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# taz.de -- Reden und Schweigen nach Hanau: Kein Keks für Nazis
> Hanau wird jetzt als Zäsur beschrieben. Waren nicht die NSU-Morde auch
> eine Zäsur? Die mehrmalige Aufdeckung rechter Netzwerke?
Bild: Mahnmal für die Opfer von Solingen
Tag zwei nach Hanau.
„Habt ihr heute in der Schule [1][über Hanau] gesprochen?“
„Nein.“
Schweigen.
Ich krame in mir, um irgendwas Erwachsenes, Vernünftiges zu sagen oder
zumindest gefasst zu reagieren. Ich atme laut aus und merke, o. k., jetzt –
weiß ich nicht mehr weiter. Wie geht das, Sprechen, wenn alles noch im Kopf
herumwabert und nicht wirklich zu Buchstaben, Silben und Sätzen geordnet
werden kann? Alles, was Sinn ergeben könnte, wurde doch schon gesagt,
mehrfach.
Schweigen also.
Früher konnte das Kind noch über Nazis lachen. Als es viel jünger war und
noch auf elterliche Schultern passte, hatte es auf einer 1.-Mai-Demo in
Kreuzberg die Parole „Kein Keks für Nazis“ skandiert und sich sichtlich
darüber gefreut, dass alle Erwachsenen ihren frisch erfundenen Spruch toll
fanden. Bekannte und unbekannte Gesichter lachten das Kind an und freuten
sich mit ihr. Ey super, riefen wir, der Spruch muss auf T-Shirts! Und auf
Ballons! Das Kind quiekte vor Freude über seinen Erfinder*innengeist und
war den ganzen Tag so glücklich, dass es sogar ohne Murren stundenlang in
der Demo mitlief.
Noch viel früher, als ich selbst noch ein Kind war, konnten wir die
Skinheads, oder wie meine Elterngeneration sie nannte, dazlaklar, als
Gruselgeschichte verbuchen. Nazis, hey, die gab’s doch bloß als Foto in der
Deutschlandausgabe der Hürriyet, aber doch nicht in Berlin.
Dann passierte Mölln.
Dann passierte Solingen.
Und plötzlich sprachen meine Eltern und andere Eltern sehr ernst
miteinander. Das leise Türkisch [2][vertrieb die Nazis] nicht aus unserem
Wohnzimmer. Sie waren jetzt da, saßen bei jedem ernsten Schweigen mit am
Esstisch und breiteten sich aus: in den Gesichtern meiner Eltern. In ihren
Plänen für morgen und übermorgen, in den Beteuerungen, die sie an ihre
Eltern in den Telefonaten richteten, wenn diese sich wiederum erkundigten,
dass doch alles in Ordnung sei und dass sie sich keine Sorgen machen
müssten.
Jeder Besuch brachte neue Dazlak-Geschichten ins Haus. Kamen wir ins
Zimmer, wurde das Gespräch abgebrochen. Wir Kinder sollten nicht mit ihrer
Angst belastet werden. Meine erste Demo war eine Demo auf dem Ku’damm gegen
die Anschläge in Solingen. Meine Mutter begleitete mich. Einfach weil sie
nicht wollte, dass ich da alleine hinging. Vermutlich schwiegen wir, als
wir dort mitliefen.
Tag fünf nach Hanau.
„Merhaba.“
„Merhaba.“
„Bir paket sigara verir misiniz? Evet, yesil paket.“
Der Kioskverkäufer reicht mir die Schachtel Zigaretten.
„Yedi Euro.“
Sollte ich fragen, wie es ihm geht? Nach Hanau? Was würde er antworten? Ich
traue mich nicht, da es womöglich ein journalistisches Fragen wäre.
Auf viele Nachrichten von Freunden, Bekannten, Kolleginnen, die mich in den
letzten Tagen fragen, wie es mir geht, habe ich kaum geantwortet. Das hat
eine neue Dimension, dass wir uns gegenseitig abklopfen. Emotionen
zulassen, wenn welche da sind. Meine Emotionen sind zu Hause geblieben
heute, ich muss arbeiten. Der Kioskbesitzer wartet darauf, dass ich meine
Geldbörse einpacke, und nickt mir freundlich zu.
Ich verlasse den Kiosk. Ich wünschte, es gäbe diese alten Bonbonautomaten,
wo man zehn Pfennig oben reinfriemelt, einmal dreht – und schon kommen
unten Bonbonhüllen mit passenden Worten für Trost oder für einen Wutanfall
heraus. Leider gibt es solche Automaten nicht.
Hanau wird jetzt als Zäsur beschrieben. Waren nicht die NSU-Morde auch eine
Zäsur? Oder die mehrmalige Aufdeckung von rechten Netzwerken? Gibt es einen
Plural von Zäsur? Und wenn ja, warum?
Tag neun nach Hanau.
„33 asker şehit yahu!“
Zwei Männer stehen vor dem Simit-Cafè und unterhalten sich beim Rauchen
über die toten Soldaten, die der türkischen Armee angehörten und nun bei
einem Angriff der russischen Luftwaffe in [3][Idlib in Syrien] getötet
wurden. Ich gucke auf Twitter, was los ist. Die Ereignisse haben sich in
der Nacht überschlagen. Tausende von geflüchteten Menschen machen sich seit
heute Nacht an die türkisch-bulgarische Grenze auf, weil die türkische
Regierung ein 72-Stunden-Fenster aufmachte und verkündete, dass keine
Grenzkontrollen auf türkischer Seite stattfinden würden.
Das Simit-Café ist gut besucht, was mich wundert. Der Alltag ist
zurückgekehrt. Oder vielleicht ist es auch nur die Simulation des Alltags,
die vor dem Schweigen schützt.
29 Feb 2020
## LINKS
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[3] /Krieg-in-Syrien/!5667863
## AUTOREN
Ebru Tasdemir
## TAGS
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Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
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Idlib
Schwerpunkt Rassismus
Türkei
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