| # taz.de -- DDR-Geschichte in der Nachwendezeit: Die Leerstelle im Unterricht | |
| > Die DDR ist Geschichte. An vielen ostdeutschen Schulen verschwand für | |
| > einige Zeit der Unterricht über das Land. Warum? | |
| Bild: Heute zählt die Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte in Grevesmühl… | |
| Grevesmühlen/Hamburg taz | Drei Wandkarten und eine Digitaltafel stehen im | |
| Klassenraum. Die eine Karte zeigt „Deutschland von der Teilung bis zur | |
| Wiedervereinigung“. Die andere: „Europa nach dem Ersten Weltkrieg“. Die | |
| dritte „Europa nach dem Zweiten Weltkrieg“. „17. Juni 1953“ steht fett … | |
| der digitalen Tafel. Dass auf der dritten Karte die innerdeutsche Grenze zu | |
| sehen ist, ist kein Zufall. | |
| Im 30. Jahr nach der friedlichen Revolution geht es im Geschichtskurs der | |
| 11. Klasse am Gymnasiums am Tannenberg in Grevesmühlen um die DDR. Die etwa | |
| 20 Schülerinnen und Schüler kommen aus der kleinen Stadt und ihrer Umgebung | |
| im Nordwesten Mecklenburg-Vorpommerns. Die frühere innerdeutsche Grenze ist | |
| nicht weit: etwa 40 Kilometer sind es bis Schlagsdorf, ein paar weniger bis | |
| Herrenburg, kurz vor Lübeck. | |
| Reik Unger, 34, trägt ein weißes T-Shirt, blaue Chino Pants, | |
| Kurzhaarschnitt. Der Geschichtslehrer will an diesem grauen Herbstmorgen | |
| von seinen Kursteilnehmern wissen, welche Chancen die Menschen nach der | |
| Niederschlagung des Arbeiteraufstands am 17. Juni 1953 in der DDR hatten. | |
| Auf seine Frage folgt Schweigen. Unger hakt nach: „Die Ziele der | |
| Protestbewegung wurden nicht umgesetzt. Welche Möglichkeiten hatten die | |
| Bürger in der DDR? Was konnten die machen?“ | |
| Ron, 17, sitzt ganz vorne in der ersten Reihe. „Sie haben eigentlich nicht | |
| so viele Möglichkeiten, sie können höchstens friedlichen Protest gegen das | |
| System machen. Ansonsten … viel bleibt ja nicht. Republikflucht | |
| vielleicht.“ Unger fordert ihn auf: „Republikflucht, das musst du noch mal | |
| erläutern.“ Ron hat eine Beschreibung parat: „Also, ‚Republikflucht‘ h… | |
| wenn man aus dem Land flieht. Also das, was die gemacht haben, als die alle | |
| abgehauen sind.“ Unger will darauf hinaus, warum Menschen fliehen. Er | |
| spielt ein Video ab, in dem ein Mann sehr lange darauf warten muss, bis er | |
| nach Paris reisen darf – nämlich bis nach der Wende. | |
| ## „Maximal drei Stunden“ | |
| Die Autorin dieses Textes hat auch einmal an diesem Gymnasium gelernt. Bis | |
| kurz nach der Jahrtausendwende saß sie auf einem der grauen Stühle mit | |
| mint-türkisfarbenem Rahmen, wie sie auch heute noch in jedem Klassenraum | |
| stehen. Sie kann sich daran erinnern, dass die Geschichte der DDR damals | |
| nur eine sehr geringe Rolle im Unterricht gespielt hat, wenn überhaupt. | |
| Höchstens eine Woche wurde das Thema behandelt, vielleicht aber auch gar | |
| nicht. Eine kleine Umfrage im Freundeskreis aus der Schulzeit ergibt, dass | |
| auch die Mitschüler fast nichts über den Staat erfahren haben, in den zwar | |
| alle noch hineingeboren wurden, an den sie sich aber kaum mehr erinnern | |
| können. „Maximal drei Stunden“ habe es zu dem Thema gegeben, meint eine | |
| Freundin. Ein anderer antwortet, damals habe der Lehrer erklärt, der | |
| Lehrplan gebe einen Unterricht dazu nicht her. Ein weiterer berichtet, auch | |
| seine Eltern hätten mit ihm nicht über das Thema geredet. | |
| Das Schulgebäude hat auf der einen Seite eine braunrote Backsteinfassade, | |
| auf der anderen Seite ist es weiß gestrichen. Im Eingangsbereich hängen | |
| Poster für den Klimastreik auf aufgestellten Pinnwänden, daneben | |
| Konzertflyer. Innen, rechts neben der Eingangstür befindet sich seit | |
| einiger Zeit eine kleine Gedenktafel; sie ist Arno Esch gewidmet. Esch war | |
| ein Liberaler, der 1951 vom sowjetischen Militärtribunal verurteilt, in | |
| die Sowjetunion verschleppt und im Alter von 23 Jahren in der Nähe von | |
| Moskau erschossen wurde. Er hatte in Grevesmühlen 1946 sein Abitur gemacht. | |
| Wieso wurde in der Wendezeit so wenig über die DDR gelehrt? Brunhilde | |
| Drewes hat sowohl vor als auch nach der Wende als Geschichtslehrerin | |
| gearbeitet, auch damals, als die Autorin in Grevesmühlen zur Schule ging. | |
| In Erinnerung sind die Jahreszahlen geblieben, die es damals auswendig zu | |
| lernen galt. Heute ist Drewes schon fast Mitte 60, sie wird bald in Rente | |
| gehen. | |
| Als die Tür aufgeht, lächelt sie. Ein roter Brillenrand blitzt über ihren | |
| Augen. Wie hat sie ihre Rolle als Lehrerin in der DDR wahrgenommen? | |
| Die Frage beantwortet Drewes nicht direkt, sie holt weit aus. Schon bei | |
| Studienbeginn sei sie aufgefordert worden, aus der Kirche auszutreten, mit | |
| Exmatrikulation sei ihr gedroht worden. Sind Sie ausgetreten?„Ja, wir sind | |
| alle ausgetreten.“ | |
| Und wie war das als Lehrerin? „Es gab ein Geschichtsbuch, das die Grundlage | |
| des Unterrichts war. Es gab einen Lehrplan, der die Grundlage des | |
| Unterrichts war. Und es gab eine Schulinspektion, die darüber wachte, dass | |
| wir das auch machten“, sagt Drewes, mit Betonung auf „ein“, und „eine�… | |
| Drewes sagt aber auch: „Nicht jeder sollte sich heute als | |
| Widerstandskämpfer betrachten in der Zeit.“ Man hatte sich eingerichtet im | |
| System. „Jetzt habe ich meinen Ehrgeiz dareingesetzt, meinen Schülern die | |
| Möglichkeit zu geben, dass sie das System an sich auch verstehen.“ | |
| Als es um die Vermittlung der DDR-Geschichte in der Nachwendezeit geht, | |
| nimmt Drewes die Antwort vorweg. Unterrichtet worden sei „fast nichts“. Sie | |
| spricht von neuen Fakten, neuen Perspektiven, dass sich die Lehrer erst | |
| einmal neues Wissen hätten aneignen müssen, aber auch von unzuverlässigem | |
| Material, veralteten „neuen“ Lehrbüchern aus der Bundesrepublik. Es habe | |
| gegeben: die Sicht der DDR und die Sicht der BRD auf einige Aspekte der | |
| DDR, sagt sie. Nur das Leben der Menschen habe kaum eine Rolle gespielt. | |
| „Dann trifft das auf das eigene Erleben der Eltern, der Großeltern, die | |
| sagen: Ah, wenn ich das jetzt höre …, bestimmte Dinge fanden wir gut.“ | |
| „Ich denke, dass Sie zu einem der Jahrgänge zählen, die fast in ein Vakuum | |
| gefallen sind“, sagt Drewes. Persönliche Betroffenheit, noch dazu Mangel an | |
| Bereitschaft, Materialfragen: „da kommen viele Faktoren zusammen, warum das | |
| so kurz und knapp gehalten wurde.“ Heute hingegen müsse man als Zeitzeuge | |
| wirklich aufpassen, dass man den Mund aufmacht, weil die Zeit zu sehr | |
| verklärt werde. | |
| ## Nicht darüber geredet | |
| Sebastian, Mitte 30, ist der, der mit seinen Eltern nicht über die DDR | |
| reden konnte. Er war Schüler am Gymnasium in Grevesmühlen, seinen Nachnamen | |
| möchte er nicht veröffentlicht sehen. Heute arbeitet Sebastian als | |
| Projektmanager in einem Unternehmen in Hamburg und lebt dort mit seiner | |
| Freundin zusammen. Wir sitzen in seiner schmalen Küche. Sebastian ist ein | |
| unaufgeregter Typ: gepflegter Fassonhaarschnitt, Baumwollhemd, Jeans. Er | |
| überlegt, bevor er eine Antwort gibt, und korrigiert sich manchmal, wenn | |
| ihm eine Formulierung im Nachhinein nicht passend erscheint. Er sagt, er | |
| habe es bisher immer als selbstverständlich betrachtet, in einer Demokratie | |
| zu leben. | |
| Sebastian erzählt, dass er mit seinen Eltern nie darüber geredet habe, wie | |
| sie die Zeit vor der Wende wahrgenommen haben. Er berichtet von einem | |
| Schlüsselerlebnis, das er erst vor Kurzem hatte: Er habe seiner Mutter von | |
| seinem vorsichtigen Verhalten erzählt, das er zeige, wenn er in eine neue | |
| Gruppe komme. Seine Mutter, Psychologin, habe festgestellt: „Du bist ja | |
| auch ein Wendekind.“ Er sei von dieser Antwort überrascht gewesen. „Und ich | |
| hab’s nicht so richtig verstanden. Warum ist das jetzt ein Wendekind? Was | |
| hat das jetzt damit zu tun?“, überlegt er am Küchentisch. | |
| Dass die jüngste Vergangenheit kein Unterrichtsthema in seiner Schulzeit | |
| war, habe er damals gar nicht bemerkt. Aber ihm ist aufgefallen, dass er in | |
| den ersten Schuljahren noch einen Atlas hatte, in dem die innerdeutsche | |
| Grenze eingezeichnet war. | |
| Im Gymnasium von Grevesmühlen steht eine Wand mit Malereien der | |
| Schüler*innen. Einen Gang weiter, nun im Lehrertrakt, hängen hinter einem | |
| Aquarium zwei große symbolische Schlüssel, darauf die Eckdaten der | |
| Schulgeschichte. Auf dem oberen steht: „12.06.1994 1. Bauabschnitt | |
| Gymnasium am Tannenberg“. Auf dem zweiten: „01.09.1961 Einweihung der POS | |
| Am Tannenberg“. POS ist die Abkürzung für „Polytechnische Oberschule“, … | |
| war die DDR-Bezeichnung für das, was heute etwa die Realschule oder die | |
| Gesamtschule ist, also die Schule bis zur 10. Klasse. Der Name, den die POS | |
| von 1962 bis zum Umbau des Schulsystems ab 1990 trug, steht dort nicht: | |
| „Peter Göring“. Der DDR-Grenzer war 1962 von einem Westberliner Polizisten | |
| erschossen worden, als er selbst auf den 14-jährigen Flüchtling Wilfried | |
| Tews feuerte, der nach Westberlin fliehen wollte. In der DDR-Erzählung | |
| wurde der fliehende Junge einfach weggelassen. | |
| Bei der Frage nach weiteren Eckdaten der Schulgeschichte entsteht im | |
| Sekretariat zunächst Rätselraten. Auch die Direktorin des Gymnasiums weiß | |
| nicht auf Anhieb, was genau vor der Wende war, dafür aber, welche Erfolge | |
| die Schule heute vorweisen kann: Mint-Exzellenz-Schule, Bundesrunde der | |
| Mathematik-Olympiade, Schule ohne Rassismus, Jugend debattiert; man sei | |
| auch Seminar- und Ausbildungsschule, zählt Andrea Großmann in ihrem Büro | |
| auf. Sie macht einen Geschichtslehrer ausfindig, der mit seiner Klasse der | |
| Schulgeschichte nachgegangen ist. Dieser erzählt, er sei zufällig auf das | |
| Thema gekommen: An einem Regentag sei ihm ein Gedenkstein aufgefallen, der | |
| Name „Peter Göring“ war bereits entfernt. Der Stein liegt noch heute | |
| umgekippt vor einem Schuppen auf dem Grundstück des Gymnasiums. | |
| Belastbare Daten, ob und wie nach der Wende DDR-Geschichte in den | |
| ehemaligen DDR-Schulen unterrichtet wurde und wird, gibt es nicht. Immerhin | |
| findet sich das Thema „Zeitgeschichte nach 1945“ mittlerweile in den | |
| Rahmenlehrplänen aller deutschen Bundesländer. Das war in der Wendezeit | |
| noch anders. In Mecklenburg-Vorpommern lief der DDR-Bezug im Rahmenplan für | |
| das Gymnasium 1991 vor allem unter „Ergänzende Themen“. Erst ab 1998 fand | |
| er in die Abiturthemen Aufnahme. Eine vergleichende Lehrplananalyse der | |
| Stiftung Aufarbeitung kommt 2004 noch zu dem Schluss, dass in den meisten | |
| Bundesländern das SED-System nur in wenigen Fällen eine geschlossene | |
| Darstellung erfahre. Von Repressionen würden Schüler nur selten erfahren | |
| und auch Gesellschaftsgeschichte werde nicht ausreichend thematisiert. | |
| Ulrich Bongertmann war an den frühen Debatten über DDR-Geschichte im | |
| Unterricht beteiligt. Der 61-jährige ehemalige Vorsitzende des Deutschen | |
| Geschichtslehrerverbands arbeitet für das Institut für Qualitätssicherung | |
| beim Bildungsministerium in Schwerin; dort ist er für die | |
| Geschichtslehrpläne mitverantwortlich. Er kam einst als „Aufbauhelfer“ nach | |
| der Wende aus Nordrhein-Westfalen hierher. Warum wurde in der | |
| Transformationszeit an manchen Schulen keine DDR-Geschichte gelehrt? | |
| „Die erste Erklärung ist, dass die Lehrer, aus welchen Gründen auch immer, | |
| es nicht geschafft haben und auch keine Vorsorge dafür getroffen haben“, | |
| sagt er am Telefon. Er sagt aber auch: „Generell waren die Lehrer durchaus | |
| staatstreu“. | |
| Der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk, Jahrgang 1967, ist | |
| Ostberliner. Er war Mitglied der Enquetekommission „Überwindung der Folgen | |
| der SED-Diktatur im Prozess der Deutschen Einheit“. Kowalczuk erklärt, mit | |
| der Wende sei das gesamte Geschichtsbild der Lehrerinnen und Lehrer in der | |
| DDR in sich zusammengebrochen. Das Studium sei hochgradig ideologisiert | |
| gewesen. Zwar sei nicht jeder einzelne Lehrer oder jede einzelne Lehrerin | |
| in Geschichte, Deutsch, Geografie oder Staatsbürgerkunde vom System | |
| hundertprozentig überzeugt gewesen. Umsetzen mussten sie die Staatslehre | |
| aber schon. | |
| Kowalczuk sieht zwei Gründe dafür, warum Lehrer*innen nicht in der Lage | |
| waren, Neues zu unterrichten: „Erstens weil sie es nie gelernt hatten. | |
| Woher sollten sie wissen, was nun falsch und richtig ist? Woher sollten sie | |
| wissen, wie man neue pädagogische Konzepte umsetzt? Woher sollten sie | |
| wissen, dass es jetzt nicht mehr um Wahrheit ging, sondern um | |
| Meinungsbildung?“ | |
| ## „Extrem verunsicherte“ Lehrer | |
| In der DDR seien einem künftigen Pädagogen keine Methoden nähergebracht | |
| worden, sondern Überzeugungen. Und zweitens? Lehrerinnen und Lehrer seien | |
| „auch innerlich extrem verunsichert“ gewesen. Die meisten, vor allem in den | |
| politischen Fächern, seien auch nicht davon überzeugt gewesen, dass | |
| inhaltlich und methodisch anders unterrichtet werden sollte. „Da gab es | |
| unendlich viele Konflikte in den verschiedenen | |
| Landesfortbildungsinstitutionen, in den Lehrerkollektiven, da krachte das | |
| sozusagen an allen Enden und Ecken.“ | |
| Ein großes Versagen der Schulen in den 1990er Jahren im Osten sieht er in | |
| einem anderen Punkt: dass sie es nicht geschafft haben, sich dem | |
| flächendeckenden Rechtsradikalismus entgegenzustellen. | |
| Die Autorin selbst hat vieles, was die Nachwendezeit betrifft, erst später | |
| verstanden. Beispielsweise kann sie sich daran erinnern, dass ihre | |
| Grundschullehrerin weinte, weil Sohn und Mann keine Arbeit mehr hatten. Sie | |
| hat ihr damals ein Buch gemalt. Dass es sich aber um ein flächendeckendes | |
| soziales Phänomen handelte, das hat sie erst viel später so richtig | |
| begriffen. | |
| Der Journalist Johannes Nichelmann fragt [1][in seinem in diesem Jahr | |
| erschienenen Buch „Nachwendekinder“], warum erst jetzt, 30 Jahre nach dem | |
| Mauerfall, die Leerstelle zwischen den Generationen so sichtbar geworden | |
| ist und weshalb die Erzählungen oftmals in Extremen verlaufen: Idyll am | |
| Badesee in der Familie einerseits, der Stasiknast bei den Historikern | |
| andererseits. Das Nachrichtenmagazin Spiegel [2][fiel in diesem Jahr mit | |
| seinem Titel „So isser, der Osten“ durch]. Auf Twitter wird über [3][die | |
| #Baseballschlägerjahre] in den 1990ern diskutiert. Vor einer Veranstaltung | |
| in Grevesmühlen zum Thema Stasi wurden noch in diesem Jahr die | |
| Podiumsteilnehmer vorab in einem anonymen Telefonanruf beschimpft. Die DDR | |
| ist zwar untergegangen, aber noch nicht so ganz weg, auch wenn im nächsten | |
| Jahr „30 Jahre deutsche Einheit“ gefeiert wird. | |
| ## „Umbringen!“ | |
| Zurück zum Geschichtsunterricht der Klasse 11 am Gymnasium Grevesmühlen und | |
| dem Video. „Was wird thematisiert?“, will Lehrer Reik Unger wissen. Ein | |
| paar Hände gehen hoch. „Dass es in der DDR sehr schwierig war, ins Ausland | |
| zu reisen“, sagt Torben, der in der hinteren Reihe sitzt. „Vielleicht, dass | |
| die DDR versucht hat, dass alle Bürger dableiben und nicht die Möglichkeit | |
| bekommen, ins Ausland zu gehen“, ahnt Rieke von weiter vorn. Ron vermutet | |
| „Republikflucht“. „Kann man auch so sehen, richtig“, sagt Unger. | |
| Er hat noch etwas mitgebracht, hält ein paar Blätter in die Höhe, fuchtelt | |
| damit kurz durch die Luft. Es sind Stasiakten, keine Originale, sondern | |
| Unterrichtsmaterial. Gruppenarbeit! Rausfinden, was es für Fluchtgründe | |
| gibt! Plötzlich wird es lauter im Klassenzimmer, alle reden durcheinander. | |
| Eine Schülerin fragt Unger, was operative Maßnahmen seien. Unger sagt: „Das | |
| sind Akten vom Geheimdienst“, und fragt rhetorisch zurück: „Was sind da | |
| operative Maßnahmen?“ Von der Seite kommt die Antwort: „Umbringen!“ Der | |
| Lehrer entgegnet: „Beschatten, abhören, das sind operative Maßnahmen.“ | |
| Interessiert die Klasse das Thema, setzen sie sich damit in Zusammenhang? | |
| Huan findet es schon gut, würde sich aber mehr für asiatische Geschichte | |
| interessieren, sagt er. Lina, die aus Nordrhein-Westfalen kommt, sagt: „Ich | |
| denke, das ist ein wichtiger Teil von der Geschichte, und ich find’s gut, | |
| dass man das hier im Unterricht auch bespricht – auch wenn wir persönlich | |
| uns wahrscheinlich nicht so damit identifizieren können.“ Ein weiterer | |
| Mitschüler vermutet, dass die DDR auch die Kindheit geprägt haben könnte, | |
| durch Erziehung, im Kindergarten, in der Schule. | |
| Am Ende der Stunde gibt Unger eine Hausaufgabe auf: Bei den Großeltern | |
| nachfragen, wie es in der DDR war! Lina ist da wohl schlecht dran. Huan | |
| erzählt, dass sein Opa als Gastarbeiter in die DDR kam und nicht darüber | |
| rede. | |
| Der Lehrer Reik Unger ist in Anklam zur Schule gegangen, ganz im Osten | |
| Mecklenburg-Vorpommerns. Er sagt, er habe als Schüler DDR-Geschichte im | |
| Unterricht gehabt, sein damaliger Lehrer sei aus dem Saarland gekommen. Er | |
| sei sich nicht sicher, ob sich die Schüler*innen in dem Alter heute für das | |
| Thema interessieren. Aber: „Das ist immens wichtig für das Bewusstsein | |
| einer Demokratie.“ | |
| 12 Dec 2019 | |
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| Anna Grieben | |
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