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# taz.de -- Demokratie in der Krise: Schluss mit Peter Pan
> Das hat man nun davon: Nach 1989 sah man die postideologische
> Weltgesellschaft kommen – und zog eine apolitische Generation heran.
Bild: „Das ahistorische Mindset der Nineties war auch in den Nullern noch ma�…
Vor dreißig Jahren leiteten der Fall des Eisernen Vorhangs und ein
Troubadour in glühlampenbestickter Lederjacke das vorläufige Ende der
Geschichte ein. David Hasselhoff schwebte über der [1][durchbrochenen
Berliner Mauer] und kündete den geplagten DDR-Bürgern von einer leuchtenden
Ära der Freiheit.
Bald darauf riefen Teile der Politikwissenschaft das liberale
Ordnungsmodell zum ewigen Gewinner der konkurrierenden Großsysteme aus. In
vulgärhegelinanischem Freudentaumel erklärten Francis Fukuyama und andere
die weltpolitischen Widersprüche für aufgehoben – der
geschichtsdialektische Marathon hatte sein großes Ziel erreicht, der
Weltgeist war nach Hause gekommen, durfte seine wundgelaufenen Füße auf dem
Sofatisch platzieren.
In der Folge verlor das [2][Politische selbst nach und nach an Relevanz].
Alles stand im Zeichen des großen Konsums. Und breiter als jemals zuvor
schmutzte eine eifrige Kulturindustrie die ehedem chronisch rebellische
Jugend mit Mist wie Baywatch und den Backstreet Boys zu.
## Überwachungskapitalismus auf dem Vormarsch
Die 90er sind längst vorüber und der Topos vom Ende der Geschichte wurde
historisch hinweggefegt. Wir sehen ja, dass es überall brennt, wissen, dass
die Brände von selbst nicht erlöschen; dass Milliarden von Menschen in
strukturell erzeugtem Elend vegetieren; dass die Demokratie in einer
grundstürzenden Krise steckt; dass Autoritarismus und rechte Bewegungen
weltweit auf dem Vormarsch sind; dass wir im digitalen
Überwachungskapitalismus mehr denn je zum Anhängsel der Maschine verkommen;
dass schließlich die planetare Hardware dabei ist, ein für alle Mal
durchzubrennen.
Von falschem Bewusstsein kann angesichts der endzeitlichen Grundstimmung
unserer Gegenwart eigentlich keine Rede mehr sein. Und doch, so scheint es,
kommen wir nur mäßig und viele überhaupt nicht aus dem Quark – geschweige
denn auf die Barrikaden. Ich meine: Eine unzeitgemäße Ethik hat sich wie
Kalk in uns abgelagert.
So haben wir alle – besonders aber die Generation Y – die Nineties als
Haltung und Habitus bewahrt. Den aus dem falschen Versprechen von der
postideologischen Weltgesellschaft herrührenden, chronisch infantilen
Anspruch, ein Leben jenseits der Geschichte zu leben, haben wir über die
2000er und 2010er bis an die Schwelle der 2020er Jahre geschleppt.
Ich bin in jener vermeintlich geschichtslosen Blase, im Korridor zwischen
den Jahrtausenden, sozialisiert worden. Zu jener Zeit, als der Kapitalismus
plötzlich ohne Konkurrenz war und deshalb nicht mehr auf freundlich machen
musste. Denn, um Missverständnissen vorzubeugen: die 90er waren kein bloß
lustiges Jahrzehnt, in dem Eurodance die Charts und eine unbeschwerte
Freiheit die Gesellschaft dominierte.
## Selbstbesoffene Wirtschaft
Hier ging das in den 80ern begründete neoliberale Regime in die Vollen.
Hier wurden die Weichen für die Auszehrung des Sozialstaats gestellt, die
Spielräume der Politik immer stärker zugunsten einer selbstbesoffenen
Wirtschaft beschnitten. Hier mutierte die Sozialdemokratie zur Konkubine
des Kapitals. Hier wurden die entfremdenden Imperative der
Leistungsgesellschaft zu quasireligiösen Leitsätzen erhoben, wurden
egotaktisches Lebenslaufdesign und das Kuratieren der eigenen Person zu
alles entscheidenden Techniken des Selbst.
Wenn man Ende der 90er zum Jugendlichen wurde – und in den Nullern als dem
Wurmfortsatz der 90er ein zumindest minimales politisches Bewusstsein
entwickelte –, gab es vieles, was man ablehnen konnte. Die einerseits auf
Karriere als Lebenssinn und andererseits auf stumpfen Hedonismus gepolte
Lebensform der atomisierten Spaßgesellschaft fanden meine Leute schon zu
Schulzeiten pervers. Wir wollten da auf keinen Fall mitmachen.
Doch waren wir eben die Kinder unserer Zeit, Widerstand fand nicht statt.
Eine andere Welt als die, in der wir lebten, konnten wir uns einfach nicht
vorstellen. Dass die Geschichte sich fortbewegte, schien uns ein Merkmal
sepiafarbener Vergangenheit zu sein. Trotz einstürzender Twin Towers,
„Krieg gegen den Terror“ und kollabierender Großbanken war das ahistorische
Mindset der Nineties auch in den Nullern noch maßgeblich.
Nichts würde jemals wieder anders sein als jetzt. Alles war am Ende bloß
interaktives Fernsehen, wir konnten uns aus sicherer Distanz an
spektakulären Explosionen berauschen. Am 1. Mai in Kreuzberg oder auf der
Anti-Irakkriegs-Demo haute man ein bisschen auf die Kacke – anschließend
kehrte man zum Alltag zurück.
## „We would prefer not to“
So vollzog sich noch das Aufbegehren gegen die Zumutungen des neoliberalen
Zeitgeists unter neoliberalen Vorzeichen. Die „Gesellschaft der
Singularitäten“ haben wir als jene Solitäre befehdet, zu denen wir in ihrem
Schoß herangewachsen waren. Unser „Protest“ war seinerseits kaum mehr als
infantiler Trotz und Bartleby’sche Verweigerung im Sinne eines „We would
prefer not to“.
Was können dir gesellschaftliche Imperative, wenn du stoned auf Parkbänken
chillst oder mit verschiedenen Substanzen im Blut ins Fieberlicht
wummernder Nächte tauchst? Unser jugendliches Oppositionsgebaren fand kein
sinnvolles Ventil. So haben viele junge Wilde der 90er und 2000er ob der
verspürten Abwesenheit eines narrativen Fluchtpunkts, auf den sich ein
Traum von Umwälzung hätte ausrichten können, vor allem die eigene
Gesundheit geschröpft.
Natürlich hatten wir hochfliegende Träume, die eben die Träume unseres
Zeitalters waren. Wir hofften nicht auf eine bessere Welt. Anstatt uns als
historische Subjekte zu verorten, träumten wir davon, aus der Masse
hervorzubrechen, Einzelne zu sein, die in ewiger Jugend und dauerhaft im
Applaus leben würden.
## Neurotisch im Hamsterrad
Irgendwann brach dann die Wirklichkeit ein: Inzwischen nun rennen wir
entfremdet und neurotisch im Hamsterrad umher, haken Posten auf
To-do-Listen ab, leben, lieben, arbeiten prekär und fürchten das Fallen ins
Bodenlose. Am Ende des Tages schleppen wir unsere an der allgemeinen
Aufgabe, ganz besondere Individuen zu sein, erschöpften Selbstreste
wahlweise aufs Sofa vor die Netflix-Serie oder in den Club und das
Tinder-Multiversum.
Die eine Hälfte hat ihre im Zuge des Älterwerdens verschüttgegangenen
Träume auf ihre Kinder verlagert, ihre Weise des Erwachsenseins erschöpft
sich meist im täglichen Funktionieren. Die andere Hälfte klammert sich an
ihre versunkene Jugend und frönt, als hätte sich nichts verändert, weiter
dem Peter-Panismus.
Seit ein paar Jahren aber ist die Geschichte, die niemals fort war, ins
Bewusstsein der meisten zurückgekehrt. Mit Syrien und der sogenannten
Flüchtlingskrise, mit zahllosen Leichen, die an die Strände Europas gespült
werden, mit Brexit und Trump, mit den verstörenden Landgewinnen des
Rechtsextremismus, mit der nunmehr rezipierten Klimakatastrophe haben wir
endlich begonnen, zu begreifen, dass unser Leben nicht bleibt, wie es ist.
## Im ewigen Nimmerland
Dass es sich zum Schlechteren ändern kann – und sich zum Besseren ändern
muss. Allein: Gemessen an Dringlichkeit und Präsenz dieser Erkenntnis
geschieht verhältnismäßig wenig. Wir reiben uns verblüfft die Augen,
hoffen, dass alles wieder wird, wie es war. Immer noch halten wir die
Vorstellung fest, wir könnten im ewigen Nimmerland leben.
Okay, viele von uns haben seit 2015 wiederholt mit irgendwelchen Onkels an
Weihnachten über Geflüchtete gestritten. Wir sind schlechten Gewissens,
wenn wir Plastiktüten kaufen, und nicht wenige waren mal auf irgendeiner
Klima- oder Anti-AfD-Demonstration. Situatives Geplänkel aber – ein
bisschen Hobbypolitik im Zeichen von Distinktionsgewinn und moralischer
Selbstoptimierung – wird dieser Tage nicht ausreichen.
Wir stehen vor einer Jahrhundertaufgabe. Die ganz Jungen haben das am
besten begriffen, wenn sie sich aus ihren digitalen Wohnzimmern hinaus ins
Analoge und voller Wut auf die Straße begeben. Wir müssen uns ihnen
anschließen.
Die Politisierung, die viele von uns seit einigen Jahren noch immer
ungläubig durchlaufen, gilt es fortlaufend auszubauen, gegen die
Beharrungskraft des Alltags. Die Kinder der Zwischenzeit können sich nicht
mehr der doppelt infantilen Daseinsform von individuellem Lebenslaufdesign
auf der einen und Flucht in die ewige Party auf der anderen Seite
verschreiben. Wenn sich Rechtsextreme in Parlamenten festsetzen, und die
Mächtigen der Welt die Zukunft torpedieren, dürfen das Fusion-Festival und
das Berghain nicht mehr der Peak des Widerstands sein.
## Dem irre gewordenen Kapitalismus die Stirn bieten
Wir stehen vor der geschichtsträchtigen Aufgabe, nicht nur zivilisatorische
Errungenschaften wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit verteidigen zu
müssen. Durch den Klimawandel und das, was in dessen Folge auf uns zukommt,
wird endgültig deutlich, was vorher schon galt: dass wir der
krankmachenden, ausbeuterischen und verheerenden Höllenmaschine eines an
sich selbst irre gewordenen Kapitalismus endlich entschieden die Stirn
bieten sollten. Zuallererst aber brauchen wir eine neue Selbsterzählung,
einen runderneuerten Habitus.
Das geschichtslose Mindset der 1990er müssen wir aus uns herausschulen.
Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, ist Peter Pan, das ewige Kind, mehr als
reif für die Rente.
6 Nov 2019
## LINKS
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[2] /Neue-Buecher-ueber-die-Folgen-der-Wende/!5632216
## AUTOREN
Christoph David Piorkowski
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