# taz.de -- Treffen ehemaliger Bürgerrechtler: Noch immer Jeans | |
> Unser Autor hat 1989 in Leipzig Theologie studiert, zusammen mit Rainer | |
> Müller. Beide waren Bürgerrechtler. Was ist aus der Bewegung geworden? | |
Bild: Rainer Müller vor dem Wandbild von Michael Fischer-Art in Leipzig | |
LEIPZIG/BERLIN taz | Vergangene Woche hat mich Rainer Müller besucht. Er | |
hatte sich zu einem Treffen von Bürgerrechtlern in der ehemaligen | |
Stasi-Zentrale in Berlin-Lichtenberg angemeldet, „DDR-Opposition damals und | |
heute“ stand auf der Einladung. „Du als 89er könntest auch dabei sein“, | |
schrieb er mir. Gute Idee. Er hatte allerdings übersehen, dass man sich | |
ohne Presse treffen wollte. Rainer und ich studierten ab 1987 in Leipzig | |
evangelische Theologie. Nicht an der Karl-Marx-Universität. | |
Die hätte uns nicht genommen, und wir wollten das auch nicht. Wir waren | |
Totalverweigerer, wollten keinen Befehlen gehorchen und auch keinen | |
waffenlosen Dienst als „Bausoldaten“ ableisten. Von der „Nationalen | |
Volksarmee“ zwar in Ruhe gelassen, mussten wir damit rechnen, eines Tages | |
vor Gericht zu stehen. | |
Unsere Hochschule war das Theologische Seminar, eine kleine kirchliche | |
Einrichtung, deren Abschlüsse der Staat nicht anerkannte. Rainer war | |
Maurer, ich LPG-Bauer, andere waren Tischler, Krankenschwestern, Schlosser. | |
Viele, nicht alle, waren oppositionell eingestellt, viele, nicht alle, | |
waren in Friedens-, Menschenrechts- und Umweltgruppen aktiv. Für die Stasi | |
war das Seminar Sammelpunkt „feindlich-negativer Kräfte“. | |
Neulich erst hatte ich Rainer in Leipzig besucht. Das lange Haar ist | |
inzwischen dünner, der Bart breiter als damals, die Jeans hat das gleiche | |
verwaschene Blau. Am Brühl gegenüber dem Hauptbahnhof blieb er stehen und | |
deutet auf eine farbenfrohe Wand. „Das Bild wird verschwinden“, sagte er. | |
Ein Hotel wird bald die 3.000 Quadratmeter verdecken, die ein Heer von | |
Menschlein mit aufgerissenen Augen zeigt, als ob sie nicht fassen können, | |
was sie gerade erleben. „Freiheit“, „Stasi in den Tagebau“, „Freie Wa… | |
steht auf Transparenten – der Wendeherbst als Comic, erschaffen 1989. Ein | |
Andenken an die Zeit, als Leipzig das Herz der Revolution war. | |
Rainer Müller kennt darüber jedes Detail. Gemeinsam stiegen wir 1988 in | |
Abrisshäuser, um eine Bleibe zu finden. Rainer zog dann mit anderen in die | |
Mariannenstraße 46 im Leipziger Osten. Das Haus wurde zum Zentrum des | |
Widerstands. Das Haus wurde zum Zentrum des Widerstands. Peter Wensierski | |
vom Spiegel erzählt von den Rebellen in seinem Tatsachenroman „Die | |
unheimliche Leichtigkeit der Revolution“. | |
## Ein Jahr Haft wegen „staatsfeindlicher Hetze“ | |
Leicht war zunächst aber nichts. Im Januar 1989 saß Rainer mit anderen für | |
sechs Tage in U-Haft. Einer unserer älteren Kommilitonen wurde 1981 wegen | |
„staatsfeindlicher Hetze“ zu einem Jahr Haft verurteilt, ein anderer saß | |
wegen Wehrdienstverweigerung 20 Monate im Gefängnis. Rainer erzählt von | |
einem Freund, der einen Pkw-Spiegel ruiniert haben soll und dafür ein Jahr | |
einsaß. Es war ein Dienstfahrzeug der Polizei und damit „Widerstand gegen | |
die Staatsgewalt“. Als er wieder rauskam, waren sämtliche Zehennägel | |
weggefault. Er hatte in einem Chemiewerk schuften müssen. | |
Rainer erzählt solche Geschichten, wenn er Gruppen zu den Schauplätzen der | |
friedlichen Revolution führt. Im dreißigsten Jahr nach dem Mauerfall hat er | |
zu tun. Doch inzwischen sind die Erinnerungen an Unrecht und Repression | |
verblasst. Das Herrische der ehemaligen Stasi-Bezirkszentrale, eine | |
Betonburg mitten in Leipzig, spürt längst nicht mehr jeder. | |
Stattdessen wuchern Mythen. „Herr Müller, heute müssen wir dem danken, in | |
dessen Namen wir damals unterwegs waren.“ Ein stadtbekannter Kirchenmann | |
hatte Rainer unter den Gästen zum Festakt anlässlich der | |
Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989 entdeckt. Als wäre es der Herrgott | |
persönlich gewesen, der die „bewaffneten Organe“ zum Rückzug zwang, nicht | |
die Übermacht der Demonstranten. Ohne die Leipziger Gruppen mit ihrem | |
Netzwerk in andere Städte der DDR und nach Ostmitteleuropa, ohne die | |
Kontakte zu Westjournalisten, die via ARD, ZDF und Deutschlandfunk die | |
DDR-Wohnzimmer mit Informationen versorgten, ohne die Friedensgebete, von | |
Gruppen gestaltet, kein „Wunder von Leipzig“. Erst recht kein Wunder der | |
Kirche. | |
## Kontakte zur Charta 77 | |
Auf dem Büchertisch in der Nikolaikirche liegen die Erinnerungen des | |
damaligen Gemeindepfarrers. „Die Revolution, die aus der Kirche kam“ steht | |
auf dem Deckel. Rainer lacht. Hier in der Kirche haben wir, teils | |
gemeinsam, teils in verschiedenen Gruppen, seit 1987 die Friedensgebete | |
mitgestaltet. Auf der Empore hatte Rainer gegen den Willen des Pfarrers ein | |
Plakat mit der Forderung aufgehängt, Václav Havel freizulassen. Havel war | |
Anfang 1989 wegen „Rowdytums“ verurteilt worden. Am Ende des Jahres wurde | |
der Dramatiker und Dissident in Prag zum Staatspräsidenten gewählt. Unter | |
Havel kamen Leute der Charta 77 in hohe Ämter. Rainer hatte Tschechisch | |
gelernt und Kontakt zu den Dissidenten gehalten. Mit vielen war er | |
persönlich bekannt. | |
Wenn Rainer darüber spricht, klingt Verwunderung durch. In Prag, nicht in | |
Bonn, wurden Bürgerrechtler zu Gestaltern. Im Grunde endete ihre Ära mit | |
dem Mauerfall. „Helmut, rette uns!“, flehten Demonstranten den Kanzler aus | |
Bonn an, als er kurz vor Weihnachten 1989 in Dresden sprach. | |
Bürgerrechtler, die für Basisdemokratie warben, hatten ausgedient. | |
Über die Leipziger Montagsdemonstranten ließen Bonner Parteizentralen | |
schwarz-rot-goldene Aufkleber und Flugblätter über die soziale | |
Marktwirtschaft schneien. Neue Akteure schoben sich vor. Im Dezember 1989 | |
meldete sich in Berlin die Physikerin Angela Merkel beim Demokratischen | |
Aufbruch, eine der neuen politischen Gruppen. Gut ein Jahr später wurde sie | |
in Bonn, schon mit CDU-Parteibuch, als Bundesministerin vereidigt. | |
## „Wir waren die Türöffner“ | |
„Wir haben in der Wendezeit die Türöffner gespielt, andere sind | |
hindurchgegangen“, hatte Hans-Jochen Tschiche später bemerkt. Tschiche, | |
einer der profiliertesten Bürgerrechtler, kritisierte den | |
„Runden-Tisch-Komplex“ seiner Bewegung und die Skrupel, im entscheidenden | |
Moment nach der Macht zu greifen. Er selbst tat es als Grünen-Fraktionschef | |
und fädelte 1994 in Sachsen-Anhalt die Minderheitsregierung von SPD und | |
Grünen mit der PDS ein. 2015 ist Tschiche gestorben. Sein Nachlass findet | |
sich im Robert-Havemann-Archiv Berlin, wo inzwischen Akten von über 70 | |
Frauen und Männern der DDR-Opposition lagern, darunter Nachlässe von Bärbel | |
Bohley, Jürgen Fuchs und „Eddi“ Stapel. | |
Rainer, Jahrgang 1966, ist einer der jüngeren Bürgerrechtler. Er beginnt | |
1990 Geschichte und Archivwissenschaft zu studieren, wird Vater von vier | |
Kindern, ist bei der Gründung eines Stadtteilvereins und eines Archivs der | |
Bürgerbewegung mit dabei und berät Kriegsdienstverweigerer. Die Wege der | |
Frauen und Männer aus der Mariannenstraße und ihrem Umfeld trennen sich. | |
Eine Rebellin beginnt zu malen, inzwischen hat sie in Florenz und Houston | |
ausgestellt. Einer der Widerständler studiert Jura und gründet eine | |
Anwaltskanzlei. Ein anderer kämpft später gegen Hartz IV. Alle drei | |
studierten einmal am Theologischen Seminar. | |
Rainer unterzeichnet im Oktober 2015 einen offenen Brief an Angela Merkel. | |
„Wir unterstützen Ihre Politik der offenen Grenzen“, heißt es in dem | |
Schreiben von 47 Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtlern, das Merkel den | |
Rücken stärkt. Das Presseecho bleibt überschaubar. Die Deutsche Welle und | |
die Leipziger Volkszeitung berichten. Wenn hingegen die einstige | |
Dissidentin Vera Lengsfeld Merkels Flüchtlingspolitik geißelt und vor | |
„illegaler Masseneinwanderung“ warnt, sind ihr Schlagzeilen gewiss. | |
„DDR-Bürgerrechtler auf rechten Abwegen“ heißt es dann. | |
## Bürgerrechtler ohne Lobby | |
In Wahrheit sind die Bürgerrechtler auf dem Rückzug. Es ist bemerkenswert, | |
dass ausgerechnet im Jubiläumsjahr der Revolution der Bundestag beschloss, | |
die Stasi-Unterlagenbehörde aufzulösen und die Akten ins Bundesarchiv zu | |
überführen. Das dauerhaft zu verhindern, war 1990 eine Kernforderung der | |
Bürgerbewegung. | |
Das Treffen „DDR-Opposition damals und heute“ verlief, so sagt Rainer, in | |
übersichtlichen Bahnen. Kaum mehr als 20 Frauen und Männer waren | |
erschienen. Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums und 1994 Kandidat der | |
Bündnisgrünen bei der Wahl des Bundespräsidenten, gab einen Rückblick. Der | |
Ausblick fiel kürzer aus. Ein Bürgerrechtler aus Sachsen erzählte, dass er | |
bei Pegida-Aufmärschen in Dresden regelmäßig ein Plakat hochhalte: „Asyl | |
ist Menschenrecht“. Angegriffen worden sei er bisher noch nicht. Mit 72 | |
Jahren ist er wieder das, was er war – Dissident. | |
Und Rainer? Er hält die Erinnerung an die Revolution, die unser Land | |
umpflügte, wach. Am 2. November trat er wieder als Zeitzeuge auf, in | |
Brandenburg an der Havel. | |
9 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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