| # taz.de -- Protokolle nach Hanau: Wut. Trauer. Mut | |
| > Eine Woche nach dem rassistischen Terroranschlag von Hanau bleibt die | |
| > Frage: Was können wir tun? Elf Protokolle. | |
| Bild: Trauer um die Ermordeten in Hanau | |
| Mein Sohn soll nicht umsonst gestorben sein, sagt die Mutter von Ferhat | |
| Unvar, der [1][in Hanau] ermordet wurde. Leider wird es so sein. Er ist | |
| umsonst gestorben. Genau wie alle anderen. Sie, ihr Sohn und alle anderen | |
| gehören nicht zu Deutschland, wie Bundesinnenminister Seehofer vor zwei | |
| Jahren verkündete. Die Migration sei die Mutter aller Probleme [2][und der | |
| Islam] gehöre nicht zu Deutschland. | |
| Damit gehören sie und ihr Sohn genauso wenig wie ich zu Deutschland. Von | |
| einer „Zäsur“ wird nur gesprochen, wenn Biodeutsche getötet werden. Nicht | |
| die Höckes und Konsorten sind unser Problem. Wer als Innenminister einer | |
| wohlgemerkt christlichen Partei, der für die innere Sicherheit in diesem | |
| Land und damit für die Sicherheit aller Bürger in diesem Land | |
| verantwortlich ist, so etwas sagt, braucht sich nicht zu wundern, wenn | |
| andere den Abzug drücken. | |
| Taten statt Worte haben schon die NSU-Terroristen propagiert. Der Islam und | |
| damit die „Ausländer“ gehören nicht hierher. Schließlich geht es hier um | |
| den Erhalt der Deutschen Nation. Es wird alles beim Alten bleiben. Ein paar | |
| Tage Trauer, die Fahnen auf halbmast, alles bleibt, wie es ist. Es wird | |
| nicht besser. Es wird schlimmer. Es kommen die nächsten Seehofers, die den | |
| Rechtsradikalismus mit der Thematisierung der Clankriminalität bekämpfen | |
| wollen. Schon wieder sind es die „Ausländer“, die schuld daran sind, dass | |
| es Rechtsradikalismus in Deutschland gibt. Wer erklärt dieser Mutter, dass | |
| ihr Sohn umsonst gestorben ist? | |
| Seda Başay-Yildiz, NSU-Nebenklageanwältin, Frankfurt | |
| *** | |
| Hätte ein islamistischer Terrorist in Deutschland zehn Menschen erschossen, | |
| weil er gegen „Ungläubige“ vorgehen wollte, hätte es – völlig zu Recht… | |
| einen Aufschrei gegeben, der wochenlang nachhallt. Aber nach dem Terror von | |
| Hanau? Schnell ist Normalität eingekehrt. Kein Mensch ist auf die Idee | |
| gekommen, Karneval ausfallen zu lassen. Und hat irgendjemand eigentlich | |
| etwas über die Beerdigungen der Opfer gelesen? Kann wenigstens einen Namen | |
| der Ermordeten nennen? Mich erstaunt das nicht. | |
| Das ist kein neues Gefühl, dass Menschen, die braune oder schwarze Haut | |
| haben oder die einen fremd klingenden Namen tragen, in dieser Gesellschaft | |
| weniger wert sind. Wenn sie wegen genau dieser Eigenschaften ermordet | |
| werden, ist es anscheinend weniger schlimm. Politiker wie Friedrich Merz | |
| von der CDU vermitteln in dieser Lage allen Ernstes, am Rechtsextremismus | |
| seien letztlich die Ausländer selbst schuld. So wie CSU-Politiker Horst | |
| Seehofer behauptete, Migration sei „die Mutter aller Probleme“. | |
| So wie der CDU-Mann Heinrich Lummer, als Anfang der Neunzigerjahre | |
| Flüchtlingsheime brannten und Menschen ermordet wurden, erklärte: „Ich | |
| warne vor einer Überfremdung Deutschlands!“ All das ist inakzeptabel. Wie | |
| wird es weitergehen in Deutschland? Wir werden uns wehren, immer wieder, | |
| mit Worten und allen demokratischen und juristischen Mitteln. Wir müssen | |
| noch viel lauter werden. | |
| Hasnain Kazim, Autor, Wien | |
| *** | |
| Das Attentat in Hanau erschüttert zahllose Menschen in Deutschland. | |
| Scheinbar aus dem Nichts wurden Menschen mitten aus dem Leben gerissen, | |
| plötzlich, sinnlos, unbegreiflich. Den Zusammenbruch all dessen, was wir | |
| für sicher und stabil in unserem Leben halten, müssen die Angehörigen nun | |
| ertragen. Und wir müssen uns fragen, was können und was müssen wir tun, | |
| damit nicht noch mehr unschuldige Menschen mitten aus unserer Gesellschaft, | |
| mitten im Alltag, mitten unter uns ermordet werden? | |
| Das Waffengesetz in Deutschland ist eines der restriktivsten der Welt. Was | |
| versäumen wir? Offensichtlich geht es um die Vernetzung von Informationen, | |
| denn der mutmaßliche Täter war als Waffenbesitzer bekannt und er war ebenso | |
| als psychisch belastet auffällig geworden, als er Anzeige, gegen eine | |
| imaginäre Geheimdienstorganisation stellte. Die Zusammenführung der | |
| Informationen hätte zum sofortigen Entzug der Berechtigung zum Besitz von | |
| Schusswaffen geführt. | |
| Neben dieser Vernetzung ist eine obligatorische psychologische Begutachtung | |
| von Waffenbesitzern, wie sie als Antrag 2017 bei der Revision der EU | |
| Feuerwaffenrichtlinie vorlag und abgewiesen wurde, sinnvoll. Im Leben eines | |
| jeden Menschen kann es Entwicklungen geben, die ihn aus der Bahn werfen. | |
| Der Besitz einer Schusswaffe kann in einer solchen Situation fatale Folgen | |
| haben. | |
| Gisela Mayer, Aktionsbündnis Amoklauf Winnenden | |
| *** | |
| Der Terroranschlag in Hanau hat nicht überrascht, aber geschockt. Es hat | |
| Menschen getroffen, die meine Geschwister hätten sein können. Meine | |
| Geschwister waren am Samstag wieder in einer Shishabar. Meine Schwester | |
| sagt am Telefon, wir sind immer in die Shishabar gegangen. Wir werden es | |
| auch weiterhin tun. | |
| Vor rechtem Terror können wir uns nicht selber schützen. Nur die | |
| Sicherheitsbehörden können das, die Zivilgesellschaft kann das, die Politik | |
| kann das. Die Sicherheitsbehörden, in dem sie ihrer Pflicht nachkommen, | |
| alle Menschen zu schützen, und mit der Entnazifizierung in den eigenen | |
| Reihen und Köpfen beginnt. Die Zivilgesellschaft, in dem sie rechter | |
| Ideologie keinen Quadratzentimeter Boden einräumt, in dem sie sich als | |
| antifaschistisch versteht. Und die Politik, die ein verschärftes | |
| Waffenrecht durchsetzt, erwirkt, dass die NSU-Akten geöffnet werden, die | |
| Förderung für zivilgesellschaftliche Projekte sicherstellt, keine | |
| Kompromisse mit der AfD eingeht und Rassismus benennt. | |
| Ronya Othmann, Autorin, München | |
| *** | |
| Der Anschlag in Hanau kam nicht unerwartet. Erst kurze Zeit vorher ist ein | |
| Nazi-Terrornetzwerk von der Polizei hochgenommen worden. Die formulierten | |
| Ziele der Neonazis waren Terroranschläge auf die muslimische Minderheit des | |
| Landes, um dadurch Bürgerkriegszustände herzustellen. Dieses Wissen führt | |
| nicht dazu, dass es einem weniger das Herz zerreißt, dass diese | |
| unschuldigen Menschen sterben mussten. Die Trauer, die sich jetzt in ihren | |
| Familien ausbreitet, muss unermesslich sein. Schlimm waren auch | |
| Relativierungsversuche in den sozialen Medien und anderswo. | |
| Dass es einen hundertprozentigen Schutz nun einmal nicht gebe, usw. Eine | |
| solche Aussage macht es sich zu einfach. Niemand fragt hier nach dem | |
| Unsterblichkeitskraut. Es geht um menschenrechtliche Schutzpflichten des | |
| Staates, die eingehalten werden müssen, auch wenn das nicht zu einem | |
| absoluten Schutz führen kann. Dazu gehört: dass der Staat keine Ressourcen | |
| scheut, den NSU-Komplex vollständig aufzulösen, alle Netzwerke von Nazis zu | |
| identifizieren und wirksame Maßnahmen gegen sie zu ergreifen. Bisher | |
| blieben die Mahnungen von Betroffenen und Opferanwälten ungehört. Auch nach | |
| innen hin muss der Staat aktiv werden und in den eigenen Behörden, | |
| insbesondere im Sicherheitsapparat die Verbindung zu Nazistrukturen mit | |
| einer Null-Toleranz-Linie eliminieren, also eine Entnazifizierung 2.0. | |
| durchführen. | |
| Die Generalbundesanwaltschaft sollte Rechenschaft darüber ablegen, wie sie | |
| mit den Informationen aus dem Brief umgegangen ist, den der Attentäter aus | |
| Hanau vorab dort eingesandt hat. Darüber hinaus sollte der Staat einen | |
| wirksamen, zugänglichen und schnell handelnden Beschwerdemechanismus für | |
| die Angehörigen der Opfer einrichten. Für potenziell Betroffene sollte es | |
| eine Meldestelle geben, wo sie bei Verdacht auf Verfolgung sofort Schutz | |
| finden können. | |
| Deniz Utlu, Schriftsteller, Berlin | |
| *** | |
| Was heißt es, mit einer Narbe, dem Verlust eines Bruders, eines Sohnes, | |
| eines Mannes zu leben? Ich habe 2004 den Nagelbombenanschlag in Köln | |
| miterlebt, habe jahrelang den NSU-Prozess mitgemacht und wurde wie mein | |
| Mann beschuldigt: Bandenkrieg oder Zuhälterei oder irgendetwas anderes. | |
| Rassismus ausgeschlossen. Mein Sohn hat seinen Vater mit sieben Jahren | |
| unter die Erde gelegt. Deutschland, du hast in Bezug auf Rassismus versagt! | |
| Wir sind hier geboren, wir haben einen deutschen Pass, wir reden deutsch, | |
| wir halten uns an Gesetze. Aber das hat euch nicht gereicht. | |
| Wenn ihr Integration wollt, beherrscht erst einmal unsere Namen und unsere | |
| Geschichten. Vorher seid ihr keine Deutschen. Die Morde und Anschläge | |
| passieren in eurem Land. Das gehört zu eurer Geschichte. Was ihr als Trauer | |
| bezeichnet, ist eine tiefe Narbe, die wir im Herzen haben, die ihr zwei | |
| Tage lang lebt, indem ihr Kerzen anzündet. Ich bitte euch, die Familien der | |
| Opfer in Hanau nicht nur bei Trauerveranstaltungen zu unterstützen. Ich | |
| bitte euch, eure Kinder so zu erziehen, dass sie nicht irgendwann einmal | |
| Akten wegschließen. | |
| Candan Özer Yılmaz, Witwe von Atilla Özer, der 2004 beim rassistischen | |
| Nagelbombenanschlag des NSU in einem Friseurladen in der Kölner Keupstraße | |
| schwer verletzt wurde und später starb. | |
| *** | |
| Als klar wurde, was in Hanau passiert ist, war mein erster Gedanke: Jetzt | |
| ist es wieder passiert. Wochen vor der Tat habe ich mich mit anderen über | |
| die Stimmung in Deutschland unterhalten. Überall war das Gefühl: Es wird | |
| bald wieder etwas passieren, wir wissen nur nicht, wo. Nun ist es Hanau. | |
| Mich lässt nicht los, dass es die Kinder und Enkel der Zugewanderten und | |
| Gastarbeiter getroffen hat. Ich hatte nach dem Auffliegen des NSU mal eine | |
| Lesung, da kam ein Mann zu mir, der sagte, er sei nach Deutschland | |
| gekommen, damit seine Kinder hier eine bessere Zukunft hätten, und nun | |
| gingen seine Kinder zurück in die Türkei, um diese bessere Zukunft dort zu | |
| suchen. Da bricht gerade etwas zusammen: das Gefühl, hier geschützt und | |
| Teil der Gesellschaft zu sein. Ich sage in meinem Wahlkreis immer: Wendet | |
| euch an die Behörden, wenn es Probleme gibt, die sorgen für euch. Jetzt | |
| gibt es Momente, an denen ich zweifle, ob das so noch stimmt. | |
| Ich selber habe nie erwogen, Deutschland zu verlassen, das ist keine | |
| Option. Hier ist mein Kind geboren, hier ist mein Freundeskreis, mein | |
| Lebensmittelpunkt. Ich bleibe da, wo ich bin. Ich mache mich jetzt noch | |
| breiter, lasse mir keine Räume nehmen. Das Oberste ist jetzt, dass der | |
| Staat uns schützt, und zwar alle. Dass er Rassismus wirklich wirksam | |
| entgegentritt. Und dann müssen wir uns über unsere Zukunft austauschen: Wie | |
| wollen wir miteinander leben? Da, wo etwa die AfD zu spalten sucht, da muss | |
| uns das Einende gelingen. Es ist genau die Umvolkungsideologie dieser | |
| Partei, die kranke Menschen wie in Hanau zur Tat schreiten lässt. Als ob | |
| mein deutschtürkisches Kind Teil eines Geheimplans wäre, Deutschland zu | |
| unterwandern – wie absurd und niederträchtig! Wir müssen diese Partei | |
| endlich konsequent ausgrenzen. | |
| Canan Bayram, Grünen-Abgeordnete, Berlin-Kreuzberg | |
| *** | |
| Hanau hat etwas in mir verändert. Ich habe mich bislang in der | |
| Öffentlichkeit immer als „Migrantin undercover“ gefühlt. Ich heiße Julia | |
| Wasenmüller. Dass meine Familie aus Kasachstan kommt und wir in die | |
| Kategorie „Russlanddeutsche“ fallen, sieht man mir nicht an. Ich bin weiß. | |
| Am Tag des Anschlags in Hanau habe ich mich gefragt, wie ich meine | |
| BIPOC-Freund*innen unterstützen kann, wo ich nicht die erste Zielscheibe | |
| rechter Gewalt bin und überall als Kartoffel durchgehe. Ein Bild-Reporter | |
| nahm noch in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag ein Video vor einer der | |
| Shishabars in Hanau auf und spricht von einer „Milieutat“. Diesmal sollen | |
| es „die Russen“ gewesen sein. | |
| Klar, Migrant*innen morden mal wieder unter sich. Die Nachricht macht mich | |
| wütend. Am Freitag lese ich, dass am Donnerstagnachmittag, also ein Tag | |
| nach Hanau, in Berlin-Schmargendorf ein Typ mit Nazitattoos und | |
| Luftdruckgewehr vor der Brust in einen russischen Supermarkt lief. Die | |
| Polizei erkennt kein politisches Tatmotiv. Ich schreibe meinen Freund*innen | |
| mit PostOst-Background. Maksim antwortet, dass er vor unserem letzten | |
| Treffen in diesem Supermarkt eingekauft hat. Ich muss schlucken. Plötzlich | |
| fühlt sich das alles ziemlich nah an. Die meisten Menschen in meiner | |
| Familie sprechen kein perfektes Deutsch und heißen Olga, Viktor oder | |
| Vitali. Hanau trifft uns alle, die wir von Nazis als „anders“ markiert | |
| werden. | |
| Julia Wasenmüller, Social-Media-Redakteurin bei der taz | |
| *** | |
| Als ich am Donnerstag beim Frühstück saß und im Radio von neun Ermordeten | |
| in Hanau hörte, war ich entsetzt. Doch als kurz danach die rassistischen | |
| Motive des Täters bekannt wurden, traten zur Trauer bald auch Wut und | |
| Frustration hinzu: Wären diese Morde zu verhindern gewesen, wenn der Staat | |
| früher und entschlossener gegen Rassismus und die Bedrohung durch rechten | |
| Terror vorgegangen wäre? Als Bildungsstätte Anne Frank hatten wir erst | |
| wenige Tage zuvor darauf hingewiesen, wie gering uns der Aufschrei über die | |
| enttarnte Terrorgruppe S. erschien. | |
| Die Bedrohung von rechts muss endlich ernst genommen werden. Wir brauchen | |
| keine Schnellschüsse, sondern eine neue Strategie: Eine koordinierte | |
| Zusammenarbeit des Staats und der Zivilgesellschaft. Ist die Politik jetzt | |
| bereit, die Versäumnisse der Vergangenheit anzuerkennen und entschlossen zu | |
| handeln? Wahrscheinlicher ist, dass auch dieser Terroranschlag wie seine | |
| Vorgänger ganz schnell ad acta gelegt wird. Und beim nächsten rechten | |
| Anschlag werden wir wieder Floskeln wie „Tragödie“ und „Alarmsignal“ zu | |
| hören bekommen. | |
| Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank | |
| *** | |
| Was empfinde ich nach dem rassistischen Anschlag von Hanau? Trauer. | |
| Mitgefühl. Mitleid. Wütende Entschlossenheit. Keine blinde Wut. Gerechte | |
| Wut nennt man das biblisch. Darüber, dass ausgerechnet in Deutschland jeden | |
| Tag Menschen rassistisch und antisemitisch beleidigt, angegriffen, getötet | |
| werden. Müsste Deutschland nicht das weltweite Vorbild darin sein, | |
| Rechtsextremismus zu ächten und zu bekämpfen? Kann das Grauen der Schoah | |
| nach gerade mal drei Generationen vergessen sein? | |
| Der Glaube daran, dass Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft „nie | |
| wieder“ Platz haben werde, ist schon lange verflogen. Ich möchte von allen | |
| Politiker*innen hören, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Ich | |
| möchte im Fernsehen nicht mit rechtsextremen Positionen konfrontiert | |
| werden. Ich möchte, dass jemand, der das Dritte Reich als „Vogelschiss“ | |
| bezeichnet, rechtliche Konsequenzen trägt. Ich möchte, dass nicht nur von | |
| Rassismus und Antisemitismus Betroffene sich dagegen stellen. Ich möchte, | |
| dass nach Hanau alle Menschen in Deutschland wütend entschlossen sind. | |
| Gilda Sahebi, Politikwissenschaftlerin und Journalistin | |
| *** | |
| Meine eine ersten Gefühle nach Hanau: Angst, Ohnmacht, Wut. Was passiert, | |
| wenn Deutschland kippt? Wohin gehen wir? Es reicht, dachte ich mir, dass | |
| Rassismus kleingeredet und immer wieder von Fremdenfeindlichkeit gesprochen | |
| wird. Es reicht, dass ein Ali es schwerer hat als ein Thomas, eine Wohnung | |
| zu bekommen. Es reicht, dass eine Fatma mit Kopftuch sich viermal mehr als | |
| eine Anna bewerben muss, um bei gleicher Qualifikation zum | |
| Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Es reicht, dass wir bei Angriffen | |
| auf PoCs, die täglich stattfinden, direkt zur Tagesordnung übergehen. | |
| Ich selbst erhalte immer wieder Morddrohungen, stehe auf Todeslisten, | |
| bekomme Polizeischutz, erlebe Hass und Hetze von rechts wie nie zuvor in | |
| meinem Leben. Rassismus ist in unserem Land heute keine Ausnahme, Rassismus | |
| ist für viele Menschen Alltag. Manch eine Kopftuch- oder Leitkulturdebatte, | |
| manch eine Äußerung über Migration und Flüchtlinge, über Clans und | |
| Shishabars – und damit meine ich insbesondere, aber nicht nur die AfD – | |
| haben den Boden dafür bereitet, indem sie Deutschland in ein „wir“ und ein | |
| „die“ eingeteilt haben. | |
| Spaltung beginnt in den Köpfen und setzt sich in Bestsellern, | |
| Kommentarspalten und Tweets fort. Und wer dann nur noch mit Gleichgesinnten | |
| in der eigenen Blase kommuniziert, da ist es kein großer Schritt mehr hin | |
| zur Radikalisierung. Und dann können aus dem Hass auf Migranten, auf | |
| Muslime, auf Flüchtlinge, der in den letzten Jahren massiv befeuert wurde, | |
| auch schreckliche Taten werden. Hanau steht dafür beispielhaft. | |
| Fakt ist aber auch: Wir können nicht bei Ohnmacht, Wut und Angst stehen | |
| bleiben. Mehr als jemals zuvor in der Geschichte des wiedervereinigten | |
| Deutschland muss es für uns Demokraten heißen: Jetzt erst recht. Wir | |
| überlassen den Hatern dieses Land nicht. Dafür brauchen wir vieles. Als | |
| Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement setze ich mich dafür | |
| ein, die Zivilgesellschaft in ihrem Einsatz gegen rechts und für Demokratie | |
| zu stärken, Strukturen und Rahmenbedingungen zu schaffen, damit dieses | |
| Engagement sich besser entfalten kann. | |
| Ich kämpfe dafür, dass zivilgesellschaftliches Engagement einen höheren | |
| Stellenwert in der Politik findet und als das anerkannt wird, was es ist: | |
| nämlich Bollwerk und Betriebssystem für unsere Demokratie. Denn wohin | |
| schweigende Mehrheiten führen, wissen wir in Deutschland. Ich setze mich | |
| dafür ein, dass Antisemitismus und Rassismus nicht immer weiter um sich | |
| greifen. Auch gehört für mich dazu, dass wir uns endlich mit dem Phänomen | |
| des antimuslimischen Rassismus auseinandersetzen. | |
| Das Thema gehört – endlich – auf die Agenda der Bundespolitik. In vielen | |
| Gesprächen mit Abgeordneten quer durch die demokratischen Parteien und mit | |
| Regierungsvertretern spüre ich Zuspruch, zugleich aber auch große Vorsicht. | |
| Ich wünsche mir, dass jetzt endlich Mutige vorangehen, das Gespräch mit | |
| Fachleuten suchen und den Betroffenen signalisieren: Wir lassen euch nicht | |
| allein, sondern packen das Thema an. | |
| Auf Landesebene haben wir schon einiges unternommen. Die Polizei ist | |
| wachsam. Moscheen werden geschützt. Es gibt Beratung für Betroffene und | |
| Projekte, die Mut machen. Gerade weil es so viele Engagierte, so | |
| vielfältiges muslimisches Leben und einen so großen Sachverstand in Berlin | |
| gibt, setze ich jetzt auch auf den nächsten Schritt: dass wir eine | |
| systematische Bestandsaufnahme machen und Handlungskonzepte erarbeiten. | |
| Wir müssen uns vor allem fragen: Wie können wir eine übergreifende Allianz | |
| aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Politik und Verwaltung schmieden, um | |
| diese schreckliche Spaltung in „die“ und „wir“ zu überwinden, um gemei… | |
| eine bessere Zukunft zu gestalten? Die Angriffe auf die Demokratie laufen | |
| weltweit. Das bedeutet, wir brauchen eine globale Strategie, um sie | |
| abzuwehren. Als Staatssekretärin für Internationales trete ich dafür ein, | |
| dass wir Allianzen von Städten bilden im Kampf gegen die Feinde der | |
| Demokratie. | |
| Ganz besonders mit den Städten, in denen die nationalen Regierungen die | |
| Räume der Zivilgesellschaft und ihre Grundrechte immer weiter einschränken. | |
| Bei allen Problemen und Herausforderungen, die es auch in der Hauptstadt | |
| gibt, bin ich dankbar und stolz darauf, dass Berlin ein Garant für | |
| Toleranz, Offenheit und Akzeptanz ist. Dass wir einen Innensenator haben, | |
| der mit der notwendigen Sensibilität in diesem Bereich agiert. | |
| Seit dem Mord an Walter Lübcke ist insgesamt einiges auf den Weg gebracht | |
| worden im Kampf gegen Rechtsextremismus und Hass im Netz. Die Politik ist | |
| sensibilisiert. Es gibt ein neues Bewusstsein dafür, dass es so nicht mehr | |
| weitergehen kann und dass wir tiefergreifende Maßnahmen brauchen, um den | |
| Vormarsch der Rechtsterroristen zu stoppen. Ich bin ich zuversichtlich, | |
| dass es uns gelingt, das Klima der Angst zu überwinden und ein | |
| Stimmungswandel in unserem Land zu erreichen. Viele sind in den letzten | |
| Monaten aufgestanden. Lasst uns das Momentum nutzen! | |
| Sawsan Chebli, Staatssekretärin in der Berliner Senatskanzlei | |
| 27 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Diskurs-nach-Hanau-und-Hamburg/!5664580 | |
| [2] /Hanau-und-Rechtsextremismus/!5664458 | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Rechter Terror | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Muslime in Deutschland | |
| Nazis | |
| IG | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Türkei | |
| Rechte Gewalt | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Sicherheitsbehörden | |
| Gastarbeiter | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Sawsan Chebli | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Rassismus beim Kampf gegen Klimakrise: Mehr Diversität in der Bewegung | |
| Auch die Klimabewegung kämpft mit rassistischen Strukturen. Ein Schritt für | |
| gerechteren Aktivismus: die erste BIPoC-Klimagerechtigkeitskonferenz. | |
| Hörspiel zu NSU-Attentat: „Wir sind uns selbst überlassen“ | |
| Das Hörstück „Lücke 2.0“ zum Kölner Nagelbombenattentat lässt Überleb… | |
| sprechen. Es thematisiert Erkenntnisse zu rechtsradikalen Netzwerken. | |
| Nach Hanau: Zeichen, die ermutigen | |
| Rechtsterroristen wollen die Gesellschaft in Angst versetzen. Doch das | |
| Selbstbewusstsein der Betroffenen wächst. Die Mörder werden ihr Ziel nicht | |
| erreichen. | |
| Erdoğans Migrationspolitik: Nicht mit der Türkei verhandeln | |
| Erdoğan steckt Kritiker ins Gefängnis, baut Mauern und zieht | |
| Demokratiegegner groß. Statt mit ihm zu verhandeln, sollte er auf die | |
| Anklagebank. | |
| Drohmails gegen Politiker: Linken-Chefin mit Mord bedroht | |
| Katina Schubert, Landeschefin der Berliner Linken, hat Morddrohungen wegen | |
| ihres Einsatzes für Geflüchtete erhalten. Sie ist nicht die Einzige. | |
| Sportschützen nach Hanau im Visier: Hier lernt man das Schießen | |
| Nach dem Massaker von Hanau sind die deutschen Schützenvereine erneut in | |
| Verruf. Ein Besuch im Dorf Essel bei Hannover. | |
| Sportschütze über Waffengesetze: „Wir brauchen bessere Regeln“ | |
| Sportschütze Timo Schreiber wünscht sich strengere Waffengesetze, um | |
| rassistische Terroranschläge wie in Hanau künftig zu verhindern. | |
| Rechter Anschlag in Hanau: Psychologen in die Behörden! | |
| Die steile These: Der Amoklauf von Tobias R. hätte durch psychologisch | |
| geschultes Personal in der Justiz eventuell verhindert werden können. | |
| Gesetz zur Arbeitsmigration: Willkommen in Deutschland | |
| Vor 65 Jahren begann das CDU-regierte Deutschland, Arbeitskräfte aus dem | |
| Ausland zu holen. Jetzt erst tritt ein mutloses Einwanderungsgesetz in | |
| Kraft. | |
| Gedenken in der Rosenstraße: Die Gegenwart der Vergangenheit | |
| In der Rosenstraße protestierten Frauen 1943 erfolgreich gegen die | |
| Deportation ihrer jüdischen Ehemänner. Beim aktuellen Gedenken geht es auch | |
| um heute. | |
| Freispruch für Beleidiger von Chebli: Wo ist die deutsche Mitte | |
| Die Mitte ist ein weites Feld, das zeigen zwei aktuelle Urteile darüber, | |
| wer was wo eigentlich Mitte ist. | |
| Traumapädagoge über Folgen von Hanau: „Manche erstarren, manche zittern“ | |
| Der Hanauer Traumapädagoge Thomas Lutz betreut Betroffene der rassistischen | |
| Terrorattacke. Er beobachtet eine tiefsitzende Angst. | |
| Maßnahmen gegen rechten Terror: Was tun gegen den Hass? | |
| Politik und Zivilgesellschaft diskutieren nach dem Hanau-Anschlag, was | |
| gegen rechten Terror hilft. Acht Punkte, die etwas verbessern könnten. | |
| Editorial zum Dossier nach Hanau: Offene Grenzen | |
| Eine Allianz aus Wutbürgern und rechten Ideologen hat 2015 die Grenzen | |
| geöffnet – für bis dahin nicht Sagbares | |
| Hanau nach dem rechten Anschlag: Die Kinder dieser Stadt | |
| Eine Woche nach dem rassistischen Terror werden die Opfer zu Grabe | |
| getragen. Eine Mutter fordert, nicht zur Tagesordnung überzugehen. |