| # taz.de -- Frankfurter Buchmesse 2020: Von wegen forever young | |
| > Ella Carina Werners 33 Kurzgeschichten erzählen humorvoll aus dem Leben | |
| > von Frauen ab 40. Es geht um Tanten, Onkel und das Matriarchat. | |
| Bild: Frau sein und vierzig, das entspannt: Autorin Ella Carina Werner | |
| Es gibt Superfruits zum Frühstück, Luftbefeuchter für die Atemwege und | |
| Joggingstrecken bis in den Tod. In den Gegenwartsanalysen der letzten Jahre | |
| lässt sich hier und da immer wieder lesen, wie jung wir uns alle fühlen und | |
| auch bleiben. 40 ist das neue 30! Diese [1][„Forever young“-Fantasien] | |
| raubt Ella Carina Werner ihren Leser*innen gleich zu Beginn ihres neuen | |
| Buchs „Der Untergang des Abendkleides“. | |
| In der ersten von 33 Kurzgeschichten wird die Protagonistin 40 Jahre alt | |
| und kann der ganzen Sache durchaus ein paar Vorteile abgewinnen. Als Frau | |
| könne man sich ab 40 Bleistifte oder ganze Schokoriegel unter die Brüste | |
| klemmen (praktisch!) und endlich in Ruhe träumen, da niemand mehr rufe: „Ja | |
| geil, mach das doch! Die Welt steht dir offen!“ Vielmehr stehe einem die | |
| Welt überhaupt nicht mehr offen: „Das ist das Gute. Das nimmt den Druck | |
| raus, entspannt.“ Und: „Mit vierzig darf man Dinge verniedlichen.“ | |
| Ella Carina Werner selbst findet vieles niedlich, blickt dennoch sehr genau | |
| auf sich und ihre Mitmenschen, mit Liebe und Spürsinn für Dissonanzen in | |
| ihrer Umgebung. Ein wiederkehrendes Motiv sind die Betrachtungen von | |
| Personen, die „eigentlich ganz anders“ sind. Etwa eine Tante, die in der | |
| S-Bahn ohne Fahrschein erwischt wird. | |
| Den Fehler gibt sie nicht zu, erklärt dem Kontrolleur stattdessen, warum | |
| ihr das gar nicht passieren könne: „Jetzt schauen Sie mich einmal an. Ich | |
| bin eine Frau. Ich bin über sechzig. Ich trage handgenähte Pumps. Ich bin | |
| das Gegenteil eines klassischen Schwarzfahrers. Ich bin Lehrerin. | |
| Pensionierte Gymnasiallehrerin, Deutsch und Latein. Ego in finem!“ | |
| Furios auch der Onkel, der mitten in einem Restaurant wortreich das | |
| Patriarchat beendet, seine Nichte dabei nicht zu Wort kommen lässt, sie zu | |
| mehr Eigenständigkeit ermahnt und sie am Ende nicht die Rechnung zahlen | |
| lässt. | |
| Aber wie könnte das Matriarchat aussehen? Die Antwort gibt es ein paar | |
| Seiten früher schon: „In den Chefetagen sitzen viele hoch qualifizierte | |
| Frauen. Und viele unqualifizierte, das ist wichtig, ja besonders viele von | |
| den unqualifizierten, historische Gerechtigkeit muss sein.“ Der Humor | |
| funktioniert, weil er die eigene Lebenswelt auf die Schippe nimmt, aber | |
| sich nicht einfach darüber lustig macht – sondern überdreht, was da ist. | |
| ## Eigene Lebenswelt auf die Schippe nehmen | |
| Die neuen Geschichten handeln von feministischen Themen: gleichberechtigte | |
| Partnerschaft, Kinder, Menopause, Körperbehaarung und Feminismus an und für | |
| sich. Aktuelle Debatten wie zum Beispiel über Intersektionalität fehlen | |
| allerdings und mit fortgeschrittener Lektüre des Buches wird das Fehlen zu | |
| einer manifesten Leerstelle. | |
| Wie weiße Frauen klug und humoristisch mit den eigenen | |
| Ausschlussmechanismen umgehen können, scheint noch ein nicht bestelltes | |
| Feld zu sein. Dabei wäre Ella Carina Werner auf jeden Fall eine heiße | |
| Kandidatin dafür, eine Sprache zu finden, die sich nicht in Stereotypen | |
| verfängt, die zusammenbringt und trotzdem stachelig ist. | |
| Ella Carina Werner ist die Tochter einer Bauchtänzerin, ganz im Ernst. | |
| Darüber schrieb sie 2012 in ihrem Roman „Die mit dem Bauch tanzt“. Es ist | |
| die Geschichte einer Frau, die Ende der Achtziger in Ostwestfalen | |
| beschließt, als „Shahzadi“ zu tanzen. Nach und nach wird die ganze Familie | |
| eingebunden. Aus heutiger Perspektive würde das wohl als kulturelle | |
| Aneignung gelten. | |
| Der Vater, in der Bauchtanzwelt der Mutter als „Mustafa“ auftretend, ist | |
| Psychologe. Beide Eltern beeinflussen sicherlich den spezifischen | |
| Werner-Stil: sich selbst nicht allzu ernst nehmen, das Gegenüber nicht mit | |
| Witz zerstören, sondern in liebevollen Wendungen entkleiden, quasi mit | |
| Blicken sezieren. | |
| Werner hat eine sehr gute Menschenkenntnis. Tiefe Einsichten in die Träume | |
| und Tiefen ihrer Mitmenschen konnte sie gewinnen mit dem Band „Ich glaube, | |
| ich bin jetzt mit Nils zusammen“. 2014 veröffentlichte sie diesen zusammen | |
| mit Nadine Wedel, es ist eine Sammlung aus alten Tagebucheinträgen von | |
| Freund*innen und Bekannten. | |
| Auch hier ist das Leitmotiv: über sich selbst lachen können. Die tägliche | |
| Fingerübung dafür ermöglicht Werner ihre Arbeit als Redakteurin des | |
| Satiremagazins Titanic. Ihre Texte erschienen außerdem in Missy Magazine, | |
| FAZ und Zeit Online. Und auch für [2][die Wahrheit der taz] schreibt die | |
| freie Autorin regelmäßig. | |
| ## Drei Freundinnen im Tretbot | |
| „Der Untergang des Abendkleides“ ist ein wunderbar kurzweiliger Erzählband. | |
| Er kommt gerade recht zum Corona-Herbst, der mancher Geschichte noch einen | |
| besonderen Spin gibt. | |
| Zum Beispiel der von drei Freundinnen in einem Tretboot. Sie fragen sich, | |
| wer wohl als Erste von den anderen gegessen werden müsste, würden sie auf | |
| einer einsamen Insel stranden. In Coronazeiten hieße das: Wer ist | |
| systemrelevant? Lisa: „Ich bin wertvoll. Ich bin Steuerklasse 1.“ Kirsten: | |
| „Ich habe die meisten Kinder.“ Ella: „Na gut, nehmt mich. Aber bitte ohne | |
| Barbecue-Soße.“ | |
| 14 Oct 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Emanzipation-des-Alterns/!5051781 | |
| [2] /Die-Wahrheit/!5715906 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Gottschalk | |
| ## TAGS | |
| Frauen | |
| Literatur | |
| Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
| Literatur | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Literatur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Frankfurter Buchmesse 2020: Läuft wie am Schnürchen | |
| Zu Gast beim Blauen Sofa. Bücher, Themen, Thesen am Fließband und eine | |
| menschenfreundliche Autorin am zweiten simulierten Buchmessentag. | |
| Autorin Olivia Wenzel über Identität: „Coming-out als Nicht-Weiße“ | |
| In „1000 Serpentinen Angst“ erzählt die Autorin vom Aufwachsen als schwarze | |
| Person in Ostdeutschland. Und sie spricht vom Glück im Leben. | |
| Paula Irmschlers Roman „Superbusen“: Innenansichten aus Chemnitz | |
| Paula Irmschler erzählt in ihrem Romandebüt „Superbusen“ vom Alltag mit | |
| Nazis im Osten, der Waffe der Ironie – und der Kraft der Musik. |