| # taz.de -- Berichterstattung zum Anschlag in Hanau: Ein langer Lernprozess | |
| > Bei Berichten zu rechter Gewalt haben Journalist:innen schon vieles | |
| > falsch gemacht. Einige haben dazugelernt, andere bedienen gefährliche | |
| > Klischees. | |
| Bild: Recherche vor Geschwindigkeit, Fakten vor Stereotype | |
| Zehn Menschen wurden am Mittwochabend in Hanau getötet. [1][Gegen 22 Uhr | |
| fielen die ersten Schüsse], kurz darauf gab es erste Medienberichte. Dass | |
| die Gesellschaft schnell informiert werden will und Medien diesem Wunsch | |
| folgen, ist verständlich. Doch eine teils widersprüchliche Nachrichtenlage | |
| und die Priorisierung von Geschwindigkeit fördern eine fehleranfällige | |
| Berichterstattung. Das zeigt sich auch in den ersten Stunden nach Hanau. | |
| Wie man es nicht machen sollte, hat Mittwochnacht beispielsweise die Bild | |
| gezeigt. Obwohl sie in ihrer Videoberichterstattung von Bild Live häufig | |
| von „unbestätigten Informationen“ sprechen, verbreiten die Reporter | |
| vielerlei Spekulationen, die sich später als falsch herausstellen. | |
| Ein Bild-Reporter vor Ort sagt [2][in einem Videointerview]: „Ich habe aus | |
| relativ gut unterrichteten Quellen hier in Hanau erfahren, aber ich muss | |
| dazu sagen, das sind nur Spekulationen, dass es sich bei dem Täterumfeld um | |
| Russen handeln könnte.“ Später fügt er hinzu, dass es zu früh sei, um eine | |
| Tat aus einem „rechtsradikalen Milieu“ zu vermuten. Ein weiterer | |
| Bild-Reporter sagt, dass es gut möglich sei, dass es sich um organisierte | |
| Kriminalität handele. Falsche Behauptungen kamen jedoch nicht nur von der | |
| Bild. Ein Sprecher der Polizei sagt am frühen Morgen, es könne sich um | |
| „eine Beziehungstat oder eine wahllos begangene Tat“ handeln. Katja Leikert | |
| (CDU), eine Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Hanau, wurde am Morgen | |
| vom Deutschlandfunk auf die Gerüchte bezüglich eines rechtsradikalen | |
| Hintergrund angesprochen. Darauf erwiderte sie, man könne auch nicht | |
| ausschließen, dass der Vorfall linksradikal motiviert sei. | |
| Organisierte Kriminalität, Beziehungstat, Linksextremismus – die | |
| Spekulationen waren vielfältig. Wenig später verbreitet sich dann die | |
| Nachricht: Der weiße deutsche Tatverdächtige wird tot aufgefunden, er hat | |
| rechtsextremes Bekennerschreiben und -video hinterlassen, die sein | |
| rassistisches und verschwörungstheoretisches Weltbild offenbaren. Noch | |
| immer sind viele Fragen offen, doch die Motivation des Täters ist klar. | |
| ## Fakten statt Spekulationen | |
| Vielen in der Medienbranche ist die Problematik der Behauptungen bewusst. | |
| So entwickelte Zeit Online vor einigen Jahren ein Format mit dem Titel „Was | |
| wir wissen – und was nicht“. Viele Medien haben das Prinzip mittlerweile | |
| übernommen und konzentrierten sich dabei auf bestätigte Fakten anstatt auf | |
| Spekulationen. Es tut sich also etwas. | |
| Auch in den nächsten Tagen werden viele Fragen zu Hanau noch nicht geklärt | |
| sein. Doch gerade bei rechtem Terror und rechtsextremistisch motivierten | |
| Taten ist es wichtig, präzise Begriffe zu verwenden und die Dinge beim | |
| Namen zu nennen. Also Rassismus und Terrorist statt „Fremdenfeindlichkeit“ | |
| und „verwirrter Einzeltäter“ – Letztere sind Bezeichnungen, die die | |
| Wirklichkeit verzerren. | |
| Das Negativbeispiel der vergangenen Jahre schlechthin, für das sich fast | |
| alle deutsche Medien als Beleg anführen lassen können, [3][ist der Begriff | |
| „Döner-Morde“]. Jahrelang wurde das Morden des NSU so bezeichnet. Erstmals | |
| 2005 von der Nürnberger Zeitung benutzt, wurde die Bezeichnung später von | |
| fast allen übernommen. Der Begriff ist ein Beispiel für die Verharmlosung | |
| rechtsextremer Gewalt in Deutschland und der rassistischen Vorurteile in | |
| der Berichterstattung. 2011, in dem Jahr, in dem sich das rechtsextreme | |
| Netzwerk selbst enttarnte, wurde „Döner-Morde“ zum Unwort des Jahres | |
| gewählt. | |
| ## Deutschland hat ein Problem | |
| Neun Jahre sind seitdem vergangen. Ein Teil der Berichterstatter:innen | |
| ist heute sensibler für rechte Gewalt. Trotzdem ist noch viel zu tun. Denn | |
| Deutschland hat nicht nur ein Problem mit Rechtsextremismus, sondern auch | |
| mit der Berichterstattung über diese. So schrieb Focus.de am Morgen nach | |
| dem Anschlag „Hanau unter Schock: Erste Bilder nach den Shisha-Morden“. | |
| Mittlerweile haben sie es durch „Bluttat“ ersetzt. | |
| Tagesschau.de titelte zeitgleich „11 Tote in Hanau – Fremdenfeindliches | |
| Motiv vermutet“, ebenso der Deutschlandfunk, die Süddeutsche oder der | |
| Merkur. Sie beziehen sich dabei auf die Bundesanwaltschaft, die | |
| „Anhaltspunkte für eine fremdenfeindliche Motivation“ sieht. Das [4][ZDF | |
| schreibt bei Twitter über einen Videobericht] eines Reporters vor Ort: | |
| „Eine Shishabar und ein Kiosk mit einem hohen Anteil ausländischer | |
| Besucher“, der Reporter nutzt darin selbst den Begriff | |
| „ausländerfeindlich“. | |
| Doch die Morde in Hanau waren nicht [5][fremden- oder ausländerfeindlich], | |
| sondern rassistisch motiviert. Sie nutzen also einen Begriff, der die | |
| Perspektive des Täters wiedergibt und dadurch Rassismus fördert. Denn alle | |
| Opfer aus Hanau, abgesehen von der Mutter des Täters, haben laut jetzigem | |
| Kenntnisstand eine Migrationsgeschichte, das macht sie jedoch nicht zu | |
| Fremden in Deutschland. | |
| Fehler können im Journalismus passieren, kein:e Journalist:in ist davor | |
| geschützt. Und das ist okay. Doch auch bei schnellem Arbeiten und | |
| schwieriger Nachrichtenlage müssen sie im Hinterkopf haben, welche | |
| Konsequenzen ihre Berichterstattung haben kann. Wünschenswert ist eine | |
| Berichterstattung, die Betroffene vor den Täter stellt, Recherche vor | |
| Geschwindigkeit und Fakten vor Stereotype. | |
| 20 Feb 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Mutmasslich-rassistischer-Anschlag/!5665203 | |
| [2] https://www.bild.de/news/2020/news/terror-in-hanau-schiesserei-tote-verletz… | |
| [3] /Medienversagen-beim-NSU/!5407141 | |
| [4] https://twitter.com/ZDFheute/status/1230451206868348930?s=20 | |
| [5] /Fremdenfeindlichkeit-in-den-Medien/!5613032 | |
| ## AUTOREN | |
| Carolina Schwarz | |
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