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# taz.de -- Bericht eines Zeitzeugen: Rückkehr nach Gethsemane
> Unser Autor erlebte den Wendeherbst 1989 als Reporter für eine
> norwegische Zeitung. 30 Jahre später besucht er erneut einen zentralen
> Schauplatz.
Bild: Eine oppositionelle Zukunftswerkstatt in der Erlöserkirche am Vorabend d…
Eine Zeitungsnotiz bringt mich zurück nach Berlin: Ein Gespräch mit
Zeitzeugen in der Gethsemanekirche in Prenzlauer Berg ist angekündigt, die
Eindrücke ganz außergewöhnlicher Tage rund um das Gotteshaus sollen geteilt
werden. Auch ich war vor dreißig Jahren schon einmal hier. Die dramatischen
Ereignisse des Wendeherbstes brachten mich damals in die Ostberliner
Kirche.
Ich war ein junger Journalist im beschaulichen Norwegen. Es machte uns
betroffen, als es nach den Feiern zum 40. Jahrestag der DDR zu
Gewaltanwendung kam. Der Einsatz von Polizeiknüppeln gegen die eigene
Bevölkerung gehört in Norwegen zu sehr seltenen Ausnahmen.
Drei Jahrzehnte später sind die meisten Teilnehmenden bereits im
Rentenalter. Es verwundert mich, dass jüngere Generationen kaum Interesse
an dem Gespräch in der Kirche zeigen, die damals im Kampf um die Demokratie
einen so zentralen Platz hatte.
Filmberichte von den Demonstrationen und die dramatische Entwicklung nach
dem Jubiläum der DDR dominierten im Oktober auch die norwegischen
Nachrichtensendungen. Und so schickte der Chefredakteur meiner Osloer
Zeitung mich wenige Tage nach dem 7. Oktober nach Berlin. Mein Auftrag war
es, mit Menschen zu sprechen, die an den Demonstrationen teilgenommen
hatten. Besonderes Interesse hatten wir an der aktiven Beteiligung der
Kirchen an der Entwicklung in der DDR.
## Bewaffnete Grenzpolizei
An einem späten Montagabend logierte ich mich im Westberliner Hotel
Präsident ein. Ohne Internet und ständig verfügbare Nachrichten war ich
dort auf das Fernsehen angewiesen. Während die BRD-Sender dramatische
Bilder von der Montagsdemonstration in Leipzig brachten, Zehntausende auf
der Straße, am Rande Polizei, strahlte das DDR-Fernsehen ein stundenlanges
Programm mit bulgarischer und russischer Volksmusik aus. Der Kontrast war
mehr als absurd.
Absurd war auch der nächste Morgen. Während nun die Lage im Osten der Stadt
wirklich ernst wurde, saß ich im Westen im Frühstücksraum des Hotels. Die
Lautsprecheranlage plärrte eine schmissige James-Last-artige Version des
Liedes „Der letzte Mohikaner“. Die Gäste im Hotel Präsident waren bester
Laune. Ich aber wollte unbedingt das Geschehen im Osten erkunden.
Bevor es nach Ostberlin ging, suchte ich eine Wechselstube im Bahnhof Zoo
auf. Es schien mir sinnvoll zu sein, mir vorab einen ausreichenden Vorrat
an DDR-Mark zuzulegen. Danach fuhr ich mit der S-Bahn zur Friedrichstraße.
Die Grenzpolizei war erschreckend gut bewaffnet.
Eine Frau vor mir in der Passkontrolle hielt eine westdeutsche
Frauenzeitschrift in der Hand und wollte zurück in die DDR. Der Zollbeamte
machte kurzen Prozess: Er warf die Illustrierte umstandslos in einen
Mülleimer.
## Stasi bewacht Kirche
Dann war ich an der Reihe. Auf die Frage, ob ich DDR-Währung mitführte,
zeigte ich meine frisch eingetauschten einhundert Ostmark vor.
Augenblicklich wurde ich zum Verhör abgeführt.
Ein Beamter brauchte endlos viel Zeit, um auf einer mechanischen
Schreibmaschine einen ausführlichen Beschlagnahmungsbericht zu verfassen.
Ich wurde jetzt offenbar für einen Schmuggler gehalten. Ich musste mich
ausziehen und stand nackt vor drei mit Pistolen bewaffneten Beamten. Ich
begann mir Sorgen zu machen, dass meine Reportage ins Wasser fallen würde.
Nach anderthalb Stunden Bürokratie aber durfte ich doch noch passieren.
In einem Café Unter den Linden flüsterte mir eine Gruppe gut angezogener
DDR-Jugendlicher zu, ich sollte mit der U-Bahn zur Gethsemanekirche fahren.
Dort würde ich andere Jugendliche finden, die mit den Knüppeln der Polizei
Bekanntschaft gemacht hatten und mir bestimmt mehr erzählen könnten.
Als ich in der Schönhauser Allee die U-Bahn verließ, war der Anblick
überwältigend. In der Gethsemanekirche und ihrer direkten Umgebung wimmelte
es nur so von Aktivisten. Polizisten und deutlich erkennbare Stasileute
bewachten die Kirche aus einer gewissen Entfernung. Vor der Kirche brannten
Kerzen, und auf einem großen Banner über dem Eingang stand die Parole:
„Wachet und betet.“
## Atheisten in der Kirche
Vor dem Altar in der Kirche war die Mahnwache. Gethsemane aber war noch
viel mehr: ein Umschlagplatz für kritische Informationen der eigenen
Bürger. Ausländische Kamerateams sprachen für ihre Reportagen mit
verzweifelten Jugendlichen über deren Erlebnisse mit der Polizeigewalt der
vergangenen Tage.
Mich erstaunte, wie offen das alles vor sich ging. Denn sicher hielten sich
auch in der Kirche Stasileute auf. Aber die Kirche als Freiraum wagten sie
doch nicht herauszufordern. Die Jugendlichen, mit denen ich sprach,
schienen seltsamerweise keine Angst zu haben. Wenn die DDR-Behörden den
Volksaufstand am Ende doch brutal und mit Gewalt niederschlügen, würden
diese jungen Leute Gefängnis und Schlimmeres riskieren.
Einer der Aktivisten zeigte mir von Knüppelschlägen hinterlassene
Blutergüsse und berichtete von festgenommenen Freunden, deren
Aufenthaltsort niemand kannte. Mehrere von ihnen waren junge engagierte
Christen, andere Atheisten, die sich aber auch an der Mahnwache und
Fastenaktion vor dem Altar beteiligten. Das schien mir etwas ganz
Besonderes zu sein.
Ganz offensichtlich war die Kirche mit ihren vielen Wandzeitungen eine
wichtige Zentrale der politische Opposition. Diese Funktion wurde noch
deutlicher beim Abendgebet, als sich die Kirche mit mehreren Tausend
Teilnehmern füllte. Abend für Abend drängten sich dort solche Massen.
## Verbotene Kommunikation
Ich hatte mir einen Platz vor der Empore gesucht und erlebte, wie der
Gottesdienst nach und nach in etwas ganz anderes überging. Nach dem letzten
Gebet berichtete der Bischof von Gesprächen mit den Polizeibehörden und
anhaltenden Versuchen, die Verhafteten freizubekommen. Als junger Norweger
war ich überrascht von dieser Aktivität, kannte ich Kirchen bis dahin doch
als eher unpolitisch langweilig.
Während wir es heute gewohnt sind, dass Protestbewegungen sich in sozialen
Medien vernetzen und so die Autoritäten herausfordern, erfüllten vor
dreißig Jahren Gottesdienste und Kirchen diesen Zweck der im angezählten
DDR-Regime verbotenen Kommunikation. Neben mir notierte jemand die
wichtigsten Punkte des bischöflichen Berichts auf einer Zigarettenpackung.
Angespannt ging ich nach der Veranstaltung durch die dunklen Straßen. In
der Nähe der Kirche waren überall an den Hausmauern Polizisten aufgestellt.
Meine Nervosität schwand erst nach der Ausreise – die Kontrolle war weitaus
laxer, als noch am Vormittag. Im Café Adler in Westberlin konnte ich
endlich aufatmen.
## Stolz und Frustration
Zwei Jahre nach dem Fall der Mauer besuchte ich Berlin erneut, diesmal als
Tourist. Wieder fuhr ich zur Gethsemanekirche. Die veränderte Szenerie war
überwältigend: Ich hatte erwartet, dass wenigstens Gedenktafeln oder
Ähnliches an die Ereignisse von 89 erinnerten. Vor der Kirche aber standen
Vietnamesen und verkauften Zigaretten.
Ich erfuhr, dass sie nach dem Zusammenbruch der DDR arbeitslos geworden
waren, da es für die Gastarbeiter aus den „sozialistischen Bruderstaaten“
im neuen Deutschland keinen Platz mehr gab. Das Alltagsleben in der Gegend
war still und wirkte seltsam resigniert, während sich hier vor so kurzer
Zeit doch Dramen abgespielt hatten.
Ein paar Jahre später fuhr ich abermals auf Reportagereise, kurz vor den
Gedenkfeiern zum 15. Jahrestag des Mauerfalls. Ich besuchte einige der
damaligen Aktivisten aus der Gethsemanekirche und rechnete mit
leidenschaftlichen Schilderungen des siegreichen Kampfes. Tatsächlich
konnte ich von dem noch immer großen Stolz auf die Leistungen von 1989
berichten. Ich fand jedoch auch große Frustration vor.
## Die Kraft des Marktes
Das neue, wiedervereinigte Deutschland war beileibe nicht so geworden, wie
es sich die Aktivisten erhofft hatten. Sie hatten – wie viele radikale,
aktive Kirchenangehörige auch in meinem eigenen Land – von einem anderen
und weniger konsumorientierten Kurs für die Gesellschaft geträumt. Die
starken Kräfte des Marktes und die politischen Mehrheiten aber waren keinen
Experimenten zugeneigt.
Als ich in diesem Jahr, drei Jahrzehnte nach jenen dramatischen Wochen,
abermals durch die abendliche Dunkelheit in der Umgebung der
Gethsemanekirche spaziere, sehe ich in einem modernen Café viele Gäste.
Junge zahlungskräftige Menschen haben die Gegend übernommen – und prägen
sie auf ihre Weise.
Die kleine Gruppe von Zeitzeugen aus der Veranstaltung in der Kirche
schlendert zu einer etwas abseits gelegenen Kneipe, um ihre Gespräche
weiterzuführen. Hinter ihnen bleibt Gethsemane, über dem Portal noch immer
das Transparent mit der Botschaft: „Wachet und betet.“
Übersetzung aus dem Norwegischen: Gabriele Haefs
6 Nov 2019
## AUTOREN
Per Anders Hoel
## TAGS
30 Jahre friedliche Revolution
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DDR
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Krise der Demokratie
Schwerpunkt Fridays For Future
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