# taz.de -- Leseshow in Berlin: Literatur im Labor | |
> Es ist mutig, aus unfertigen Romanen zu lesen. Aber genau das verlangt | |
> „Kabeljau & Talk“. Am Samstag stellte sich dem die Autorin Bettina | |
> Wilpert. | |
Bild: Alicia Baier (l.), Friederike Beier, Bettina Wilpert, Lara Sielmann und V… | |
Aus dem Berliner Nieselregen geht es in das rot gemalte Treppenhaus, zwei | |
Stockwerke hoch, in den Roten Salon, der seinem Namen alle Ehre macht. Auf | |
der einen Seite die Bar, auf der anderen das Podium und dazwischen Stühle, | |
locker um kleine Holztische angeordnet. Auf der rechten Seite des Podiums | |
steht ein breiter Tisch à la Letterman, passend dazu wird die Wand dahinter | |
mit dem Bild der nächtlichen New Yorker Skyline mit ihren funkelnden | |
Lichtern angestrahlt. | |
Auf zwei Drehstühlen hinter dem Letterman-Tisch nehmen Victor Kümel und | |
Lara Sielmann Platz. Sie gehören zum Berliner „Label für junge | |
Literaturvermittlung“ mit dem Namen „Kabeljau und Dorsch“ und sind die | |
Hosts der Veranstaltung. Musik ertönt, gleichzeitig setzt sich aus einem | |
Kreis und nacheinander erscheinenden Buchstaben ein Logo vor dem New Yorker | |
Bild zusammen: „Kabeljau & Talk“. Es ist Samstagabend, der Rote Saal der | |
Volksbühne ist gut gefüllt. | |
„‚Kabeljau & Talk‘ klaut sich Witz und Tempo von US-amerikanischen Late | |
Night Shows, um Literatur und Realität zu einem spielerischen Austausch | |
zusammenzubringen“, steht in der Ankündigung. | |
Die Gruppe hinter Kabeljau und Dorsch macht es sich seit 2013 zum Ziel, | |
Literatur auf eine andere, zeitgemäße Art und Weise zu vermitteln. Dafür | |
betreiben sie mehrere Formate an nicht unbedingt gewöhnlichen | |
Veranstaltungsorten. Angefangen hat es mit monatlichen Lesungen in | |
Neuköllner Bars, die es auch heute noch gibt. Im letzten Sommer verlegte | |
man die Veranstaltungen kurzerhand auf eine Minigolfanlage. | |
## „Tripperburgen“ in der DDR | |
Heute liest Bettina Wilpert Auszüge aus ihrem Romanmanuskript | |
„Herumtreiberinnen“ (Arbeitstitel) vor. Ihr Debutroman „nichts, was uns | |
passiert“ erschien 2018. Sie erzählt ganz offen von ihrem Arbeitsprozess: | |
ein halbes Jahr habe sie recherchiert, seit September schreibe sie. Doch | |
vermutlich werde die Hälfte des Skripts doch noch mal ganz umgeworfen. | |
Ihre Geschichte handelt von zwei Freundinnen, beide 17 Jahre alt, die | |
Anfang der 80er in Leipzig leben. Nacheinander werden beide in eine | |
geschlossene venerologische Station gebracht, im Volksmund auch | |
„Tripperburg“ genannt. Dort wurden zu DDR-Zeiten Frauen mit Verdacht auf | |
Geschlechtskrankheiten interniert. Dabei hätten nur 20 % der dort | |
festgehaltenen Frauen tatsächlich eine Geschlechtskrankheit gehabt, sagt | |
die Autorin. | |
Aber Bettina Wilpert ist nicht der einzige Gast heute Abend. Neben ihr | |
sitzen die Sozialwissenschaftlerin Friederike Beier und die Medizinerin | |
Alicia Baier. Die Idee von „Kabeljau & Talk“ ist, auch zwei Expert*innen | |
einzuladen, die sich in ihrem Leben praktisch und theoretisch mit den im | |
Roman aufgeworfenen Themen auseinandersetzen. So sollen sich die realen und | |
fiktionalen Ebenen verschränken und gegenseitig erweitern. | |
## Repressive Disziplinierung | |
Es seien nur Frauen in diesen Stationen interniert worden, ergänzt | |
Friederike Beier, obwohl man gewusst habe, dass Männer ebenso Überträger | |
von Geschlechtskrankheiten sein können. Die venerologischen Stationen | |
dienten der repressiven Disziplinierung von Frauen, die nicht so richtig in | |
den sozialistischen DDR-Staat passen wollten, Herumtreiberinnen. „Es gab | |
einen strikten Tagesablauf, gefüllt von Einschüchterungen bis zu | |
Zwangsarbeit“, berichtet Beier. Lange wusste die Öffentlichkeit davon kaum | |
etwas, noch immer liege darauf ein Tabu. | |
Auch weibliche Sexarbeit, Zwangssterilisation von Frauen oder | |
Schwangerschaftsabbrüche werden nach wie vor tabuisiert. Alicia Baier | |
erzählt, dass sie in ihrem Medizinstudium an der Charité kaum etwas über | |
Schwangerschaftsabbrüche gelernt habe. Dabei sei es der häufigste | |
gynäkologische Eingriff, der gemacht werde. „Die deutsche Medizin ist | |
patriarchal“, stellt sie fest. „Frauentypische Erkrankungen werden weniger | |
im Studium behandelt, weniger erforscht.“ | |
Zwischendurch drängt sich die Frage auf, ob man das Kostüm der | |
amerikanischen Late Night Show braucht, um Literatur zeitgemäß zu | |
vermitteln. Nach anderthalb Stunden wird das Gespräch zum Publikum | |
geöffnet. Anders als bei herkömmlichen Literaturveranstaltungen werden die | |
Podiumsgäste auf das Publikum verteilt. Die Hemmschwelle, vor allen | |
Anwesenden eine gut formulierte Frage in ein Mikrofon aufsagen zu müssen, | |
fällt damit weg. | |
Stattdessen sitzt um jeden kleinen Holztisch eine Gruppe und verdaut die | |
politischen, feministischen und historischen Impulse. Es werden Fragen | |
gestellt und Filme empfohlen. Diese Grenzauflösung zwischen Podium und | |
Publikum, zwischen Experten und Interessierten ist wirklich zeitgemäß. | |
3 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Marlene Militz | |
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