# taz.de -- Autorin Olivia Wenzel über Identität: „Coming-out als Nicht-Wei… | |
> In „1000 Serpentinen Angst“ erzählt die Autorin vom Aufwachsen als | |
> schwarze Person in Ostdeutschland. Und sie spricht vom Glück im Leben. | |
Bild: Olivia Wenzel: Die Protagonistin treibt vor allem die Frage um, wo ihr Pl… | |
Olivia Wenzel sitzt in einem Café in Berlin, die Mittagssuppe schon auf dem | |
Tisch. Mit dem Interview müssten wir kurz warten, sie habe noch ein paar | |
Sachen für die Buchpremiere zu regeln – und bedient Telefon und Laptop | |
gleichzeitig. An diesem Mittwoch erscheint „1000 Serpentinen Angst“. Es ist | |
die Geschichte einer jungen Frau, ihrem Leben mit einer Angststörung, dem | |
Verlust ihres Bruders und der Frage nach Zugehörigkeit. | |
taz: Frau Wenzel, ist Ihr Buch eine Art Coming-out als Ostdeutsche? | |
Olivia Wenzel: Es ist eher ein „Coming-out of not being white“, ein | |
Coming-out als Nicht-Weiße. In den ersten Theaterstücken, die ich | |
geschrieben habe, ist das gesamte Personal weiß, und ich habe es nicht | |
einmal gemerkt. Dann war ich in einem Workshop vom Ballhaus Naunynstraße, | |
und da wurde mir bewusst, dass ich eigentlich nur weiße Menschen denke, | |
wenn ich schreibe. Danach habe ich Stücke geschrieben, in denen dieser | |
Aspekt auftauchte, aber erst jetzt mit dem Buch ist es zu einem zentralen | |
Thema geworden. | |
Die Mutter der Protagonistin war eine in der DDR eingesperrte Punkerin, die | |
Großmutter ist eine linientreue SEDlerin. Welche Rolle spielt diese | |
Herkunft im Buch? | |
Ich hatte beim Schreiben das Gefühl, dass die Protagonistin vor allem die | |
Frage umtreibt: Wo ist mein Platz in der Welt? Und diese Frage ist | |
gekoppelt an die Frage, wo komme ich her und was sind die Plätze, auf denen | |
meine Familie vorher saß? | |
Die Geschichte beginnt mit der Ankunft der Protagonistin in den USA, dort | |
erlebt sie den Wahlkampf 2016 mit. Der erste und der letzte Teil des Buchs | |
sind in Fragen und Antworten strukturiert. Eine Frage wiederholt sich dabei | |
immer wieder: Wo bist du jetzt? Frau Wenzel, wo sind Sie jetzt? | |
Mit dem Kopf an verschiedenen Baustellen. Halb bei der Familie, halb bei | |
der Buchpremiere und halb beim nächsten Projekt. Emotional bin ich, wenn es | |
kurz mal ruhig ist, bei Hanau und ziemlich wütend. Mich macht das sehr | |
traurig. Ich frage mich: Wann wird da noch einmal etwas breiter drauf | |
reagiert politisch? | |
Was wünschen Sie sich? | |
Mely Kiyak hat das auf den Punkt gebracht: Es ist schade, dass Merkel nicht | |
gleich nach Hanau gefahren ist und kondoliert hat. Sie kommt erst jetzt. | |
Stattdessen gab es eine Rede auf dem Marktplatz, [1][zu der dann die | |
Angehörigen der Opfer selbst hingehen mussten.] Die Politik kommt nicht zu | |
den Angehörigen, sondern wieder müssen sie zur Politik gehen. Mir fehlt | |
auch ein ernsthaftes, öffentliches Nachdenken darüber, die AfD zu | |
verbieten. | |
Eine andere Frage, die im Buch oft vorkommt, ist: Was unterschlagen Sie | |
jetzt gerade? | |
Ich unterschlage gern, wie viel harte Arbeit dieses Buch war. Ich | |
unterschlage im Alltag relativ oft, laut, empört und wütend zu sein. Ich | |
bin bei Konfrontationen im Alltag immer erst freundlich und versuche, | |
charmant Sachen zu regeln, aber ärgere mich oft im Nachhinein darüber. | |
Über diese Fragen entspinnt sich im Buch eine temporeiche Geschichte, ein | |
Rückblick, ein Stellung Nehmen. Es geht um eine Liebesbeziehung, um | |
Rassismus, einen gestorbenen Bruder. Wer ist die fragende Person? | |
Ich nenne das immer die fragenden Instanzen und Sprechweisen. Am Anfang | |
sind das ganz verschiedene Stimmen. Zu den Fragen inspiriert hat mich mal | |
eine Schlagzeile von Buzzfeed oder mal etwas, das ich im Vorbeigehen von | |
anderen Leuten gehört habe. Die Texte kommen „von überall“, die Fragen | |
orientieren sich am politischen Zeitgeschehen, sind psychologisch oder | |
teilweise auch Verhörsituationen, wie bei einer Einreise in die USA. Und | |
später wird es eher ein Zwiegespräch der Protagonistin mit sich selbst. | |
Ich habe die Fragen auch als Unmöglichkeit gesehen, mit sich selbst zu sein | |
und das fragende Gegenüber auszublenden. | |
Viele Menschen und ihre Körper sind marginalisiert und dadurch daran | |
gewöhnt, sich im Außen zu bespiegeln und zu überlegen: Wie wirke ich in | |
dieser Situation? Wenn ich etwa auf einem Platz im Bus der BVG sitze und | |
stehe als Allererste auf, wenn eine ältere Frau den Bus betritt, [2][dann | |
tue ich das nicht nur, weil ich höflich bin.] Ich tue das auch, weil noch | |
mitschwingt, dass ich hier gerade etwas repräsentiere. Ich möchte das Gute | |
repräsentieren, sodass man sagen kann: Schauen Sie, diese junge Schwarze | |
Frau war sehr höflich zu Ihnen. In den USA nennt man das double | |
consciousness, ein doppeltes Bewusstsein, dieses sich selbst Betrachten von | |
außen. | |
Sie sind Musikerin, Performerin, Dramaturgin – was können Sie mit dem Buch | |
ausdrücken, was Sie in diesen Bereichen nicht können? | |
Ich habe viel mehr Raum, kann ausgiebiger sprechen und denken. Eigentlich | |
arbeite ich am liebsten im Kollektiv und das bedeutet, dass viele Inhalte | |
von anderen Personen in meine Arbeit einfließen. Eine wichtige Arbeit war | |
beispielsweise das Theaterstück „Die Erfindung der Gertraud Stock“. Da | |
haben wir mit dem Kollektiv Vorschlag:hammer 14 Frauen über 80 interviewt | |
und deren Biografien fragmentarisch zu einer großen Biografie verstrickt. | |
Dieses Muster habe ich unbewusst für das Buch übernommen. Bei dem Stück | |
stehen wir auf der Bühne und ziehen uns die Biografien der älteren Damen | |
an, als wären sie unsere eigenen, bringen dabei unsere eigenen Inhalte ein. | |
Beim Buch habe ich allerdings auch häufig mit autobiografischem Material | |
gearbeitet. | |
Wie viel Olivia Wenzel steckt in der Protagonistin des Buches? | |
Diese Frau in dem Buch, das bin ich nicht. Aber was sie schildert und wie | |
sie spricht, das kann ich nachvollziehen. Wir haben viele ähnliche Dinge | |
erlebt. Ich würde sagen, sie ist eine düsterere Variante von mir selbst, | |
die ich im Alltag nicht aushalten könnte, zu sein. | |
Die Protagonistin wie auch Sie sind aus Thüringen weggezogen. Beschäftigt | |
Sie das Thema? | |
Damals nicht, rückblickend ja. Ich bin weggegangen, weil ich irgendwo sein | |
wollte, wo es besser für mich ist. Und als ich das dann hatte, wurde es für | |
mich schwierig, in die Enge zurück zu fahren. Ich habe in Hildesheim | |
studiert. Als ich dort Bus gefahren bin, habe ich nach ein paar Stationen | |
gemerkt: Ich schaue mich nicht die ganze Zeit um, ob irgendwo Nazis sitzen. | |
Und ich schaue auch nicht, wer mit mir aussteigt. Erst in diesem Moment | |
alltäglicher Entspannung habe ich gemerkt, dass mir dieser Grad der | |
Entspannung vorher nicht möglich war. Diese Angst ist deshalb auch Thema | |
des Buches. Von dieser Angst weg zu sein, das ist gut und wichtig. | |
Rassistische Gewalt ist im letzten Jahr auch in Westdeutschland sehr | |
sichtbar geworden, zuletzt in Hanau. Kann man sich als Person of Colour in | |
Deutschland überhaupt noch sicher fühlen? | |
Man muss es versuchen, sonst muss man weggehen, so wie viele aus dem Osten | |
weggehen. Ich persönlich fühle mich in meinem Umfeld sicher und | |
wertgeschätzt. Aber ich weiß auch, dass das schnell einbrechen kann, auch | |
in Kreuzberg oder Neukölln. In dem Buch unternehme ich den Versuch zu | |
sagen, dass ich nicht permanent vor all diesen Dingen Angst haben kann, | |
weil dann das Leben zu anstrengend wird. Ich kann auch nicht permanent an | |
Häuserwänden hochschauen, ob was runter fällt, was mich erschlägt. Es ist | |
ja doch immer noch wahrscheinlicher, dass ich bei einem Verkehrsunfall | |
sterbe als bei einem rassistischen Übergriff. So beschissen das alles ist | |
und so sehr sich das gefühlt gerade häuft, so sehr ist es trotzdem so, dass | |
jeder meiner Tage in Berlin ziemlich okay ist. | |
Im Buch gibt es diesen Dialog: „Freust du dich auf alles, was kommt?“ Die | |
Antwort: „Merkwürdigerweise ja.“ Sind Sie ein zuversichtlicher Mensch, Frau | |
Wenzel? | |
Absolut. Ich glaube, dieses Jahr wird sehr gut für mich sein. Ich hatte | |
viel Glück im Leben. | |
5 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Katrin Gottschalk | |
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