# taz.de -- Falscher Umgang mit der Tat von Hanau: Ich bin kein Opfer | |
> Auch nach dem Anschlag in Hanau tun wieder alle so, als betreffe | |
> Rechtsextremismus nur die „anderen“. | |
Bild: Absperrungen an einer Shishabar, einem der Tatorte des Hanauer Anschlags | |
Am Morgen nach dem Anschlag in Hanau herrschte bei mir zu Hause der | |
Ausnahmezustand. Meine Mitbewohnerin, Schwarze Deutsche, kam hektisch in | |
die Küche auf der Suche nach ihrem Handy. Sie hat mehrere Cousins in Hanau. | |
Leben sie noch? Diese absurde, grausame Frage hallte in meinem Kopf wider, | |
unaufhörlich. | |
Meine Mitbewohnerin versuchte ihre Verwandten zu erreichen. Erst hob | |
niemand ab, dann der Rückruf. Die Spannung löste sich in Weinen auf. Bei | |
uns beiden. Familien und Freunde von neun Menschen in Hanau hatten dieses | |
Glück nicht. Neun Menschen tot, außerdem die Mutter des mutmaßlichen Täters | |
und der Täter selbst. Das Leben von Hunderten von Menschen zerstört. Für | |
diese Angehörigen und Freunde gibt es ab jetzt nur noch ein Leben vor Hanau | |
und danach. Für sie wird nichts mehr so sein wie zuvor. | |
Von der Politik kommen Beileidsbekundungen. Jetzt haben wir es verstanden, | |
aber wirklich. Sogar bei Horst Seehofer ist der Groschen gefallen (mal | |
schauen, wie lange er liegen bleibt, sollte es noch mal einen | |
islamistischen Anschlag geben). Rechtsextremismus sei [1][die größte | |
Bedrohung für Deutschland], sagte er nach dem Anschlag in Hanau. Die | |
Polizeipräsenz vor Moscheen solle verstärkt werden. Seehofer sagte sogar, | |
dass man mit dem Verweis auf Linksextremismus nicht die Gefahr durch den | |
Rechtsextremismus relativieren dürfe. Ach was. | |
Es ist gut, dass diese Erkenntnisse inzwischen auch in der Politik | |
angekommen sind. Es ist gut, wenn Moscheen beschützt werden. Nur: All das | |
ändert nichts an meinem und dem Gefühl vieler Menschen, „anders“ zu sein … | |
diesem Deutschland. Das Gefühl war da, als die NSU-Terrorzelle aufflog. Es | |
war da, als die AfD im Bundestag einzog. Es war da, als in Thüringen ein | |
Ministerpräsident mit der Hilfe eines Faschisten an die Macht kam. Und es | |
ist jetzt da. Nachdem ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen tötete, | |
weil er sie als „anders“ definierte. | |
## Mir reicht's | |
Ich habe, ehrlich gesagt, keine Lust mehr, dieses Gefühl ständig zu | |
erklären. Mich zu beschweren, wenn Medien zum tausendsten Mal von | |
[2][„Fremdenfeindlichkeit“] sprechen. Mich aufzuregen, dass in der | |
Bundesregierung zwar drei Saarländer vertreten sind, aber niemand mit | |
Migrationshintergrund. Schockiert zu sein, dass im Land der Schoah | |
Rechtsextremisten Parlamentarier sein können. Mir reicht’s. | |
Wir führen nach jedem rechtsextremistischen Anschlag, nach jedem Auffliegen | |
rechtsradikaler Gruppen immer wieder dieselbe Debatte. Entweder geht es um | |
Muslime oder um Juden. Auch dieses Mal. Die Integrationsbeauftragte der | |
Bundesregierung schlug nach den Morden von Hanau eine Expertenkommission | |
vor, die Muslimfeindlichkeit bekämpfen soll. Weil nur Muslime in Shishabars | |
gehen? | |
Wir drehen uns spätestens seit der Aufdeckung der NSU-Morde im Kreis. | |
Rechtsextremismus wird externalisiert. Er betrifft die anderen. Er betrifft | |
Menschen mit Kopftüchern, mit Kippa oder mit Davidstern. Wie wunderbar | |
einfach. Damit lassen wir uns den Diskurs seit Jahren von Rechten | |
aufzwingen. Warum sollte die sogenannte Mehrheitsgesellschaft gegen rechts | |
aufbegehren, wenn es doch nur „die anderen“ betrifft? | |
## Merkmale einer vermeintlichen Andersartigkeit | |
Ja, Menschen, die Merkmale einer vermeintlichen Andersartigkeit tragen, | |
sind stärker gefährdet. Mich griff einmal ein Mann an, weil ich wie eine | |
„Scheißkanake“ aussehe, er attackierte mich erst verbal, dann körperlich. | |
Aber davor hätte mich Polizeipräsenz vor Moscheen auch nicht beschützen | |
können. Beschützen können hätten mich die Dutzenden Menschen um mich herum, | |
von denen nicht eine Person einen Finger rührte. | |
An jenem Tag fasste ich den Entschluss: Ich bin kein Opfer. Ich will auch | |
keine Beileidsbekundungen. Meine Verwandten sind nicht ermordet worden. | |
Wozu brauche ich Mitleid? Weil ich so arm dran bin, | |
Migrationshintergrund zu haben? Nein, danke. Ich lasse mich auch nicht | |
immer wieder als Teil einer marginalisierten, diskriminierten Gruppe | |
darstellen. Ich bin in einem anderen Land geboren, ja. Ich sehe äußerlich | |
nicht so aus, als würden meine Vorfahren seit Jahrhunderten auf diesem | |
Flecken Erde leben. Na und? | |
Als Walter Lübcke ermordet wurde, schrieben viele Medien von einer „Zäsur�… | |
Menschen, die seit Jahren von rechtem Gedankengut betroffen sind, konnten | |
da nur bitter lachen. Aber das war wenigstens ehrlich. Ja, | |
Rechtsextremismus betrifft in seinem ganzen Ausmaß jeden Menschen einer | |
Gesellschaft: Homosexuelle, politisch Aktive, Politiker*innen, | |
Journalist*innen, Frauen – alle außer die Rechtsextremen selbst. Aber | |
das hat Deutschland immer noch nicht verstanden. Lieber macht die | |
Gesellschaft uns zu Opfern, spricht uns das Beileid aus, hält Mahnwachen. | |
Das reicht nicht mehr. | |
Nachdem Björn Höcke in Thüringen zeigte, wie weit man als Faschist in | |
diesem Land (wieder) kommen kann, saß ich mit meiner besten jüdischen | |
Freundin zusammen. Wir überlegten: Wann ist es Zeit, das Land zu verlassen? | |
Es gibt für mich keine Rückkehr nach Iran, dem Land, in dem ich geboren | |
wurde. Dort wartet im besten Falle das Gefängnis auf mich, im schlechtesten | |
Fall der Tod. Dennoch mein Schluss: Ändert sich nicht bald etwas in | |
Deutschland, werde ich meine Emigrationspläne konkretisieren. Auswandern in | |
ein Land, in dem es nicht alle paar Monate rechtsextreme Anschläge gibt. | |
## Mit erhobenem Kopf | |
Mir ist bewusst, dass nicht alle Menschen den Luxus haben, das Land, ihre | |
Heimat Deutschland verlassen zu können – nein, zu wollen. Die meisten | |
kennen überhaupt keine andere Heimat als Deutschland. Aber dieses Gefühl | |
anders zu sein, das auch ich in mir trage, wird mit jedem Ereignis wie in | |
Hanau verstärkt, es bleibt tief in Herz und Seele der Menschen, es bleibt. | |
Deutschland steht am Scheideweg. Viele Menschen werden nicht mehr hier | |
leben wollen, werden gehen oder gar nicht erst kommen. Deutschland würde | |
nicht nur wirtschaftlich arm, sondern in jeder anderen Hinsicht auch. | |
Langweilig, isoliert, irrelevant. Deutschland müsste den Menschen, die | |
trotz allem hier bleiben und das Land lieben, jeden Tag die Füße küssen. | |
Sollte ich eines Tages gehen wollen, fühle ich mich dabei weder schwach | |
noch ängstlich. Ich werde nicht mit eingezogenem Schwanz gehen, sondern mit | |
erhobenem Kopf. Ich bin hier nicht das Opfer, sondern Deutschland. | |
23 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Gilda Sahebi | |
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