# taz.de -- Gesetz zur Arbeitsmigration: Willkommen in Deutschland | |
> Vor 65 Jahren begann das CDU-regierte Deutschland, Arbeitskräfte aus dem | |
> Ausland zu holen. Jetzt erst tritt ein mutloses Einwanderungsgesetz in | |
> Kraft. | |
Bild: Türkische Gastarbeiter im BMW-Motorradwerk in den 1970er Jahren in West-… | |
Der Schriftzug klebte im Seitenfenster wie eine fette schwarze Spinne. | |
„Diesen Bus steuert ein Deutscher Fahrer“, in Runenschrift, das „deutsche… | |
mit großem D. Kurz vor Weihnachten 2019 hatte ein Fahrer der Linie 90 der | |
Dresdner Verkehrsbetriebe (DVB) ihn ins Fester geklebt. Es gab wütende | |
Reaktionen. „Ich war erleichtert, dass das keiner von uns war“, sagt heute | |
Kristin Grund, die Personalchefin der DVB. Der Mann arbeitete bei einem | |
Subunternehmen. | |
Er hatte offenbar gelesen, was außerhalb Dresdens kaum jemand wusste: Ein | |
Arbeitsvermittler hatte Grund 20 Fahrer aus Serbien angeboten, mit | |
langjähriger Berufserfahrung bei den Verkehrsbetrieben in Belgrad. | |
„Berufskraftfahrer ist ein Mangelberuf, auch in Sachsen“, sagt sie. Dass | |
keine Wehrpflichtigen mehr den Busschein machen, hat dieses Problem | |
verschärft, ebenso die Verrentung geburtenstarker Jahrgänge. 2030 werden | |
doppelt so viele DVB-MitarbeiterInnen in Rente gehen wie heute. Grund | |
fehlen schon jetzt 30 neue FahrerInnen. | |
Es war absehbar, dass sie sie in Sachsen nicht finden würde. Einst hatten | |
die DVB nur FahrerInnen mit entsprechendem Schein angestellt. Aber weil es | |
immer schwieriger wird, überhaupt Arbeitskräfte zu finden, hat Grund getan, | |
was Arbeitgeber heute im ganzen Land tun: flexibler werden, Anreize | |
schaffen. Heute stellen die DVB auch BewerberInnen ohne Busschein ein – und | |
finanzieren die 6.000 Euro teure Ausbildung. Und seit 2015 helfen die DVB | |
Flüchtlingen auf dem Weg in den Beruf. | |
Doch auch das brachte nicht genug Nachschub. Grund mochte deshalb nicht auf | |
die Serben verzichten, obwohl Serbien „einen Riesenmangel an Busfahrern“ | |
hat. Mitarbeiter der DVB reisten dennoch nach Belgrad, trafen die | |
Kandidaten. „Wir wollten denen eine Perspektive geben“, sagt Grund, die in | |
Dresden Jura studiert hat und seit 2002 bei den DVB arbeitet. „Die sollen | |
Dresdner werden.“ Alle Fahrer wollten auf Dauer nach Dresden kommen. „Viele | |
wollen die Familie nachholen, den Kinder eine gute Ausbildung ermöglichen.“ | |
[1][Etwa 1,4 Millionen Arbeitskräfte werden heute in Deutschland gesucht]. | |
64 Prozent aller Arbeitgeber haben Schwierigkeiten, Fachkräfte zu finden. | |
2018 waren es erst 51 Prozent. „Der Arbeitsmarkt wird zunehmend zu einem | |
Bewerbermarkt, auf dem sich die Fachkräfte ihren Arbeitgeber aussuchen | |
können“, heißt es in einer neuen Studie des Instituts der deutschen | |
Wirtschaft (IW). 2010 war jede vierte Stelle in „Engpassberufen“ – etwa | |
Elektriker, Pflegekräfte, Monteure – ausgeschrieben. Heute sind es vier von | |
fünf. | |
„Das Handwerk leidet doppelt, denn die Industrie zahlt mehr“, sagt Lydia | |
Malin vom IW. Betriebe müssen Aufträge ablehnen. Und selbst wenn mehr | |
Frauen arbeiten als heute, Teilzeitbeschäftigte aufstocken und viele später | |
in Rente gehen, rechnet die Bundesregierung bis 2030 mit 1,7 Millionen | |
Erwerbspersonen weniger als heute. | |
## Das Gesetz ist zu restriktiv | |
Eigentlich soll das bald alles anders werden. Am 1. März tritt [2][das | |
Fachkräfteeinwanderungsgesetz in Kraft], das die Einwanderung von außerhalb | |
der EU ermöglichen soll. „Wir kriegen jetzt endlich, nach über 30 Jahren | |
Debatte in diesem Land, ein modernes Einwanderungsgesetz“, sagte | |
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD). Innenminister Horst Seehofer (CSU) | |
sprach von einer „historischen Weichenstellung“. Doch schon jetzt ist klar, | |
[3][dass das Gesetz zu restriktiv ist]. „Man hat nur das Bestehende etwas | |
weiterentwickelt“, sagt Herbert Brücker vom Institut für empirische | |
Integrations- und Migrationsforschung. „Die zu erwartenden Effekte sind | |
relativ gering.“ | |
Das hat auch Kristin Grund erfahren. Mit dem neuen Gesetz hätte sie ihre 20 | |
serbischen Busfahrer nicht nach Deutschland holen können. Im Sommer gab sie | |
ihnen Arbeitsverträge, um bei der deutschen Botschaft Visa zu beantragen. | |
Das Verfahren dauert meist ein Jahr. „Da kann man als Unternehmen auch | |
nichts beschleunigen“, sagt Grund. Dass ihre Anträge überhaupt bearbeitet | |
werden, liegt daran, dass sie dem neuen Gesetz zuvorgekommen ist. Denn laut | |
diesem kann eine ausgebildete Fachkraft eine Aufenthaltserlaubnis für die | |
Arbeit erhalten, „zu der sie ihre erworbene Qualifikation befähigt“. | |
Was plausibel klingt, schließt viele aus: „Menschen können nur einwandern, | |
wenn ihre Ausbildung gegenüber deutschen Abschlüssen als gleichwertig | |
anerkannt wird. Dahinter steckt die Vorstellung, dass Migranten genauso | |
sein müssten wie deutsche Arbeitnehmer“, sagt der Forscher Brücker. | |
Das sind sie aber nicht: „In Serbien darf man Bus fahren, ohne | |
ausgebildeter Kraftfahrer zu sein“, sagt Grund. „Nach dem neuen Gesetz wäre | |
es gar nicht möglich gewesen, die Busfahrer herzuholen.“ Diese kommen auf | |
Grundlage einer Ausnahmeregelung für die Westbalkanstaaten, die Ende 2020 | |
ausläuft. Eine neue Sonderregelung für Busfahrer ist allerdings in Planung. | |
Dass es in vielen Ländern kaum formalisierte Qualifikationen gibt, ist nur | |
eine der Hürden, die auch künftig den Weg auf den deutschen Arbeitsmarkt | |
versperren. Die Bundesagentur für Arbeit warnt deshalb vor „überzogenen | |
Erwartungen“. Die Hoffnung der Bundesregierung, dass mit dem Gesetz künftig | |
über 25.000 neue Fachkräfte pro Jahr nach Deutschland kommen, sei „ein | |
ambitioniertes Ziel“, sagte der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit, | |
Daniel Terzenbach, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. 25.000 pro Jahr – | |
das ist etwa ein Zehntel dessen, was nötig ist, damit die Zahl der | |
Arbeitskräfte im Land nicht immer weiter schrumpft. Und nicht mal dafür | |
dürfte es reichen. Wenn die Not der Wirtschaft aber so groß ist – warum ist | |
das neue Gesetz dann so restriktiv? | |
## Die Lebenslüge der alten Bundesrepublik | |
Ein wichtiger Teil der Antwort hat mit der Union zu tun. CDU und CSU haben | |
sich unendlich schwer damit getan, sich von der Lebenslüge der alten | |
Bundesrepublik zu lösen: Dass Deutschland „kein Einwanderungsland“ sei. Die | |
schlichte Erkenntnis, dass dauerhafter Wohlstand ohne Migration nicht zu | |
haben ist, mochte die Union viele Jahre weder sich noch ihren WählerInnen | |
zumuten. Der Prozess, sich von dieser Haltung zu lösen, war lang – und ist | |
bis heute nicht endgültig vollzogen. | |
Das ist Ausdruck davon und gleichzeitig einer der Gründe dafür, dass es bis | |
heute, bis in die Tage [4][nach dem Anschlag von Hanau], eine innere | |
Spaltung der Gesellschaft gibt: In die, die dazugehören und jene, denen das | |
abgesprochen wird. Wie sehr die Union noch mit der Einwanderungsfrage | |
hadert, lässt sich an der Mutlosigkeit des Arbeitskräftegesetzes ablesen. | |
Selbst für Menschen, die schon im Land sind, sind kaum großzügige | |
Regelungen enthalten. Das Einwanderungsgesetz, auf das die Union sich | |
letztlich eingelassen hat, ist weniger eine „historische Weichenstellung“ | |
als vielmehr ein ungewolltes Kind. | |
„Einwanderung war tabuisiert“, [5][sagt Rita Süssmuth] über die Jahre, in | |
denen CDU und CSU einst anfingen, über diese Fragen zu sprechen. An einem | |
Februarnachmittag sitzt die Ex-Bundestagspräsidentin in einem roten Blazer | |
im obersten Stockwerk eines Hauses in der Nähe des Brandenburger Tors. Ihr | |
Assistent ist ein junger schwarzer Mann. Sie wolle „das Interview unbedingt | |
machen“, hatte Süssmuths Büroleiterin gesagt. Das Thema sei ihr wichtig. | |
Das Wachstum der 1950er und 1960er Jahre wurde „nicht allein von uns | |
geleistet“, sagt Süssmuth. „Wer hat denn die Gastarbeiter ins Land | |
geholt?“, fragt sie. Es war ihre Partei. 13 Millionen Menschen wurden ab | |
1955 angeworben, die meisten zu Zeiten der CDU-Kanzler Adenauer, Erhard und | |
Kiesinger. „Wir brauchten sie für die Industrie, für die Kohle, den Stahl, | |
die Autos. Das war die Realität“, sagt Süssmuth. Etwa 2,5 Millionen davon | |
blieben nach dem „Anwerbestopp“ 1973 im Land – und holten ihre Familien | |
nach. „Trotzdem ging man davon aus: Wir sind kein Einwanderungsland.“ Und | |
entsprechend habe man sich auch „nicht um die Langzeitprobleme der | |
Integration gekümmert.“ | |
## „Die gehen auch noch nach Hause“ | |
1994, Süssmuth war Bundestagspräsidentin, wies sie auf diesen | |
offensichtlichen Widerspruch hin. Für ein Buch ließ sie sich von Kai | |
Diekmann, damals Politikchef der Bild, interviewen und forderte darin ein | |
Einwanderungsgesetz. „Ich wurde daraufhin vom Fraktionsvorstand | |
einbestellt“, erinnert sich Süssmuth. Das war damals Wolfgang Schäuble, | |
„Ehrenvorsitzender“ war der 2002 gestorbene Hesse Alfred Dregger. | |
„So ein Gesetz brauchen wir überhaupt nicht“, habe Dregger ihr gesagt. | |
Süssmuth habe geantwortet: „Aber wir haben doch die Migranten im Land.“ | |
Darauf Dregger: „Die gehen auch noch nach Hause.“ | |
„Wann denn?“, habe Süssmuth gefragt. | |
„Das werden Sie schon noch sehen“, habe Dregger gesagt. | |
Migration als Unfall: Wenn Menschen im Land blieben, war etwas | |
schiefgegangen und musste korrigiert werden. Das war der Sound in dieser | |
Zeit. Die CDU, das war damals in weiten Teilen die | |
Keine-Einwanderung-Partei. So sah sie sich, und dafür wurde sie gewählt. Es | |
kommt nicht von ungefähr, dass der Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg | |
Maaßen kürzlich sagte: „Ich bin vor 30 Jahren nicht der CDU beigetreten, | |
damit heute 1,8 Millionen Araber nach Deutschland kommen.“ | |
Die rot-grüne Koalition 1998 hingegen versprach eine Wende: Ein modernes | |
Staatsbürgerrecht, besserer Flüchtlingsschutz, Zugangsmöglichkeiten zum | |
deutschen Arbeitsmarkt. | |
Im hessischen Landtagswahlkampf 1999 sammelte der CDUler Roland Koch | |
Unterschriften gegen die doppelte Staatsbürgerschaft. Manfred Kanther, ein | |
Vertrauter Dreggers, sagte im Bundestag, ein Einwanderungsgesetz sei | |
„entweder ein Fehler oder ein Etikettenschwindel“. Edmund Stoiber, zu der | |
Zeit Ministerpräsident Bayerns, sagte, Erleichterungen bei der Einwanderung | |
seien „gegen den Willen von 70 Prozent der Bevölkerung“. Er werde „alles | |
tun, sie zu verhindern“. | |
## Ein hohes Maß an geistiger Verwirrung | |
Heiner Geißler hat seine Erinnerung an eine Sitzung des Fraktionsvorstands | |
von CDU/CSU aufgeschrieben. Bei der brachte er das Grundgesetz ins Spiel, | |
um für die doppelte Staatsbürgerschaft zu werben. Daraufhin sei Kanther | |
aufgestanden und sagte: „Die Verfassung ist fünfzig Jahre alt. Das deutsche | |
Volk ist tausend Jahre alt.“ Daran, so Geißler später, könne man sehen, | |
„welch hohes Maß an geistiger Verwirrung herrschte, als es um die Bewertung | |
der Ausländer- und Einwanderungspolitik ging“. | |
2000 öffnete Rot-Grün den Arbeitsmarkt per „Green Card“ für | |
ProgrammiererInnen. In Nordrhein-Westfalen forderte der CDU-Spitzenkandidat | |
Jürgen Rüttgers daraufhin, statt „Inder an die Computer müssen unsere | |
Kinder an die Computer“. Selbst die stockseriöse Agentur AFP schrieb am 31. | |
Juli 2000 vom „ersten Computer-Inder“, Harianto Wijaya. Bei dem handelte | |
es sich allerdings um einen 25-jährigen Indonesier mit deutscher Ausbildung | |
und „Traumnote 1,0“: „Er lächelt schüchtern, als Arbeitsminister Walter | |
Riester ihm strahlend eine Green Card überreicht.“ Bayerns | |
CSU-Innenminister Günther Beckstein sagte zur Green Card, er wolle, dass | |
„weniger kommen, die uns ausnützen, und mehr, die uns nützen“. | |
Doch Rot-Grün wollte mehr: ein Einwanderungsgesetz. Und das brauchte | |
Akzeptanz, vor allem im CDU-dominierten Bundesrat. Es war Innenminister | |
Otto Schilys Idee, dafür eine überparteiliche „Unabhängige Kommission | |
‚Zuwanderung‘ “ einzusetzen, die das Gesetz vorbereiten sollte. Am 12. | |
September 2000 nahm diese unter dem Vorsitz Rita Süssmuths ihre Arbeit auf. | |
„Angela Merkel, die damals Parteivorsitzende war, hat mich bedrängt, diese | |
Kommission nicht zu übernehmen“, erinnert Süssmuth sich. „Das kann ich | |
nicht verantworten, es geht um unser Land“, habe sie gesagt. Schilys | |
Kommission war nicht gewollt in der Union. Also setzte diese ein eigenes | |
Gremium ein: Die „Präsidiumskommission ‚Zuwanderung und Integration‘ “, | |
geleitet von Saarlands Ministerpräsident Peter Müller und dem | |
Innenpolitiker Wolfgang Bosbach. „Die sollte für die Partei die | |
Gegenargumente aufbauen“, sagt Süssmuth. | |
Ein Mitglied dieser CDU-Kommission war der Adenauer-Stipendiat Bülent | |
Arslan, damals Mitglied des „Deutsch-Türkischen Forums“ in der CDU. „In … | |
Partei und im Präsidium herrschte die Ansicht vor, dass wir kein | |
klassisches Einwanderungsland sind“, sagt er heute. Das Gremium habe sich | |
vor allem mit „Integration“ beschäftigt: „Es ging um die, die schon da | |
waren, nicht darum, neue zu holen.“ | |
## Süssmuth suchte das Gespräch | |
Süssmuth ließ sich nicht beirren. „Denkt an die Akzeptanz, die wir | |
brauchen, für das Parlament und die Gesellschaft“, habe sie den Mitgliedern | |
gesagt. „Die Frage war: Wie viel Konsens können wir erreichen?“ Dabei hatte | |
helfen sollen, dass auch Kritiker wie der Freiburger Jurist Kay Hailbronner | |
von Schily in die Kommission berufen worden waren. | |
Was Süssmuth hingegen vermisste: MigrantInnen. Schily war „der Meinung, | |
dass es nichts bringt, die Kernprobleme der Zuwanderung mit Migranten zu | |
verhandeln“, sagt Süssmuth. „Er glaubte, sie hätten ganz andere Interesse… | |
sie würden primär einen Job wollen und ansonsten ihr eigenes Land | |
hochhalten“, sagt Süssmuth. „Glücklicherweise hatten wir Geld für | |
Anhörungen, so dass wir wenigstens auf diesem Weg Migranten einladen | |
konnten.“ Und sie suchte das Gespräch mit MigrantInnen, etwa in | |
Schrebergärten. „Ich wollte sehen, was sie da tun, welche Pflanzen sie | |
anbauen, was sie kochen“, sagt Süssmuth. Vor allem wollte sie erfahren, was | |
fehlte, damit sie sich in diesem Land wirklich zu Hause fühlen können. | |
Am 4. Juli 2001 übergab sie ihren Bericht an Schily. „Es ist ein sehr | |
ausbalancierter Bericht geworden, die Empfehlungen waren sehr sorgfältig | |
erarbeitet und ausgeführt worden“, sagt sie heute. | |
Die Kommission empfahl, dass zunächst mindestens 50.000 Menschen pro Jahr | |
zur Aus- und Fortbildung nach Deutschland zuwandern sollten. Davon sollten | |
20.000 qualifizierte AusländerInnen nach einem Punktesystem ausgewählt | |
werden. Weitere 20.000 sollten Branchen mit Arbeitskräftemangel selbst | |
anwerben. Für 10.000 von diesen hätten die ArbeitgeberInnen eine Gebühr für | |
Qualifizierungsmaßnahmen an den Staat zahlen sollen. Außerdem sollten | |
10.000 junge Menschen für eine Ausbildung kommen können. „Wir wollten | |
einmal Erfahrungen sammeln. Damals gab es ja die ‚Willkommenskultur‘ noch | |
nicht“, sagt Süssmuth. | |
SPD und Grüne waren zufrieden, die CDU war es nicht: Bosbach war | |
„überrascht, wie groß die Unterschiede des Süssmuth-Berichts im Vergleich | |
zu den Vorstellungen der Union“ seien. Einen Konsens könne er sich „nicht | |
vorstellen“. Parteichefin Angela Merkel war „sehr skeptisch“. Zuwanderung | |
dürfe „keine Antwort auf die demografischen Probleme sein“, so die spätere | |
Bundeskanzlerin. | |
## Eine Gefahr für die „christliche Nation“ | |
Viele, auch ParteifreundInnen, hätten befürchtet, dies „gefährde die | |
christliche Nation“, sagt Süssmuth. „Wenn wir eine ‚christliche Nation‘ | |
wirklich leben, werden wir sie auch verteidigen, wenn wir das | |
Zuwanderungsrecht öffnen“, sagte sie. Ihre KritikerInnen hätten geglaubt, | |
dass sich die weltweiten Migrationsbewegungen stoppen ließen. Sie ging | |
schon damals nicht davon aus. | |
In den folgenden Jahren reiste sie als Bundestagspräsidentin a. D. ins | |
Ausland, sprach im Rahmen der UN-Migrationskommission über das Thema, etwa | |
2005 in Ägypten. „Die Ägypter sagten da schon: ‚Wenn ihr nicht bald | |
Regelungen schafft, dann werden die Menschen so kommen, die warten nicht | |
mehr lange.‘ “ Auch Kofi Annan, der UN-Generalsekretär, sagte Süssmuth: | |
„Schafft Win-win-Situationen“ – für Deutschland und MigrantInnen. | |
Eben darauf zielten die Empfehlungen ihrer Kommission. Doch: „Die wurden | |
leider nicht umgesetzt, sondern verworfen“, sagt Süssmuth. 2005 trat zwar | |
das „Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung“ in Kraft. Doch | |
von den rot-grünen Ideen, die wiederum viel von Süssmuths Empfehlungen | |
aufgenommen hatten, ließ die Union im Bundesrat nur wenig stehen. „Es waren | |
nur wenige Elemente dessen enthalten, was unsere Kommission empfohlen hat“, | |
sagt Süssmuth. Und trotzdem: „Wir haben dazu beigetragen, dass sich die | |
Position, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei, als abwegig erwies.“ | |
Aber erst einmal blieb vieles beim Alten. Es gab einige Sonderregelungen, | |
etwa die „Blaue Karte EU“ für Hochqualifizierte, für „Engpassberufe“,… | |
eben die temporäre Westbalkanregelung. Doch insgesamt kamen im Schnitt der | |
Jahre 2009 bis 2018 jedes Jahr rund 28.000 Fachkräfte und etwa 14.000 | |
Geringqualifizierte zum Arbeiten aus Drittstaaten nach Deutschland – in den | |
letzten Jahren war das nur noch ein Tropfen auf den heißen Stein. | |
## Tauber wollte es so nicht weitergehen lassen | |
Es war der damalige CDU-Generalsekretär Peter Tauber, der – genau wie 20 | |
Jahre zuvor Süssmuth – es so nicht weitergehen lassen wollte. Am 8. Januar | |
2015 erschien ein langes Interview mit ihm in der Welt: „Wenn wir eine | |
Zuwanderung wollen, die nicht nur arbeitsmarktoptimiert ist, nicht nur | |
temporär, dann müssen wir auch über ein Einwanderungsgesetz reden“, steht | |
darin. | |
Der etwas umständliche, aber vorsichtige Satz provozierte exakt die gleiche | |
Reaktion wie die Äußerung Süssmuths 1994: „Ich bin von Bosbach bei der | |
nächsten Fraktionssitzung in der Luft zerrissen worden“, sagt Tauber. „Nach | |
dem alten Mantra ‚Deutschland ist kein Einwanderungsland.‘ “ Dabei dachte | |
Tauber, er hätte eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen. | |
„Mein Vorstoß wäre ja durchaus im konservativen Sinne zu wenden gewesen: | |
Als Versuch zu klären, wer da eigentlich kommt. Wir bestimmen dafür die | |
Regeln und entscheiden: Wer passt?“, sagt er. Nach dem Anwerbestopp habe | |
keiner gesagt: „Wenn die bleiben, müssen wir uns anders darum kümmern“, | |
sagt Tauber. Stattdessen habe seine Partei „an dem Bild des ethnisch | |
homogenen Deutschlands festgehalten. Das wurde mit der Fraktionssitzung | |
schlagartig klar.“ | |
[6][Auch 2015 mochten weite Teile der Union ihre Haltung nicht überdenken]. | |
Die Partei habe „nie akzeptiert, dass sie es war, die massiv dafür gesorgt | |
hat, dass der Ausländeranteil stark gestiegen ist“, sagt Tauber. Viele | |
scheuten das Bekenntnis und die Abkehr von dieser Schizophrenie. Und viele | |
fragten sich: War das nur Tauber, der da laut gedacht hatte? „Es wurde | |
gemutmaßt, dass es eine Idee der Kanzlerin war.“ War es aber nicht: „Ich | |
hatte das nicht mit Merkel abgestimmt. Aber sie hat es laufen lassen.“ | |
## Druck der Wirtschaft wuchs | |
Das dürfte damit zu tun gehabt haben, dass der Druck aus der Wirtschaft | |
wuchs. Als 2015 klar war, dass etwa 890.000 Flüchtlinge nach Deutschland | |
gekommen waren, nannte der Chefvolkswirt der Deutschen Bank, David | |
Folkerts-Landau, dies „das Beste, was 2015 passiert ist“. Die | |
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände forderte, noch mehr | |
Zuwanderung zu ermöglichen. | |
„Der Druck der Wirtschaft war massiv“, sagt Tauber. „Arbeitgeberverbände, | |
Fachverbände, Handwerk, alle haben gesagt: Bitte macht das.“ Tauber sagt, | |
ihm sei es nicht nur um den Zugang zum Arbeitsmarkt gegangen. „Die Frage | |
war nicht nur: Wie leicht ist das eigentlich für einen Mittelständler, | |
nicht nur für Siemens oder Bayer, jemanden aus dem Ausland einzustellen? | |
Mir ging es darum: Wie macht man aus den Arbeitskräften neue Landsleute?“ | |
Bald darauf musste die Partei ihr Programm für die Bundestagswahl 2017 | |
schreiben. „Es war hochumstritten, ob es reinkommt“, sagt Tauber. Lange | |
Zeit sei nicht einmal über den Begriff Einigkeit herzustellen gewesen – ob | |
es „Ein-“ oder „Zuwanderung“ heißt. „Zuwanderung bedeutet, Neue komm… | |
und müssen sich assimilieren. Einwanderung heißt: Sie können alles | |
mitbringen und müssen nicht einfach so werden wie alle anderen“, sagt | |
Tauber. | |
Am Ende stand im Wahlprogramm, Deutschland brauche ein „Regelwerk zur | |
Steuerung von Einwanderung in den Arbeitsmarkt“. Ein solches | |
„Fachkräftezuwanderungsgesetz“ werde die bestehenden Regelungen | |
zusammenfassen. Ein Kompromiss zwischen den Flügeln der Partei. „Der | |
gordische Knoten wurde zerschlagen“, sagt Tauber. Die CDU habe sich „mit | |
dem Thema schon schwergetan“. | |
Wie sehr war sie eingeklemmt zwischen ihrem Anspruch, Wirtschaftswachstum | |
zu sichern – und einem konservativen Flügel, der eine restriktive | |
Innenpolitik will? „Es mag diesen Zielkonflikt bei einigen gegeben haben“, | |
sagt Tauber. Er selbst sehe den Konflikt nicht. „Wenn wir wollen, dass | |
Menschen nach Deutschland kommen, die gern hierher kommen, um ihren Kindern | |
eine gute Zukunft zu sichern, sind das bürgerliche Tugenden.“ Das Einzige, | |
wovon seine Partei sich dafür lösen müsse, sei „die Idee eines ethnisch | |
homogenen Staatsvolkes“. | |
Tauber sagt, es werde heute oft vergessen, dass „nicht die halbe Welt in | |
Deutschland Arbeit suchen will“. „Das ist Quatsch, deutsche Hybris. Wir | |
müssen dafür werben, dass Leute kommen wollen.“ Dieses „gute Marketing“ | |
könne man aber nicht per Gesetz anordnen. | |
Rita Süssmuth sieht es genauso. „Wir sind nicht mehr das Land, das am | |
begehrtesten ist.“ Deutschland steht heute auf Platz 12 der beliebtesten | |
Ziele für Fachkräfte. Staaten wie Australien oder Schweden, „Länder, die | |
beweglicher sind“, liegen vorn. „Dass wir Arbeitskräfte brauchen, weil hier | |
nicht genug Menschen geboren werden, das wissen wir lange genug.“ Man müsse | |
die Einwanderung – „ich bin froh, dass ich diesen Begriff heute benutzen | |
kann“ – viel mehr „vom Miteinander her denken“, sagt Süssmuth. Das sei… | |
Hauptanliegen der Kommission gewesen. „Die Öffnung zur Einwanderung ist | |
heute erfolgt“, sagt sie. Eine der wichtigsten Fragen bleibe, wie „dieses | |
Miteinander so organisiert werden kann, dass Massenflucht verringert, und | |
Herkunfts- und Aufnahmeländer sich wechselseitig unterstützen können“. | |
## Eine sehr vorsichtige Öffnung | |
2018 einigten sich Union und SPD auf das Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Wer | |
eine Stelle in einem Beruf vorweisen kann, für den er formal qualifiziert | |
ist, darf kommen. Die Beschränkung auf sogenannte Engpassberufe entfällt, | |
ebenso die „Vorrangprüfung“ – bislang musste immer erst geprüft werden,… | |
nicht ein deutscher Bewerber für einen Job infrage kommt. Ausländische | |
Fachkräfte mit Berufsausbildung und HochschulabsolventInnen sollen künftig | |
für sechs Monate nach Deutschland kommen können, um sich hier einen Job zu | |
suchen. Sozialleistungen sollen sie in dieser Zeit nicht beziehen können. | |
Die Jobsuchenden müssen schon vorher so gut Deutsch sprechen, wie es für | |
eine Tätigkeit ihrer Qualifikation erforderlich ist. Vor der Einreise muss | |
nachgewiesen werden, dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist. | |
Es ist eine sehr vorsichtige Öffnung, in die weiter viele Hürden eingebaut | |
sind. Auch die 20 Busfahrer, die Kristin Grund, die Dresdner | |
Personalchefin, nach Deutschland bringt, bekommen diese Hemmnisse zu | |
spüren. „Erst einmal bekommen sie nur ein Visum für zwei Jahre“, sagt sie. | |
Wer trotzdem seine Familie mitbringen wolle, habe weitere Schwierigkeiten: | |
„Wenn die Ehefrau zufällig Krankenschwester ist, bekommt sie bevorzugt ein | |
Visum“, sagt Grund. „Sind die Angehörigen nicht in einem Mangelberuf | |
qualifiziert, ist es schwer.“ Die Fahrer müssen dann etwa eine ausreichend | |
große Wohnung und Einkommen nachweisen. | |
Im Moment lernen die Fahrer in Belgrad Deutsch, auf Kosten der DVB. „Wir | |
werden den Deutschkurs hier weiterführen, das ist den Dresdnern unheimlich | |
wichtig.“ Wenn die Visa da sind, bekommen sie eine „Tarif- und | |
Linienschulung“, Einweisung in die Fahrzeuge, müssen ortskundig werden. | |
„Sie müssen lernen, wie sie mit der Leitstelle kommunizieren und wie sie | |
sich in Unfallsituationen verhalten müssen“, sagt Grund. Sie hat eine | |
Mitarbeiterin als „Integrationsberaterin“ abgestellt. Die soll auch bei der | |
Wohnungssuche helfen. „Die sollen wirklich hier ankommen“, sagt Grund. Wann | |
das sein wird, weiß sie noch nicht. „Ich hätte sie gern im Februar hier | |
gehabt. Aber die Arbeit läuft nicht weg.“ | |
29 Feb 2020 | |
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[1] /Arbeitskraeftemangel-in-Deutschland/!5367939 | |
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