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# taz.de -- Traumapädagoge über Folgen von Hanau: „Manche erstarren, manche…
> Der Hanauer Traumapädagoge Thomas Lutz betreut Betroffene der
> rassistischen Terrorattacke. Er beobachtet eine tiefsitzende Angst.
Bild: „Manche machen sich Vorwürfe, wenn der Sohn erschossen wird.“ Tür z…
taz: Herr Lutz, wie haben Sie die letzten Tage in Hanau erlebt?
Thomas Lutz: Die letzten Tage waren entsetzlich, wenn auch nicht sehr
überraschend aufgrund der rechtsextremen Entwicklungen in Deutschland.
Jetzt hat es Hanau getroffen.
Wie haben Sie vom Terroranschlag mitbekommen?
Hanau ist ein Kaff, wenn hier ein Großeinsatz der Polizei mit Hubschraubern
stattfindet, dann bekommen wir das mit. Wir haben innerhalb vom [1][Zentrum
für Traumapädagogik] eigentlich schon Mittwochnacht miteinander Kontakt
aufgenommen und überlegt, was wir machen können. Donnerstagfrüh stand dann
schon fest, dass wir hier den Tag über bereitstehen werden, um Betroffenen,
Angehörigen oder Zeugen Erstberatungsgespräche anzubieten und
Krisenintervention zu machen.
Wie viele MitarbeiterInnen waren das?
Insgesamt vier KollegInnen. Im Laufe des Tages kamen die ersten Menschen
aus dem Umfeld der Tatorte zu uns. Bei einer Krisenintervention ist es
wichtig, den Menschen zunächst Raum zu geben, zu erzählen, was sie erlebt
haben. Ihnen zu helfen, dafür Worte zu finden. Nach traumatischen
Ereignissen fragmentiert das Gehirn alle Wahrnehmungen und Erlebnisse.
Menschen haben dann Schwierigkeiten, zu formulieren, Worte zu finden.
Manche erzählen immer wieder das Gleiche, manche sind sprachlos und stumm
oder erstarren. Andere haben erhebliche Stressausschüttung, zittern und
vibrieren am ganzen Körper, kommen nicht mehr zur Ruhe und können nicht
mehr still sitzen.
Wie helfen Sie konkret in dieser Situation?
Erst mal Essen und Trinken anbieten. Zuhören. Dann sprechen wir mit Ihnen
über Gefühle und Körperempfindungen. Viele Betroffene empfinden sich nicht
mehr als normal oder sagen, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Wir
versichern ihnen dann, dass das in solchen Situationen ganz normale
Reaktionen auf ein traumatisches Erlebnis sind.
Sie können natürlich keine Details verraten. Aber worüber haben die
Menschen, die zu Ihnen gekommen sind, gesprochen?
Was bei allen gleich war, war eine tiefsitzende Angst, sich im öffentlichen
Raum zu bewegen. Also wirklich Angst, vor die Tür zu gehen, Angst, an die
normalen Bezugsorte zu gehen, Angst, am Kiosk die Zeitung zu holen, oder
Angst, Treffpunkte wie eine Shishabar aufzusuchen. Das bedeutet für die
Menschen ja, dass sie vom öffentlichen Leben ausgeschlossen sind durch
diese rassistischen, faschistischen Morde. Auch da versuchen wir zu
vermitteln, dass [2][diese Angst normal] und angemessen ist in dieser
Situation und dass die Lösung nicht darin besteht, diese Angst zu
unterdrücken. Alle Gefühle sind Freunde.
Die Angst ist ein Freund?
Angst ist ein Gefühl, das uns vorsichtig macht. Es geht darum, mit der
Angst in Verhandlung zu gehen und zu gucken, wie viel Angst angemessen ist
und wie viel Angst wir vielleicht reduzieren können. Das ist dann die
weitere Arbeit. Wir machen hier die Erstversorgung und gucken, wer aus
unserer Sicht stabil ist und sich selbst auch als stabil einschätzt. Und
Menschen, die es schwerer getroffen hat, vermitteln wir an
psychotherapeutische Einrichtungen, wo sie sich grundlegend erholen können.
Dazu gehören auch stationäre Therapien, Rehabilitationskuren, und wenn es
wirklich tief getroffene Angehörige sind, auch Psychiatrie.
Welche Gefühle kamen noch auf?
Scham- und Schuldgefühle. Manche machen sich selbst Vorwürfe, wenn der Sohn
erschossen wird.
Aber wie kann man sich schuldig fühlen für etwas, was man nicht getan hat?
Schuld ist besser zu ertragen als Ohnmacht. Zu akzeptieren, dass man seine
Kinder nicht rund um die Uhr schützen kann, ist ein unerträglicher Fakt.
Das ist schwerer auszuhalten, als sich selbst die Schuld zu geben. Manche
sagen dann: Hätte ich ihm gesagt, er soll eine Stunde früher nach Hause
kommen, dann wäre das nicht passiert.
Wird eigentlich auch über das mediale Interesse gesprochen?
Die Presse ist vielen Bekannten und Freunden in der kurdischen Community
sehr übel aufgestoßen. Zu viel ist das eine. Zu aufdringlich, respektlos
und voyeuristisch ist das andere. Mit der Kamera draufhalten, egal was
gerade bei den Menschen im Inneren passiert, und das Verdrehen von Worten –
das war Thema. Und viele sind richtig geschockt, dass Angela Merkel Erdoğan
kondoliert hat. [3][Viele Opfer] kommen aus kurdischen Familien, die vor
dem türkischen Faschismus hierher geflüchtet sind und dann hier von einem
faschistischen Mörder getötet werden. Und nun instrumentalisiert der
Faschist Erdoğan diesen Anschlag für sich.
Wie haben die Zeugen oder Angehörigen eigentlich von Ihrem Angebot
erfahren?
Wir sind hier sehr gut eingebunden in Hanauer Strukturen. Ich bin direkt am
Donnerstagvormittag zum kurdischen Verein gefahren und habe gesagt, wer
dort betroffen ist, kann sofort Gespräche mit uns bekommen. Wir sind auch
eingebunden in die [4][Hanauer Initiative Solidarität statt Spaltung]. Wir
haben diese Information in unseren Netzwerken gestreut, die dann auch schon
wieder unterwegs waren in die verschiedenen Communitys in Hanau und das
weitergetragen haben. Es hat mit Sicherheit nicht alle Menschen erreichen
können.
Wie viele Menschen sind hierhergekommen, um die Erstversorgung in Anspruch
zu nehmen? Und was für Menschen?
Da bin ich sehr vorsichtig. Meine Kolleginnen und ich haben uns darauf
geeinigt, keine genaueren Angaben zu den Menschen zu machen. Bisher haben
12 Menschen unsere Hilfe in Anspruch genommen. Die meisten kommen nicht
alleine, sie bringen Freunde, Familie oder Vertraute mit. Das ist auch gut
so, weil, wenn sie wieder gehen, ist es auch besser, wenn jemand bei ihnen
ist. Wir haben auch Termine vereinbart für die nächsten Tage. Bisher waren
Angehörige und Zeugen bei uns. Dieses Angebot bleibt weiter bestehen. Wir
wollten erst nur am Donnerstag zur Verfügung stehen. Aber wir sehen, dass
die staatlichen und städtischen Organisationen nicht in die Gänge kommen.
Es gab auch von der Polizei in Kesselstadt ein Angebot, wo sich Angehörige
beraten lassen konnten.
Ja, und die Polizei informiert und leitet an Fachstellen weiter. Sie
arbeitet auch eng mit der Hanauer Hilfe zusammen, das ist eine Beratung für
Opfer und Zeugen von Straftaten. Dort habe ich auch 19 Jahre gearbeitet.
Die leisten gute Beratungsarbeit. Das ist zum Beispiel auch eine gute
Anlaufstelle, wenn es um die weitere Beratung geht, um Prozessbegleitung
etwa. Die Angelegenheit wird sich ja noch hinziehen für die Betroffenen.
Und jeder Termin, jede Zeugenvernehmung oder Aussage vor Gericht kommt
einem retraumatisierenden Moment gleich.
Brauchen alle Menschen, die einen Terroranschlag miterleben, therapeutische
Hilfe?
75 Prozent der Menschen, die von solchen Verbrechen betroffen sind,
regulieren es selbst über Gespräche mit Freunden, Bekannten oder Nachbarn.
Rund 25 Prozent brauchen darüber hinaus beraterische und therapeutische
Hilfe. Beim Trauermarsch am vergangenen Freitag, wo Betroffene zu Wort
kamen, wo wir die Namen der Opfer genannt haben, da haben wir gemerkt, dass
viel Verarbeitungsarbeit auch unter den Menschen selbst stattfindet. In
Kesselstadt kamen hinterher auch Anwohner aus den Hochhäusern zu den
Angehörigen, viel Verarbeitungsarbeit läuft über Gespräche.
Gibt es aktuell noch andere Angebote in Hanau als die eben genannten?
Es gibt das Praxisinstitut hier über uns, die haben angeboten, mit dem
Jugendzentrum in Kesselstadt zu arbeiten, mit den betroffenen Jugendlichen,
aber auch mit dem Personal, das ja auch extrem belastet ist. Dort sind die
Schwankungen im Verhalten zwischen Ausrasten und tiefer Trauer groß.
Gehen Kinder oder Jugendliche anders mit solchen Ereignissen um?
Teilweise versuchen Jugendliche die Situation in Witzen zu verarbeiten oder
durch Lächerlichmachen. Kleine Kinder rennen auch durch die Gegend und
schießen, sie versuchen, durch spielen zu verarbeiten. Ein Jugendlicher
dort, der getötet wurde, hat sich am Abend noch von dem Jugendzentrum
verabschiedet und war eine Viertelstunde später tot.
Lief die Erstversorgung der Stadt aus Ihrer Sicht gut ab?
Nein. Wenn hier ein Unfall passiert, dann kommen Feuerwehr, Krankenwagen
und Polizei. Wenn jemand auf Gleisen überfahren wird und menschliche Teile
rumliegen, dann gibt es Kriseninterventionsteams, die die Erstversorgung
vor Ort übernehmen. Sie arbeiten mit Zeugen, aber auch mit allen, die dort
vor Ort helfen mussten, Menschen zu retten oder Menschenteile einzusammeln.
Das ist wichtig: Je schneller Hilfe angeboten wird, umso besser und
schneller kommen die Menschen auch darüber hinweg. Aber davon habe ich in
Hanau nichts mitbekommen.
Es war am Mittwochabend kein Kriseninterventionsteam vor Ort?
Da war alles abgesperrt, da war nur die Polizei und hat ermittelt.
Sie klingen grundsätzlich unzufrieden mit der staatlichen Versorgung.
Wenn die Stadt wirklich Hilfe anbieten wollen würde, dann müssten sie
grundsätzlich mit den Kriseninterventionsteams auch Übersetzer mitschicken,
ansonsten tauchen Teams vielleicht auf, aber sie können gar nicht Kontakt
mit den betroffenen Menschen aufnehmen, weil manche kein Deutsch sprechen.
An Übersetzern mangelt es eigentlich, seitdem ich diese Arbeit mache. In
unserer Einrichtung arbeiten auch Menschen aus den Communitys. Sie sind
dann das Bindeglied in kurdische und türkische Communitys. Wir arbeiten
auch mit der Initiative Kein Mensch ist illegal zusammen oder den
Lampedusa-Flüchtlingen – das sind alles Initiativen von unten, genau wie
die Initiative Solidarität statt Spaltung. Initiativen von unten arbeiten
nach Bedarfsorientierung und sind wesentlich schneller und flexibler als
die öffentliche Hand, weil sie direkte Kontakte haben zu Menschen, die hier
betroffen sind. Wenn sie sich durch die Stadt bewegen, merken Sie, dass
viele Menschen mit Migrationshintergrund aufgeregt und wachsam sind. Es
gibt ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis. Es scheint den Leuten nicht zu
genügen, was im Moment gemacht wird.
27 Feb 2020
## LINKS
[1] https://www.traumapaedagogik-ztp.de/
[2] /Trauer-nach-rassistischem-Anschlag/!5665804
[3] /Nach-dem-rassistischen-Attentat/!5664747
[4] /Nach-rassistischem-Anschlag-in-Hanau/!5665545
## AUTOREN
Volkan Ağar
Jasmin Kalarickal
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