# taz.de -- Die DDR im Geschichtsunterricht: Eine deutsche Geschichte | |
> Heute braucht es für Schüler*innen in Ostdeutschland Anlässe, um über die | |
> DDR zu sprechen. Doch es zeigt sich: Es ist auch ihre Historie. | |
Bild: Die 10d vor der Geschichtsstunde | |
SCHWEDT taz | „Ich finde es schwierig, mir ein eigenes Bild zu machen“, | |
sagt Lene Schwarz. „Die einen fanden die DDR voll gut, andere fanden sie | |
total scheiße.“ Die 15-Jährige trägt ihr braunes Haar zurückgebunden. Wenn | |
sie lächelt, kann man ihre Augen nicht mehr durch die dicht getuschten | |
schwarzen Wimpern sehen. Sie sitzt hinten an der Tür in einer Gruppe | |
Mädchen, mittendrin ein groß gewachsener Junge im schwarzen Hoodie. Auf | |
diesen Bänken sitzen die Coolen – so viel ist klar. | |
Es ist viertel zehn am ersten Schultag nach den Herbstferien. Der Boden des | |
Klassenraums ist frisch gebohnert, an der lachsfarben gestrichenen Wand | |
hängt statt der grünen Schultafel ein kleineres Smartboard. „Mephisto | |
arrangiert ein Doppeldate“, steht darauf. Deutschunterricht in der 10d. | |
Alle haben braune Lesehefte auf ihren Plätzen, aus denen heute die | |
Gartenszene aus Goethes „Faust“ gelesen werden soll. Faust und Gretchen | |
sind sich bereits begegnet, konnten sich jedoch nicht richtig kennenlernen. | |
Das soll sich nun ändern. | |
Eine große Frau steht am Lehrertisch und sortiert Unterlagen. Velia | |
Schumann ist seit August 1989 Lehrerin für Deutsch und Geschichte am | |
Gauß-Gymnasium in Schwedt an der Oder. Damals hieß die Schule noch | |
Erweiterte Oberschule. Der Bau ist inzwischen sonnengelb verputzt, doch in | |
seiner Starrheit scheint der Ostschulbau noch immer grau-braun. | |
Die Schule steht im Zentrum der Stadt, zwischen viergeschossigen | |
Wohnblöcken. Schumann begann hier damals in einem Land zu lehren, das schon | |
kurz darauf zum Inhalt ihrer eigenen Geschichtsstunden wurde. Was lange | |
Zeit präsent war, beginnt nun allmählich zu verblassen. „Es muss inzwischen | |
einen Anlass geben, um über die DDR zu sprechen“, sagt Schumann. | |
## Sie wollen darüber reden | |
„Ich hab nicht das Gefühl, dass es weg gedrängt wurde, aber auch nicht das | |
Gefühl, dass man unbedingt drüber reden müsste“, sagt die Schülerin Sophie | |
Kautz. Doch die Schüler*innen möchten darüber reden. Velia Schumann lässt | |
an diesem Morgen Goethe links liegen, um über das Filmprojekt mit dem Namen | |
#momentmal zu sprechen. | |
Anfang Mai hatte sie ihre Klasse in einer Projektwoche angeregt, fünf | |
Kurzfilme zum Thema 30 Jahre Wiedervereinigung zu machen. Das Land | |
Brandenburg förderte das Projekt, in dem Schüler*innen Schwedter | |
Zeitzeug*innen gesucht, befragt, gefilmt und das Material mit Hilfe der | |
Medienwerkstatt Potsdam geschnitten haben. Durch die Arbeit haben sich die | |
Schüler*innen mit dem Leben in der DDR auseinandergesetzt, aber auch mit | |
ihrer eigenen ostdeutschen Erfahrung. | |
Zu Hause blieb die Auseinandersetzung zuvor größtenteils aus. „Ich | |
persönlich rede da mit meinen Eltern nie drüber. Ich kenne das nur von | |
meiner Oma oder Uroma. Wenn man da mal zum Kaffeetrinken ist, erzählt sie | |
irgendwas“, sagt Sophie Kautz zur Klasse. Sie lehnt sich dabei über die | |
Stuhllehne in den Raum, erntet Zustimmung. „Damals, 55 …“, ahmt sie nach | |
und bringt alle zum Lachen. Die 16-Jährige ist Schauspielerin am | |
Städtischen Theater, das heute vor allem für seine Inszenierung des „Faust�… | |
bekannt ist. | |
## Goethes „Faust“ muss warten | |
Laut Lehrplan hätten sich die Schüler*innen noch nicht mit dem Thema DDR | |
beschäftigt. Bis zum Ende des Schuljahres aber sollen sie das politische | |
System, die Wirtschaft, den Alltag in der DDR und die Wiedervereinigung in | |
zehn Schulstunden abgehandelt haben. Deswegen möchte Frau Schumann über das | |
Filmprojekt einen Bogen von der Geschichte der DDR in den Alltag im Osten | |
spannen. | |
Sie will zeigen, dass die DDR „mehr als nur Stasi und SED war, viel mehr“, | |
sagt sie. Menschen seien durchaus auch glücklich gewesen, hätten | |
zusammengehalten. Man müsse dabei aber mitdenken, dass es eine Diktatur | |
gewesen sei. „Ich mag kein Schwarz-Weiß-Denken. Es wird in den Medien immer | |
wieder gesagt, wie die DDR angeblich gewesen sei. Es gab auch ganz viele | |
Grautöne und das sollte in den Mittelpunkt gerückt werden“, sagt sie. | |
Schumanns Vorhaben ist kein leichtes. | |
Da ist die wenige Zeit im Lehrplan, aber auch eine Unsicherheit in der | |
Unterrichtsführung. „Wir sind gebrieft worden, in welchem Stile wir das | |
unterrichten sollen“, sagt Schumann. Für subjektive Ansichten und | |
Erfahrungen sei eigentlich kein Platz. Doch auch wenn sie weiß, dass man | |
sich als Zeitzeug*in manchmal auf „vermintes Gelände“ begebe, hält es sie | |
nicht davon ab, offen mit den Jugendlichen zu sprechen. Wenn sie erklärt, | |
in welche Grauzone sie sich damit begibt, zieht sie ihr Kinn leicht zur | |
Brust, neigt den Kopf und schaut über ihre randlose Brille. Sie wird nie | |
konkret. Ihre schmalen Lippen lächeln dann schräg. | |
Lene Schwarz hat für ihren Film „mums“ ihre Mutter als Zeitzeugin befragt. | |
Viele der Eltern der Klasse steckten zur Wendezeit noch in ihren Schul- | |
oder Berufsbildungswegen. Sie mussten ihr Leben in einem Land aufbauen, das | |
plötzlich ganz anders und von Brüchen geprägt war. Der Film von Schwarz | |
springt zwischen Portraitaufnahmen und Stop-Motion. Zwei der vier Mütter | |
wollen ihr Gesicht nicht zeigen, wenn sie von einer Zeit erzählen, die sie | |
als „bedrohlich“, „unsicher“ und „radikal“ beschreiben. | |
## Was von der DDR geblieben ist | |
Schwedt ist eine ostdeutsche Planstadt. Anfang der 60er Jahre bauten vor | |
allem sächsische Montagearbeiter zuerst eine Erdölraffinerie, dann eine | |
Schuhfabrik und schließlich eine Stadt. Inzwischen sind die | |
zehngeschossigen Wohnkomplexe der Arbeiter*innen dem Erdboden | |
gleichgemacht. Wo einst 55.000 Menschen lebten, waren es zu Tiefstzeiten | |
nur noch 30.000. | |
Der Altersdurchschnitt stieg, die Anzahl der Schulen sank. Viele der | |
übrigen Plattenwohnungen wurden altersgerecht umgebaut, einige Stockwerke | |
abgetragen. Die Zurückgebliebenen haben Eigenheime gebaut. Die Stadt ist | |
heute flach, bunt angemalt und zieht sich scheinbar endlos in die Länge. An | |
die DDR erinnert heute nur noch wenig. Äußerlich. | |
„Bei den Dreharbeiten hatte ich das Gefühl, dass sich meine Mutter zum | |
ersten Mal wirklich erinnert, wirklich drüber nachgedacht hat“, sagt Lene | |
Schwarz in der Unterrichtsstunde. Sie ist Mitte der 2000er geboren, als | |
viele Spuren der DDR bereits verwischt waren. „Gibt es außer der Simmi in | |
Opas Garage noch welche?“, will Frau Schumann von den Schüler*innen wissen. | |
Simmi, der in der DDR gängige Spitzname für Simson-Mopeds. | |
Als erstes antwortet Sophie Kautz: „Wenn ich mit Bekannten aus dem Westen | |
rede, dann haben die ganz andere Familientraditionen“ – „Zum Beispiel?“… | |
„Süßsaure Eier gibt’s im Westen mit weißer Soße, hier mit brauner.“ Es | |
bricht eine Diskussion aus, in der alle durcheinander rufen. Etwa ob | |
Rotkohl typisch ostdeutsch sei, Nudossi besser schmecke als Nutella. „Uäh, | |
nee“. Die Meinungen gehen weit auseinander. | |
## Sie sehen keine Chancengleichheit | |
Auf die Frage, ob sie denn die gleichen Chancen hätten, reagieren sie | |
unisono: „Nein.“ „Beim Schulvergleich ist Berlin-Brandenburg immer ganz | |
hinten. Dafür kann ich doch nichts und trotzdem wird man mit runtergemacht, | |
auch wenn man sein Bestes gibt“, sagt Lene Schwarz. Die Klasse wird still. | |
Sophie Kautz ergänzt: „Es gibt ja auch das Bild des dummen Ossis. Ich | |
glaube schon, dass einen ein paar Leute im Westen nicht richtig ernst | |
nehmen würden und sagen würden‚ wir haben hier unsere eigenen Leute, geh | |
mal wieder zurück.“ Es ist ein Gefühl, für das sie und auch die anderen | |
Schüler*innen keine erklärenden Worte finden. | |
Was für Klischees hängen denn am Ossi? Und wie ist der Wessi? Bei diesen | |
Fragen sprudelt es aus den Schüler*innen heraus: „Für den Ossi ist | |
Zusammenhalt wichtig“, sagt Sophie Kautz. „Der Ossi ist familiär und | |
heimatverbunden.“ „Na der verträgt mehr Alkohol!“, raunt es aus | |
verschiedenen Ecken. „Wenn einer nicht so viel verträgt, dann sagt man: Der | |
hat ’ne Wessileber!“, ruft der Junge im Hoodie von hinten, worauf hin die | |
anderen feixen. Er bemerkt aber auch „den Hang zu rechten Parteien“. | |
„Die Vorurteile von Ossi und Wessi – zum Teil stimmt das schon“, sagt Marc | |
Perusinska von der Fensterseite. „Mein Onkel ist eingefleischter Wessi. Er | |
kam vor Kurzem das erste Mal her. Da hat man schon gemerkt, dass er seine | |
Komfortzone verlässt“, sagt ein anderer. Dieser sei sich zu fein gewesen, | |
um in der polnischen Nachbarstadt zu tanken. | |
„Mein Papa ist Wessi. Wenn meine Eltern sich streiten, wird Ossi und Wessi | |
oft als Beleidigung genommen“, erzählt ein blondes Mädchen von der anderen | |
Seite, woraufhin es „ey, du Ossi“ aus dem ganzen Raum raunt. Ein dritter | |
Junge wirft ein, er habe in einer Zeitung gelesen, dass im Westen mehr | |
Frauen bereit wären, zu Hause zu bleiben. Und wie sieht es im eigenen | |
Zuhause aus? | |
## Der eigene ostdeutsche Weg | |
Tatsächlich zeigen Handmeldungen: Nur eine der Mütter in der Klasse geht | |
keiner Lohnarbeit nach – nur ein Elternteil der 23 Jugendlichen aus dem | |
Westen. Aus Syrien kommen zwei. Auf die Frage, wer westdeutsche | |
Freund*innen hätte meldet sich: niemand. | |
Am Ende des Filmes „mums“ von Lene Schwarz, Sophie Kautz und | |
Klassenkamerad*innen heißt es: „Wir finden, dass man über die DDR | |
informieren sollte. Sonst würde unsere Generation und all die, die danach | |
kommen, gar nicht wissen, warum wir so sind, wie wir sind. Jetzt haben wir | |
die Möglichkeit unseren eigenen Weg zu gehen und unseren Herzen zu folgen. | |
Das haben wir nur auf Grundlage unserer Geschichte.“ | |
Zum 30. Jahrestag werden die Filme der Schüler*innen im Stadtmuseum, dann | |
in der Schule gezeigt und vielleicht weitere Auseinandersetzungen anstoßen. | |
„Dass ich erkenne, was die Welt / im Innersten zusammenhält, / Schau’ alle | |
Wirkenskraft und Samen, / Und tu nicht mehr in Worten kramen“, wird Faust | |
später sagen, wenn er vor Gretchens Türe steht. | |
6 Nov 2019 | |
## AUTOREN | |
Pia Stendera | |
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