# taz.de -- Rechter Anschlag in Hanau: „Wir haben Angst gehabt“ | |
> Die Stadt Hanau ist im Schockzustand: Viele BewohnerInnen haben die Opfer | |
> des Terroranschlags gekannt. Eindrücke am Tag eins nach der Tat. | |
Bild: Am Tag nach dem Anschlag: Blumen am Tatort am Heumarkt in Hanau | |
HANAU/BERLIN taz | Die Shishabar Midnight ist auch am Donnerstagvormittag | |
weiträumig mit Flatterband abgesperrt. Dutzende Polizeibeamte und die | |
Spurensicherung sind vor Ort, viele Einsatz- und Rettungsfahrzeuge. | |
Am Heumarkt, einer kleinen Nebenstraße in der Hanauer Innenstadt, reihen | |
sich Sportbars, Wettbüros und Spielhallen aneinander. Kadir Köse, 38 Jahre | |
alt, betreibt hier die Rabbit Bar, keine hundert Meter vom Tatort entfernt. | |
Er hat die tödlichen Schüsse in der Nacht gehört. | |
„Ich bin raus, um nachzusehen, was los ist, dann bin ich zurück, um meine | |
Kunden zu warnen.“ Weg von den Fenstern, habe er gerufen und die Tür | |
abgeschlossen. Seine Bar war zu diesem Zeitpunkt voll, es lief das | |
Champions-League-Achtelfinale Leipzig gegen Tottenham. Auf der Straße | |
gegenüber liegt eine reglose Gestalt. | |
Gegen 22 Uhr hat hier [1][der 43-jährige deutsche Hanauer Tobias R.] in der | |
Shishabar Midnight auf Menschen geschossen. Dann fährt er weiter zum | |
Kurt-Schumacher-Platz im Hanauer Stadtteil Kesselstadt, wo er erneut | |
mehrere Menschen angreift. Insgesamt ermordet er neun Menschen, später wohl | |
noch seine Mutter. | |
## „Gogo hat Pech gehabt“ | |
„Wir haben Angst gehabt“, sagt Köse. „Gott sei Dank ist er nicht zu mir | |
gekommen.“ Er zeigt WhatsApp-Fotos von Opfern, kennt deren Namen. „Der ist | |
tot, der ist schwer verletzt“, sagt er. Die jungen Männer blicken fröhlich | |
und selbstbewusst in die Kamera. Einer der Toten war Köses Kumpel. Der Wirt | |
zeigt dessen Bild. „Gogo hat viel Pech gehabt. Er ist von einem Bus schon | |
mal überfahren worden. Er ist bei einer Messerstecherei verletzt worden. Er | |
hat alles überlebt. Wir haben schon immer Witze gemacht...“, sagt er und | |
ringt um Fassung. | |
Der [2][Spuk am Mittwochabend] sei vorbeigewesen, als ein Mann mit | |
schwarzem Pulli und Kapuze die Bar verlassen habe, erzählt Köse. Da ist der | |
Täter wohl zum nächsten Tatort gefahren. Auf den [3][rassistischen | |
Hintergrund] der Tat angesprochen, wird er laut und beklagt die Parolen der | |
AfD. „Da werden solche Sprüche gemacht, dann kocht es so hoch! Und die AfD | |
kommt trotzdem auf 16 Prozent.“ Das mache ihn „fassungslos“. | |
Bilar Yıldız steht am Rand des Heumarkts. Er hätte eigentlich in dieser | |
Nacht in der Arena Bar arbeiten sollen, die das zweite Ziel des Attentäters | |
war. Wegen einer Schulterverletzung habe er sich krankmelden müssen. Ein | |
Kumpel sei eingesprungen. Yıldız zeigt dessen Anruf auf seinem Handy. Kurz | |
vor Mitternacht sei der eingegangen. „Er hat sich unter den Tischen | |
versteckt, aber trotzdem einen Schuss abbekommen und musste ins | |
Krankenhaus“, berichtet Yıldız. | |
Vor drei Jahren haben migrantische Gruppen in Hanau das Bündnis | |
„Solidarität statt Spaltung“ gegründet. Zuletzt trafen sie sich am | |
vergangenen Mittwochnachmittag um 17 Uhr im DGB-Haus am Freiheitsplatz. | |
„Wir haben die Newroz-Feier und die Wochen gegen Rassismus im März | |
vorbereitet“, sagt Newroz Duman vom kurdischen Verein in Hanau. Es zog sich | |
bis in den Abend, dann gingen sie gemeinsam etwas essen, im Argana, einem | |
marokkanischen Restaurant am Heumarkt, direkt neben der Rabbit Bar. | |
## E wie Einzeltäter | |
Einige, die in der Runde saßen, hätten noch Witze aus der letzten Folge der | |
ZDF-Sendung „Die Anstalt“ über rechte Netzwerke erzählt: „Stefan E. –… | |
wie Einzeltäter.“ E. ist der mutmaßliche Mörder des [4][CDU-Politikers | |
Walter Lübcke] aus Kassel. | |
„45 Minuten später ist es passiert, genau auf der anderen Straßenseite“, | |
sagt Duman. „Es“ – das ist der rechtsextreme Anschlag mit der zweithöchs… | |
Opferzahl in der Geschichte der Bundesrepublik. Am Donnerstag meldete sich | |
das Internationale Auschwitz Komitee zu Wort. Auschwitz-Überlebende in | |
aller Welt würden in den mutmaßlichen Morden eine neue Demonstration der | |
Macht rechtsextremen Hasses sehen, „der immer alltäglicher wird und überall | |
auftreten kann“, so Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Komitees. | |
„Jeder kann Auschwitz heute in seine eigenen Hände nehmen.“ Terroristische | |
Einzeltäter seien in der „virtuellen Welt des rechten Hasses bestens | |
vernetzt“ und sähen sich von Parteien wie der AfD „getragen“. Sie würden | |
zeigen, „wie einfach es mittlerweile geworden ist, Andersdenkende und | |
Anderslebende hinzurichten“. Der Staat scheine [5][hierfür nicht gewappnet] | |
zu sein. | |
Das sieht Newroz Duman genauso. Am nächsten Vormittag steht sie in den | |
Räumen des kurdischen Vereins in der Aschaffenburger Straße in Hanau. 200 | |
Menschen sind gekommen, es ist eine improvisierte Trauerfeier und | |
gleichzeitig der Versuch, überhaupt zu verstehen, was passiert ist. „Einige | |
von uns sind zur Polizei gegangen, aber die geben uns keine Informationen. | |
Es ist das totale Chaos“, sagt Duman. Bei einigen der Opfer soll es sich | |
laut Informationen der taz um folgende Personen handeln: Ferhat U., 17 | |
Jahre, Gökhan G., Ende 30, beide mit kurdischen Wurzeln, ein weiterer | |
junger Kurde, Serhat, 28 Jahre, mit türkischen Wurzeln, sowie eine junge, | |
in Deutschland geborene Romni namens Mercedes. „Über den Rest wissen wir | |
noch nichts“, sagt Duman. Am Abend soll es eine Trauerfeier geben. | |
## Unter den Opfern: ein Nachbar | |
Auch Eren Okcu vom Internationalen Kulturzentrum Hanau e. V. war am | |
Mittwochabend beim „Solidarität statt Spaltung“-Treffen und später im | |
Argana. Einer der Toten ist sein Nachbar, mit zwei weiteren war er | |
persönlich bekannt. Noch in der Nacht hat ihn der Mitarbeiter eines | |
Dönergrills angerufen. Der liegt genau gegenüber der Shishabar Midnight, | |
dem ersten Tatort. Der Mann hatte den Anschlag beobachtet. Am Vormittag ist | |
Okcu am Tatort. Er ist aufgebracht. | |
„Es sind Leute von AKP-nahen türkischen Zeitungen gekommen, die haben die | |
Menschen gefragt: ‚Hier werden Muslime angegriffen, wie finden Sie das?‘ “ | |
Okcu ärgert das. „Ich hab denen gesagt, sie sollen aufhören, zu spalten. Es | |
waren auch Nichtmuslime dabei.“ | |
Auch Hagen Kopp hatte am Abend mit in der Runde gesessen. Es war „kein | |
Zufall“, dass der Anschlag in Hanau stattfand. „Das ist der ärmste und | |
migrantischste Teil vom Rhein-Main-Gebiet“, sagt er. Seit vielen Jahren | |
lebt Kopp in Hanau, ist hier politisch aktiv. Eine auffällige Naziszene | |
gebe es aktuell hier nicht, sagt er. 2018/19 hatte ein 46-jähriger | |
Frankfurter jedoch versucht, Brände in verschiedenen linken Orten in der | |
Region zu legen. | |
Zuletzt traf es am 21. Dezember 2019 das autonome Kulturzentrum | |
Metzgerstraße in Hanau, das Kopp mitaufgebaut hat. Der Täter war | |
unmittelbar nach der Tat von Besuchern gestellt und der Polizei übergeben | |
worden. „Die haben den einfach wieder laufen gelassen“, erinnert sich Kopp. | |
„Die Polizei hat da eine unfassbare Rolle gespielt.“ | |
## Leiche im Mercedes | |
Der zweite Tatort liegt an einem tristen Parkplatz im Stadtteil | |
Kesselstadt, fünf Autominuten entfernt. Auch hier, rund um die Arena-Bar, | |
ist am Donnerstagvormittag alles weiträumig abgesperrt. Unter einem Zelt | |
der Feuerwehr steht ein Mercedes mit einer Leiche auf den Sitzen. Am Rand | |
steht eine Gruppe junger Männer. Zwei von ihnen kämpfen mit den Tränen. | |
Einer will reden. | |
„Wir haben Angehörige und engste Freunde verloren, alles ganz gute Jungs“, | |
sagt er. Nur zehn Minuten vor den tödlichen Schüssen habe er selbst den | |
Kiosk verlassen. Die ersten Meldungen über den Täter verwirren ihn. „Er ist | |
Rechtsextremist, heißt es, aber in seinem Video redet er dauernd von | |
Amerika. Das verstehe ich nicht. Irgendwann werden wir die Wahrheit | |
erfahren“, sagt er noch und wendet sich wieder seinen Freunden zu. | |
Ein älterer Anwohner gibt Interviews. Er habe die Schüsse beim Fernsehen | |
gehört und erst an Feuerwerkskörper gedacht. „Das ist so feige“, sagt er | |
und fügt hinzu: „Faschismus ist Faschismus, in der Türkei genauso wie in | |
Deutschland.“ Das Reihenhaus, in dem Sondereinsatzkräfte noch in der Nacht | |
den Täter und seine ebenfalls erschossene Mutter auffanden, liegt nur | |
wenige hundert Meter entfernt. | |
Erst vor Kurzem war der Brandenburger [6][AfD-Vorsitzende Andreas Kalbitz] | |
in Hanau. Der Rechtsextreme war Mitte November bei einem „Themenabend“ der | |
AfD im Bürgerhaus Reinhardskirche in Hanau-Kesselstadt aufgetreten – in | |
genau dem Stadtteil, in dem in der Nacht zum Donnerstag von Tobias R. die | |
Morde verübt wurden. Das Bürgerhaus ist nur wenige Gehminuten vom | |
Anschlagsort entfernt. | |
## AfD-Hetze in der Stadt | |
Kalbitz hatte dort eine regelrechte Hassrede gehalten – gegen Fridays for | |
Future, gegen die Grünen, gegen die Medien, die Regierung. Es ist auf | |
YouTube zu sehen. Kalbitz spricht von Geflüchteten als Menschen, die vor | |
der nordafrikanischen Küste „in ein Schlauchboot fallen, die ersten zwei | |
Meter rausfahren und dann eingesammelt und nach Italien gebracht“ würden. | |
Man kenne sie ja, die „zwölfjährigen minderjährigen Syrer mit Bart“, die | |
„über die Grenze fallen“, die nie ihr Handy und immer ihren Pass verlieren | |
würden. Kalbitz hetzt gegen Geflüchtete, das Publikum lacht und klatscht. | |
Den Wunsch nach Humanität, die Besinnung auf deutsche Fluchtgeschichten | |
sind für Kalbitz „Blödsinn“, ein Scheinargument. Aus dem Publikum ruft ei… | |
Frau: „Das waren Heimatvertriebene!“ Kalbitz sagt: „Richtig.“ Alle | |
klatschen. | |
Bei der Stadt Hanau heißt es, die Räume der kommunal betriebenen | |
Reinhardskirche könnten prinzipiell alle mieten, die nicht als gefährlich | |
gelten. „Von Menschen aller kritischen Couleur“ – auch der AfD. „Daneben | |
benommen“ hätte sich an jenem Tag nicht die AfD, sondern linke | |
Demonstranten, „die mit Buttersäure um sich geschmissen“ hätten. Am Freit… | |
soll in der Reinhardskirche die nächste AfD-Veranstaltung steigen: der | |
„Politische Aschermittwoch“ mit dem Ex-CDUler Martin Hohmann. | |
Es war der Hanauer DGB-Sekretär Tobias Huth, der im November die Kundgebung | |
gegen Kalbitz’ Auftritt organisiert hatte. „Die AfD ist im Main-Kinzing | |
Kreis sehr aktiv“, sagt Huth – „nach Fulda holen sie hier hessenweit immer | |
das zweitbeste Ergebnis.“ Auch Alice Weidel und Beatrix von Storch hatten | |
in Hanau schon Auftritte. Als Ende 2018 der UN-Migrationspakt verabschiedet | |
werden sollte, gab es eine „AfD-nahe“ Kundgebung dagegen auf dem Hanauer | |
Marktplatz, organisiert von der Reichsbürgerszene. | |
## Arbeitslosigkeit und Hass auf MigrantInnen | |
Dass die AfD nun vor allem im Stadtteil Kesselstadt ihre Veranstaltungen | |
abhält, wundert Huth nicht. „Kesselstadt ist zweigeteilt: In | |
Alt-Kesselstadt stehen villenartige Gründerzeithäuser, schön gelegen, der | |
andere Teil ist schon ein sozialer Brennpunkt, mit Plattenbauten, | |
Hochhäusern und soziale Auseinandersetzungen.“ Die Arbeitslosigkeit ist | |
hoch, seit den 1960er Jahren leben hier viele MigrantInnen, zuletzt sind | |
noch Flüchtlinge aus Afghanistan dazugekommen. | |
Am Vormittag versammeln sich HanauerInnen am Tatort. Kerstin Szepanik, 43, | |
und Simone Linke, 41, haben einen Blumenstrauß mitgebracht. „Wir sind nicht | |
aus Neugier gekommen, wir wollen auch nicht gaffen“, sagt Szepanik. „Aber | |
wir wussten nicht, wie wir anders mit den Ereignissen umgehen können. Es | |
sei eine „gespenstische Stimmung in der Stadt, jeder ist irgendwie | |
betroffen“. Ein junger Mann trägt einen kleinen Blumentopf. Er möchte nicht | |
angesprochen werden. Ihm fehlen die Worte. Die drei würden gern Blumen vor | |
der Shishabar ablegen, als Zeichen der Anteilnahme. Doch der Tatort ist | |
abgesperrt. Die Blumen landen an einer Straßenecke. | |
Auf dem Weg zum zweiten Tatort sagt der Taxifahrer, der als Kind aus | |
Pakistan nach Deutschland kam und hier Architektur studiert hat: | |
„Hoffentlich war der Täter kein Ausländer.“ Die Information, dass er | |
Rechtsextremist und Rassist war, scheint für ihn eine Erleichterung zu | |
sein. | |
Am Vormittag öffnen die evangelischen Kirchen in der Stadt ihre Pforten. | |
Man wolle den Menschen Orte bieten, an denen sie Trost finden könnten, | |
sagte Martin Lückhoff, der Dekan des Kirchenkreises Hanau. In den Kirchen | |
lägen Texte aus, die für solche Krisenfälle vorbereitet seien. Während der | |
Nacht bis in die frühen Morgenstunden hinein seien insgesamt sieben Pfarrer | |
als Notfallseelsorger vor Ort gewesen, sagte Lückhoff. Die Seelsorger | |
hätten Angehörige, aber auch Rettungskräfte betreut. | |
## Mehrere Mahnwachen | |
Er selbst stehe in Kontakt mit dem Büro des Oberbürgermeisters, auch mit | |
der muslimischen Gemeinde sei eine Kontaktaufnahme erfolgt. Es zeichne sich | |
ab, dass möglicherweise viele Jugendliche unter den Opfern seien. | |
Auf einer Presskonferenz sprach Oberbürgermeister Claus Kaminsky von „den | |
bittersten, traurigsten Stunden, die diese Stadt in Friedenszeiten jemals | |
erlebt hat“. Für den Donnerstagabend hat er zu einer Mahnwache für die | |
Opfer aufgerufen. Die Gedenkveranstaltung sollte um 18 Uhr auf dem | |
Marktplatz beginnen. Gleichzeitig kündigte der Deutsche Gewerkschaftsbund | |
eine Kundgebung an der Frankfurter Paulskirche an. | |
Für Freitag und Samstag sind in Hanau weitere Mahnwachen angekündigt. „Wir | |
sind wütend“, steht in einem Aufruf, „dass so etwas in unserer Stadt | |
passieren konnte.“ | |
20 Feb 2020 | |
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## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
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