| # taz.de -- Habermas-Symposium in Frankfurt: Der Unwille des Volkes | |
| > Zu Ehren von Jürgen Habermas treffen sich Weggefährten des Philosophen in | |
| > Frankfurt. Dabei geht es auch um die Erosion der politischen Kultur. | |
| Bild: Grandseigneur der deutschen Philosophie: Jürgen Habermas | |
| Dem fulminanten, von einem falschen Alarm unterbrochenen Auftakt von Jürgen | |
| Habermas’ Vorlesung über Moralität und Sittlichkeit, über Kant, Hegel und | |
| Marx folgten an den beiden Tagen des Symposiums zwei alle Motive | |
| durcharbeitende Akte sowie ein besinnlicher Ausklang. | |
| Es ging zunächst um Stellungnahmen zum großen, im September erscheinenden | |
| Buch des Jubilars, das auf sage und schreibe 1.700 Seiten die Genealogie | |
| des postmetaphysischen Denkens entfaltet und dabei insbesondere die auch | |
| heute noch unabgegoltenen Gehalte der Weltreligionen erörtert. | |
| So wies der in Harvard wirkende Peter Eli Gordon, dem ein bahnbrechendes | |
| Werk zum Verhältnis von Franz Rosenzweig und Martin Heidegger zu verdanken | |
| ist, auf ähnliche Ansätze zur Zeit der Aufklärung hin: auf Lessings | |
| „Erziehung des Menschengeschlechts“ und Herders „Auch eine Philosophie der | |
| Geschichte zur Bildung der Menschheit“; nun versteht man, warum Habermas’ | |
| Opus magnum den Titel „Auch eine Geschichte der Philosophie“ trägt. | |
| Der Frankfurter Philosoph Matthias Lutz-Bachmann hingegen provozierte den | |
| Jubilar mit der These, dass schon Thomas von Aquin im Mittelalter die von | |
| Habermas postulierte Ressource einer natürlichen Vernunft vorweggenommen | |
| habe, während der in Chicago lehrende Thomas McCarthy die innere Dialektik | |
| dessen, was als „postmetaphysische Vernunft“ bezeichnet wird, ins Zentrum | |
| stellte. | |
| Es verwundert nicht, dass in diesem Zusammenhang immer wieder die von | |
| Habermas beanspruchte Theorie von Karl Jaspers zum „Achsenzeitalter“ zur | |
| Sprache kam; hatte doch Jaspers damit nach dem Zweiten Weltkrieg den | |
| Versuch unternommen, die gleichzeitige Herausbildung von Staaten, | |
| Rechtssystemen sowie Hochreligionen in den Kulturkreisen von Indien, China, | |
| Orient und Okzident zwischen 800 v. Chr. bis 200 n. Chr. plausibel zu | |
| machen. | |
| ## Eckpfeiler Kant und Hegel | |
| Der auf dieser Basis von Habermas beanspruchten inneren Dialektik von | |
| religiösen Gehalten und humanwissenschaftlich nachvollziehbaren | |
| Lernprozessen galt im Anschluss eine Runde, die sich mit den von Habermas | |
| beanspruchten Eckpfeilern seines Denkens, mit Kant und Hegel | |
| auseinandersetzte. | |
| Während die in den Niederlanden lehrende Pauline Kleingeld Kants Metaphysik | |
| der Moral erörterte, unternahm der Frankfurter Religionsphilosoph Thomas | |
| Schmidt den Versuch zu zeigen, dass schon Hegels Religionsphilosophie im | |
| beanspruchten Sinne „postmetaphysisch“ gewesen sei, während Axel Honneth in | |
| Frage zu stellen schien, wie säkular Habermas’ Werk wirklich ist. | |
| Ebendieser Frage galten auch die Ausführungen von Charles Taylor, dem | |
| berühmten kanadischen Philosophen, sowie der irischen Philosophin Maeve | |
| Cooke, die den Anthropozentrismus von Habermas’ Philosophie kritisierte und | |
| um den Nachweis bemüht war, dass sein Denken, da es die Schöpfung im Ganzen | |
| nicht in den Blick nimmt, der ökologischen Herausforderung nicht | |
| entsprechen kann. | |
| Beschlossen wurde dieser erste Tag mit Beiträgen des in Rom lehrenden | |
| Alessandro Ferrara sowie von Eduardo Mendieta, der an der Penn State | |
| University forscht. Während Ferrara nach den humanwissenschaftlich | |
| einsehbaren Ressourcen für eine universelle Solidarität der Menschen | |
| fragte, setzte sich Mendieta, der seit langem Habermas’ Verhältnis zur | |
| Religion thematisiert, mit der Möglichkeit einer aufgeklärten Religion, wie | |
| sie die lateinamerikanische Befreiungstheologie darstellt, auseinander. Auf | |
| den abendlichen „Dinner Speech“ von Richard Bernstein, eines der ältesten | |
| US-amerikanischen Freunde von Habermas, ist später, bei Gelegenheit des | |
| heiter-melancholischen Ausklangs einzugehen. | |
| ## Der von Rechtspopulisten beanspruchte „Volkswille“ | |
| So akademisch der erste Tag des Symposiums bei aller Brillanz auch war, so | |
| streitbar, aktuell und lebendig der zweite Tag, an dem es um die Zukunft | |
| der Demokratie ging und an dem Habermas seiner zweiten Rolle, der des | |
| streitbaren öffentlichen Intellektuellen jederzeit mit treffenden | |
| Kommentaren gerecht werden konnte. | |
| Den Auftakt machte sein ehemaliger Assistent Claus Offe, der eine ebenso | |
| politisch treffsichere wie auch demokratietheoretisch begründete Analyse | |
| des Rechtspopulismus anhand der Frage vorlegte, was genau der von | |
| Rechtspopulisten beanspruchte „Volkswille“ sein kann. | |
| Offe charakterisierte die drei Grundstrategien der Rechtspopulisten als | |
| Schüren von Angst, Ausgrenzung von „Fremden“ sowie Verklärung von | |
| Vergangenheiten, um dann unter Rückgriff auf Rousseaus Unterscheidung von | |
| vernünftiger, verfassungsmäßiger „Volonté générale“ und empirischer | |
| „Volonté des tous“ zu fragen, ob und in welchem Sinne man tatsächlich von | |
| einem „Willen“ des „Volkes“ sprechen könne und ob die Rechtspopulisten | |
| nicht viel eher einen so gar nicht existenten „Unwillen“ beschwören, eine | |
| Analyse, die ein anderer ehemaliger Assistent, Oskar Negt – er hat soeben | |
| eine zweibändige Autobiografie vorgelegt – durch Hinweise auf eine Erosion | |
| der politischen Kultur ergänzte. | |
| ## „Rule of Law“ vs. „Rule by Law“ | |
| Der Rechtsphilosoph Klaus Günther erläuterte die Politik der derzeit | |
| herrschenden und regierenden Rechtspopulisten in Polen und Ungarn durch den | |
| treffenden Hinweis, dass in Demokratien klassischen Typs mittels des „Rule | |
| of Law“ geherrscht werde, während in den neuen „illiberalen Demokratien“ | |
| das Recht als unmittelbares Herrschaftsinstrument eingesetzt werde: „Rule | |
| by Law“ – also jeweils ad hoc verabschiedete Gesetze zur Ausschaltung des | |
| politischen Gegners oder der Steigerung der eigenen Macht. | |
| Den Habermas und seinem Denken in vielem folgenden Politolog_innen und | |
| Sozialphilosoph_innen, unter ihnen HerausgeberInnen der Zeitschrift | |
| Constellations, also den New Yorkern Jean Cohen, Andrew Arato und Nancy | |
| Fraser sowie der in Yale forschenden Seyla Benhabib blieb es überlassen, | |
| Reichweite und Möglichkeit der Theorie deliberativer Demokratie vor dem | |
| Hintergrund des demokratisch legitimierten Regimes von Donald Trump sowie | |
| den Kalamitäten der EU angesichts des Brexits zu diskutieren. | |
| Nancy Fraser immerhin wies unter Bezug auf Habermas’ Buch von 1973, den | |
| „Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus“, darauf hin, dass sich auch | |
| der globale Finanzkapitalismus in einer Legitimationskrise befinde, was | |
| schnell die Rückfrage auslöste, wie es denn etwa um den Kapitalismus in | |
| Asien, nicht zuletzt in China bestellt sei. Auf jeden Fall – und Habermas | |
| selbst pflichtete dem bei – müsse auch eine erneuerte Theorie der | |
| Demokratie die Kritik am Kapitalismus wieder ins Zentrum stellen. | |
| Dem entsprach die luzide Analyse der „Bankenkrise“ von 2008, die der | |
| Flensburger Professor für Soziologie, Hauke Brunkhorst, vornahm, des | |
| Zusammenbruchs der Lehman-Brothers-Banken, die allein durch die | |
| historischen Einsichten des damaligen Präsidenten der Federal Reserve Bank, | |
| Ben Bernanke, in keynesianischer Weise so bewältigt werden konnte, dass | |
| sich eine Krise, die schlimmer geworden wäre als die Weltwirtschaftskrise | |
| von 1929, vermeiden ließ. | |
| ## Melancholischer Ausklang | |
| Zum Abschluss fragten der Hamburger Politologe Peter Niesen sowie die – wie | |
| Mendieta an der North Western University wirkende – Cristina Lafont nach | |
| künftigen Chancen demokratischer Revolutionen beziehungsweise der | |
| Möglichkeit dessen, was gerne als „Linkspopulismus“ bezeichnet wird. | |
| Kant, Hegel, Marx, Demokratie und Krise … gleichwohl war diese Konferenz am | |
| Ende vom Geist eines antiken Philosophen getragen. Richard. J. Bernstein, | |
| Jahrgang 1932, langjähriger Professor am Haverford College, war es, der | |
| Habermas schon vor Jahrzehnten das Denken der US-amerikanischen | |
| Pragmatisten von Peirce bis Dewey nahegebracht hatte; er verwies bei seinem | |
| „Dinner speech“ immer wieder auf die Bedeutung von „Freundschaft“ zwisc… | |
| denkenden Menschen und damit auf den Aristoteles der „Nikomachischen Ethik“ | |
| … ein ebenso passender wie heiter-melancholischer Ausklang | |
| politisch-philosophischer Würdigung des bedeutendsten öffentlichen | |
| Intellektuellen, den dieses Land, die Bundesrepublik Deutschland, je hatte. | |
| Habermas immerhin wirkte, stets von anderen akademischen Verpflichtungen | |
| unterbrochen, dreimal an der Goethe-Universität von 1956 bis 1961, von 1964 | |
| bis 1971 sowie 1983 bis 1994. Entsprechend fand die abschließende | |
| Zusammenkunft der Teilnehmer_innen im Gästehaus der Goethe-Universität | |
| statt. | |
| Dieser Abend bei sommerlichem Wetter und Mahl im Freien löste allgemeiner | |
| Fröhlichkeit zum Trotz bei allen denn doch das – ja ! – traurige Gefühl | |
| aus, das Ende einer Epoche zu erleben. Hegel sprach davon, dass die | |
| Philosophie ihr Grau in Grau in der Dämmerung male, mithin die Eule der | |
| Minerva ihren Flug in der einbrechenden Dämmerung beginne. Diesmal war es | |
| der 21. Juni – der längste Tag des Jahres, Sommersonnenwende. Von nun an | |
| werden die Tage kürzer. | |
| 24 Jun 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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