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# taz.de -- Vietnamesische Vertragsarbeiter in DDR: Sie blieben
> Vor 40 Jahren schloss die DDR einen Vertrag mit Hanoi, um vietnamesische
> Arbeiter ins Land zu holen. Ein Stück deutsche Geschichte.
Bild: Geburtstag im Wohnheim – Vertragsarbeiter aus Vietnam in der Unterbring…
Vor 40 Jahren, am 11. April 1980, schlossen die DDR und Vietnam einen
Vertrag über die Entsendung von Vertragsarbeitern. Ende 1989 lebten 60.000
Vertragsarbeiter aus dem südostasiatischen Staat zwischen Elbe und Oder.
Sie waren die größte Einwanderergruppe in der DDR. 16.000 Vietnamesen
blieben nach der Wende. Ab 1990 konnten sie eigene Familien gründen. Wer
allerdings für die Reise in die DDR seine Familie in Vietnam zurückgelassen
hatte, konnte diese meist erst ab 1997 nachholen.
Ähnlich wie für die [1][Gastarbeiter in der alten Bundesrepublik] war der
Einsatz von Vertragsarbeitern in der DDR nur zeitlich befristet vorgesehen.
In der Regel sollten die vietnamesischen Arbeitskräfte vier Jahre bleiben.
Ihre Integration in die DDR-Gesellschaft war nicht vorgesehen. Laut Vertrag
hatten sie in Wohnheimen zu wohnen. Dort standen ihnen lediglich 6
Quadratmeter Wohnraum zu, das Recht, Besuche zu empfangen, war
eingeschränkt.
Einer der Vertragsarbeiter war Dao Quang Winh, der heute bei der
Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und Brandenburg arbeitet. 1987 kam er
18-jährig in die DDR. „Ich hatte gerade Abitur gemacht und wollte unbedingt
ins Ausland, um der Armut in Vietnam zu entkommen,“ sagt er der taz.
Vietnam gehörte gut ein Jahrzehnt nach Kriegsende zu den zehn ärmsten
Staaten weltweit. Den Platz für die Arbeit in der [2][DDR] hatte Winh nach
eigenen Angaben nur durch gute familiäre Kontakte erhalten.
„Am Flughafen Schönefeld wurde unsere Gruppe von 60 Neuankömmlingen
geteilt: Die Hälfte mit den besseren Kontakten durfte in Berlin bleiben,
die anderen mussten nach Guben,“ erinnert er sich. Winh wurde in Berlin im
VEB Herrenbekleidung Fortschritt eingesetzt. Er absolvierte einen
vierwöchigen Deutschkurs. Der Vertrag zwischen der DDR und Vietnam war 1987
geändert worden, so dass nur noch vier Wochen für das Deutschlernen
vorgesehen waren, bei der Verständigung am Arbeitsplatz halfen dann
Dolmetscher. Zuvor lernte man bis zu drei Monate Deutsch und auch eine
berufliche Ausbildung wurde zwischen 1980 und 1986 laut Vertragstext
angestrebt.
## Einnahmequelle für den Staat Vietnam
Das mit der Berufsausbildung hatte sich in der Praxis allerdings nicht
bewährt. Michael Maurer, damals Berufsschullehrer, erinnert sich, dass es
für die Vertragsarbeiter in der Berufsschule nicht einmal Lehrbücher gab.
„Das Papier war knapp in der DDR und da wurden ausgerechnet denen die
Lehrbücher vorenthalten, die sie wegen der Sprachhürde am nötigsten gehabt
hätten. Das konnte nicht funktionieren.“
Die Betriebe hatten auch kein echtes Interesse an einer Ausbildung, denn
die Vertragsarbeiter besetzten ja vor allen Arbeitsplätze für un- und
angelernte Kräfte. In Schlachthöfen etwa, in der Braunkohle oder in der
Textilindustrie. Da hatte die DDR die größten personellen Engpässe.
Auch Vietnam hatte kein echtes Interesse an einer Ausbildung der
Vertragsarbeiter, denn viele Industriezweige, in denen die Frauen und
Männer tätig waren, gab es dort noch gar nicht. Vietnam strebte vielmehr
an, mit der Entsendung von Arbeitskräften in die DDR Geld zu verdienen.
Denn die Einsatzbetriebe überwiesen 12 Prozent des Bruttoeinkommens der
Vietnamesen als „Hilfe zum Wiederaufbau des Landes“ nicht an die
Arbeitskräfte selbst, sondern an die vietnamesische Staatskasse.
Auch die Rentenversicherungsbeiträge und das Kindergeld für die in Vietnam
zurückgelassenen Kinder kassierte der vietnamesische Staat. Nguyen Van
Huong aus dem Büro der Berliner Integrationsbeauftragten hat ausgerechnet,
dass 200 Millionen DDR-Mark auf diese Weise nach Hanoi flossen.
## „Abtreibungen wie am Fließband“
Für die Vertragsarbeiter selbst bestand der Sinn ihrer Arbeit in der DDR
auch vor allem darin, mit dem Geld ihre Familien in Vietnam zu
unterstützen. Weil die Währung der DDR nicht konvertierbar war, mussten
Waren gekauft und nach Vietnam verschifft werden. Der Historiker Mike
Dennis hat ein Dokument einer Brandschutzkontrolle im Wohnheim des VEB
Kindermoden Sangerhausen veröffentlicht, das zeigt, mit welcher
Hartnäckigkeit sie dieses Ziel verfolgten. Laut Protokoll wurden in den
Kellern 36 Mopeds, 112 Fahrräder, Reifen für 230 Fahrräder und für 150
Mopeds sowie große Mengen Waschpulver, Seife, Kerzen und Gewürze gefunden.
Dao Quang Winh beschreibt das Miteinander am Arbeitsplatz als fair. Es
wurde Leistungslohn bezahlt. „Konflikte gab es aber mit deutschen Kollegen,
wenn die Vietnamesen die Normen überboten, dafür mehr Geld bekamen und
schließlich für alle die Normen hochgesetzt wurden.“ Da hätte es schon mal
fremdenfeindliche Äußerungen gegeben, erinnert sich Winh.
Er selbst hatte ein anderes Problem: Seine sehr alte Maschine erlaubte es
ihm nicht, die Norm zu erfüllen. Darum musste er sich nach Feierabend Geld
hinzuverdienen, indem er für DDR-Bürger Jeans nähte. Die waren Mangelware.
„Geholfen hat mir ein neuer Auftrag von Bosch. Wir nähten Anzüge aus gutem
Material und bekamen dafür bessere Maschinen. Von da an habe ich gutes Geld
verdient.“
Wer in die DDR kommen wollte, musste sich auf „gesundheitliche Eignung“
untersuchen lassen. Verstieß man gegen die Arbeitsdisziplin oder wurde man
ernsthaft krank, selbst nach einem Arbeitsunfall, musste man laut
Vertragstext nach Vietnam zurückkehren. Schwangere Vietnamesinnen hatten
bis Februar 1989 die Wahl zwischen Abtreibung und Heimreise. Dao Quang Winh
erinnert sich, dass es unter seinen Kolleginnen „Abtreibungen wie am
Fließband gab. Manche Frauen haben auch mehrmals abgetrieben.“ Etwas wie
sexuelle Aufklärung der oft sehr jungen Männer und Frauen hätte es nicht
gegeben und oft hätte auch nach seiner Darstellung kein
Vertrauensverhältnis zu den Dolmetschern bestanden, um über solche Themen
sprechen zu können.
## Kampf ums Bleiberecht
Die Wende kam für Winh völlig überraschend. „Ich bekam zwar mit, dass
deutsche Kollegen plötzlich nicht mehr zur Arbeit kamen, und es wurde
getuschelt, sie seien über Ungarn in den Westen gegangen, aber die
Zusammenhänge kannte ich nicht.“ Nach der Währungsunion wurden die meisten
Vertragsarbeiter entlassen. Außerhalb Berlins schlossen viele Betriebe die
Wohnheime und nötigten ihre Vertragsarbeiter, mit 3 000 Mark Abfindung nach
Vietnam zurückzukehren. Wer sich widersetzte, wurde obdachlos.
Einige andere kehrten nach Vietnam zurück, weil sie ihre Familien
wiedersehen wollten und glaubten, mit ihren Ersparnissen dort einen
Neustart hinzubekommen. Winh entschied sich, zu bleiben. „Ich wusste aber
nicht einmal, dass mir Arbeitslosengeld zustand“, erinnert er sich. Er habe
es darum gar nicht beantragt, sondern stieg für kurze Zeit in den illegalen
Zigarettenhandel ein.
Nach dem Willen des Einigungsvertrages von 1990 sollten
DDR-Vertragsarbeiter lediglich ein Bleiberecht für die ursprünglich mit der
DDR geschlossenen Vertragszeit erhalten. Für den 1987 eingereisten Winh
endete diese Zeit 1992. Es begannen Jahre, in denen er oft nur für wenige
Wochen eine Duldung erhielt und sich danach erneut bei der Ausländerbehörde
anstellen musste. Eine Woche musste er in Haft verbringen, weil er sich in
einem Bundesland aufgehalten hatte, in das er mit seiner Duldung nicht
fahren durfte. Viele Vertragsarbeiter wurden abgeschoben.
Wirtschaftlich überlebte Winh mit einem Textilstand auf dem Wochenmarkt. Er
beteiligte sich am Kampf um ein Bleiberecht für ehemalige
DDR-Vertragsarbeiter im Verein „Reistrommel“. 1997 lenkten die
Innenminister der Bundesländer ein und sprachen denjenigen
Vertragsarbeitern aus Vietnam, Kuba, Angola und Mosambik, die ihren
Lebensunterhalt selbst verdienten und straffrei waren, ein
Daueraufenthaltsrecht in Deutschland zu.
## Unenedlich flexibel
Winh hatte wie viele seiner Landsleute in Deutschland ein unstetes
Berufsleben. Ab der Jahrtausendwende lohnte sich der einst einträchtige
Handel mit Textilien nicht mehr. Er schulte als Bürokaufmann um. „Während
der Umschulung habe ich vor allem besser Deutsch gelernt. Ich kann seitdem
sicherer auftreten“, schätzt er ein.
Jobs fand er aber nicht in einem Büro, sondern in der Gastronomie. Dabei
war er unendlich flexibel: Er war einige Zeit Koch, dann Restaurantleiter,
hatte schließlich ein eigenes Restaurant, das er wieder aufgab. Er zog für
einen Restaurantjob nach Gelsenkirchen und wieder zurück nach Berlin. Die
Arbeit in der Gastronomie mit einer Siebentagewoche bis nachts um 1 Uhr
hielt er jedoch auf Dauer nicht durch und nahm Bürojobs an, bevor er 2018
bei der Vereinigung der Vietnamesen zu arbeiten begann.
11 Apr 2020
## LINKS
[1] /Gesetz-zur-Arbeitsmigration/!5664073
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## AUTOREN
Marina Mai
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