| # taz.de -- Paula Irmschlers Roman „Superbusen“: Innenansichten aus Chemnitz | |
| > Paula Irmschler erzählt in ihrem Romandebüt „Superbusen“ vom Alltag mit | |
| > Nazis im Osten, der Waffe der Ironie – und der Kraft der Musik. | |
| Bild: Paula Irmschler wurde 1989 in Dresden geboren und zog 2010 nach Chemnitz | |
| Hitlergrüße, Hetzjagden, Angriffe: seit dem 26. August 2018 schaut | |
| Deutschland auf Chemnitz. Auch internationale Medien wie die New York Times | |
| berichten von den Naziaufmärschen und Ausschreitungen in der sächsischen | |
| Stadt. Plötzlich ist Chemnitz überall. Einen Tag später gibt es einen | |
| ersten kleinen Gegenprotest und den Schock: Die Nazis sind in der Überzahl, | |
| sie greifen an. An dieser Stelle setzt Paula Irmschlers Romandebüt | |
| „Superbusen“ ein. | |
| Für die Protagonistin Gisela ist Chemnitz eine Hassliebe: Einerseits ist | |
| die „Stadt mit den drei o“ – Korl-Morx-Stodt – grau in grau statt bunt … | |
| vielfältig, andererseits ist es der Ort, an dem Gisela im WG-Rausch lebt, | |
| Freundschaften schließt, die Band Superbusen gründet. Für sie wird Chemnitz | |
| zur Spielwiese, auf der sie sich ausprobieren kann. | |
| Gisela kommt aus Dresden. Sie will dort weg, aus dieser Stadt, in der alles | |
| schön sein muss und alle Einwohner*innen alles schön finden müssen. Also | |
| geht sie nach Chemnitz. Aber auch die alte Industriestadt, früher das | |
| „Manchester des Ostens“, lässt sie schließlich hinter sich. Als sie im | |
| August 2018 zurückkommt, lebt sie seit sechs Monaten in Berlin. | |
| Weggehen aus Ostdeutschland und was das mit denjenigen macht, die bleiben – | |
| auch das ist ein Thema von „Superbusen“. Wenn die Zurückgelassenen nicht | |
| das Gefühl von [1][„#Wirsindmehr“] haben, [2][sondern sich mit den Nazis | |
| der Nachbarschaft irgendwie arrangieren müssen.] Arrangieren im Sinne von | |
| sich routiniert vor ihnen verstecken – oder mit Burn-out den Kampf gegen | |
| Nazis andere kämpfen lassen. Arrangieren im Sinne von Alltag. | |
| ## Irmschler erklärt nicht, Irmschler beschreibt | |
| Aus ostdeutscher Perspektive könnte das Buch furchtbar schiefgehen. Es ist | |
| zu verführerisch, alles erklären zu wollen, Stempel zu vergeben. Mehr Nazis | |
| im Osten wegen mangelnder Demokratieerfahrung und so weiter. Aber Irmschler | |
| erklärt nicht, Irmschler beschreibt. Beschreibt das Leben einer Frau in | |
| ihren Zwanzigern, heute in Deutschland. Es geht um Sexismus, Abtreibung, | |
| Liebeskummer, den Umgang mit dem eigenen Körper, Lieblingsmusik, | |
| Freundinnenschaft. | |
| Irmschler beschreibt auch das Aufwachsen in Ostdeutschland, wo „eine aus | |
| dem Westen“ noch Ende der Neunziger eine Besonderheit war. Wo die DDR, wenn | |
| auch quasi seit Geburt nicht mehr existent, in den Erzählungen dauerpräsent | |
| ist: „‚Zu DDR-Zeiten war alles noch so und so.‘ Und dann gab es einen | |
| Schnitt, und dann muss alles ganz anders gewesen sein. ‚Nach der Wende‘ | |
| passierte dann auch wieder Unglaubliches. Was auch immer diese Wende war.“ | |
| Irmschler ist 1989 in Dresden geboren und zog 2010 für ihr Studium nach | |
| Chemnitz – später zog es sie nach Köln, wo sie als Garderobiere arbeitete �… | |
| ihr Fachwissen kommt im Buch zum Einsatz und ergibt eine Art | |
| Wie-verhalte-ich-mich-beim-Sachen-Abgeben-Knigge. Sie arbeitete als freie | |
| Autorin für Jungle World, Missy Magazine und Musikexpress, als Kolumnistin | |
| für das Neue Deutschland, heute ist sie Titanic-Redakteurin. Den nötigen | |
| Humor dafür hat sie. Er strömt aus jeder Seite ihres Buchs. Nicht in Form | |
| von „brüllend komisch“, sondern von ironisch. | |
| Überhaupt ist Ironie im Buch eine Taktik, Sachen gut zu finden, von denen | |
| man denkt, sie gingen mittlerweile gar nicht mehr. Etwa Musik aus den 90ern | |
| von *NSYNC bis zu den Vengaboys, zu denen die Protagonist*innen nur noch | |
| „ironisch tanzen“ können. Oder sie finden schlechtes Essen ‚ironisch | |
| lecker‘ und benennen es wie einen Klassiker: Nudeln Sassonia, ein | |
| „Arme-Leute-Ossi-Essen“. | |
| Die Ironie zwischen sich und ihrem Leben weicht bei Gisela schließlich | |
| stückchenweise auf. Und so ist „Superbusen“ ein spätes Coming-of-Age-Buch, | |
| die Geschichte einer jungen Frau, die zu sich selbst findet. Leider ist die | |
| Entwicklung etwas distanziert. Von Giselas Kindheit und Jugend in Dresden | |
| erzählt Paula Irmschler in der Vergangenheit, aber auch von der Zeit in | |
| Chemnitz. Es gibt nur wenig Gegenwart. So ist die Geschichte etwas fern. | |
| Andererseits: Manche Diskussionen ändern sich schlicht nicht. So beschreibt | |
| das Buch die Reaktionen auf das „Wir sind mehr“-Konzert und die Forderung, | |
| es dürfe nicht zu linksextrem zugehen. Irmschler kommentiert die | |
| Bedenkenträger*innen: „Was für Arschlöcher.“ Anderthalb Jahre später wu… | |
| in Thüringen kurzzeitig ein Mann mit den Stimmen von AfD, FDP und CDU | |
| Ministerpräsident und rechtsextremer Terror hat zehn Menschen in Hanau das | |
| Leben gekostet. | |
| „Superbusen“ erzählt die unerträgliche Schwere des Seins in Deutschland, | |
| warum „3 Millionen“ von Bosse der perfekte Soundtrack für den Schmerz ist | |
| und warum Musik eigentlich eine gute Antwort auf ziemlich viele Fragen ist. | |
| 28 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://twitter.com/WirSindMehr_ | |
| [2] /Debuetroman-von-Manja-Praekels/!5472977 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Gottschalk | |
| ## TAGS | |
| Literatur | |
| Pop | |
| Chemnitz | |
| Literatur | |
| Satire | |
| Roman | |
| Frauen | |
| taz.gazete | |
| deutsche Literatur | |
| Literatur | |
| deutsche Literatur | |
| Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
| Schwerpunkt Landtagswahlen | |
| Literatur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer Roman von Paula Irmschler: Zwei Frauen, kein Drama | |
| Paula Irmschler erzählt von Mutter und Tochter, mit Liebe für Neurosen. | |
| „Alles immer wegen damals“ setzt einen neuen Ton in der ostdeutschen | |
| Literatur. | |
| Titanic-Chefredakteurin über Satire: „Humor hat viel mit Macht zu tun“ | |
| Julia Mateus ist seit 100 Tagen Chefredakteurin des Satiremagazins | |
| „Titanic“. Über ihre Doppelrolle als weibliche Führungskraft und | |
| Satirikerin. | |
| Autorin über weibliche Lebensrealität: „Instagram macht alles schlimmer“ | |
| Paula Irmschler liest viermal im Norden aus ihrem Roman „Superbusen“. Ein | |
| Gespräch über Chemnitz, Antifa und Körperbilder. | |
| Frankfurter Buchmesse 2020: Von wegen forever young | |
| Ella Carina Werners 33 Kurzgeschichten erzählen humorvoll aus dem Leben von | |
| Frauen ab 40. Es geht um Tanten, Onkel und das Matriarchat. | |
| Kulturszene in Sachsen und die AfD: Generalstreik in Radebeul | |
| Der Rechtsaußen Jörg Bernig wurde zum Kulturamtsleiter in der sächsischen | |
| Kleinstadt gewählt. Die Kulturszene reagiert mit einem Protestbrief. | |
| Debütroman „Taubenleben“: Blitzgewitter im Hirn | |
| Paulina Czienskowski schildert die existenzielle Krise einer jungen Frau. | |
| Zwischen Erinnerungen und Angst findet diese zu sich selbst. | |
| Lutz Seilers Wenderoman „Stern 111“: Die gute alte Schwärze | |
| Woher kommt der innere Druck, das Gefühl des Nichtgenügens? Lutz Seilers | |
| großer Wenderoman „Stern 111“ entwirft ein ostdeutsches Großpanorama. | |
| Leseshow in Berlin: Literatur im Labor | |
| Es ist mutig, aus unfertigen Romanen zu lesen. Aber genau das verlangt | |
| „Kabeljau & Talk“. Am Samstag stellte sich dem die Autorin Bettina Wilpert. | |
| Editorial zum Dossier nach Hanau: Offene Grenzen | |
| Eine Allianz aus Wutbürgern und rechten Ideologen hat 2015 die Grenzen | |
| geöffnet – für bis dahin nicht Sagbares | |
| Ostdeutsche über Landtagswahlen: Was hilft denn nun gegen rechts? | |
| Rassismus, prügelnde Feuerwehrmänner und die Frage, ob Bautzner Senf der | |
| Demokratie hilft. Fünf Ostdeutsche diskutieren am Küchentisch. | |
| Statements von SchriftstellerInnen: Literatur als Zeichen gegen Rechts | |
| Welche Ansprüche stellt Rechtspopulismus an Romane, Gedichte und | |
| Sachbücher? Vier Statements. |