungs- und
Willensbildung wettgemacht werden.“
Der offene, vernünftige, von allen akzeptierte Diskurs ist insofern als
Bindemittel zentral – gleichzeitig, wie vor allem die USA zeigen, im Kern
bedroht. Dass Millionen Trump-Wähler den Sturm auf das Kapitol gutheißen,
ist ein Alarmsignal, das das „Versiegen der rationalisierenden Kraft der
öffentlichen Auseinandersetzungen“ markiert.
## Integrationskraft des öffentlichen Diskurses
Denn im öffentlichen Diskurs muss beides herrschen – heftiger Streit und
ein Regelwerk, das von allen anerkannt wird und verhindert, dass der
Kontrahent als Feind erscheint. Reichsbürger und Trumps Anhänger sind nun
Anzeichen, dass die Integrationskraft dieses Modells, das 1789 entstand,
schwindet. Jenseits des geregelten Diskurses droht die Barbarei.
Den digitalen Medien nähert sich Habermas mit dem scharfen Besteck seiner
politischen Diskurstheorie. Entsprechend schneidend fällt die Kritik aus.
Natürlich registriert er das enorme, für die Demokratie nutzbare Potenzial
einer netzartigen, nicht mehr hierarchisch geordneten Kommunikation. Doch
faktisch ist von dem Versprechen eines egalitären, basisdemokratischen
Diskurses, so die naheliegende Analyse, kaum etwas übrig.
Die digitalen, nach außen abgeschotteten digitalen Blasen von
Gleichgesinnten sind das Gegenteil jenes Diskurses, der für den Herzschlag
der Demokratie sorgt. Denn dieser Diskurs muss für alle zugänglich sein und
rationalen Argumenten folgen.
Angesichts der von Facebook und Twitter ungeregelten Hassreden in der
Plattformökonomie sehnt Habermas sich nach der von Redaktionen und Medien
gefilterten Öffentlichkeit zurück. Und merkt, mit einem Hauch
Kulturpessimismus (der sonst erfreulicherweise fehlt) an: „Wie der
Buchdruck alle zu potentiellen Lesern gemacht hatte, so macht die
Digitalisierung heute alle zu potentiellen Autoren. Aber wie lange hat es
gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?“
## Digitale Chatrooms und Bubbles
In den digitalen Räumen verschwimmt auch eine Trennung, die fundamental für
bürgerlich-demokratische Öffentlichkeit ist – privat und öffentlich. Die
digitalen Chatrooms und Bubbles sind weder das eine noch das andere und
„scheinen eine eigentümlich anonyme Intimität“ zu haben. Und in ihnen
blühen Fake News, die wie Rost die Grundlagen jeder rationalen Politik
zerfressen. Digitale Medien beschleunigen so den Verfall der Demokratie.
Deswegen, so die Conclusio dieses scharfsinnigen Essays, ist es keine
Ansichtssache oder Idee, dass man „eine Medienstruktur aufrechterhalten
muss, die den inklusiven Charakter der Öffentlichkeit ermöglicht“ – sonde…
„ein verfassungsrechtliches Gebot“. Eine Art Notwehr.
Die Rückkehr zur Welt der Zeitungen und TV-Redaktionen ist Illusion. Wie
die digitale Öffentlichkeit konstruiert werden muss, erfährt man hier
nicht. Es wäre etwas viel verlangt. Dies ist der Job von Digital Natives,
die die „Theorie des kommunikativen Handelns“ ebenso begriffen haben wie
die Logik der Algorithmen.
10 Sep 2022
## LINKS
[1] /90-Geburtstag-von-Juergen-Habermas/!5600386
[2] /Habermas-Symposium-in-Frankfurt/!5602399
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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