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# taz.de -- Anschlag in Hanau: Im Terrorwahn
> In Hanau tötet ein Mann neun Menschen mit Migrationshintergrund. Zuvor
> verbreitete er Hass. Wo beginnt Terror?
Bild: Ermittler beschlagnahmen das Auto von Tobias R. in Hanau
Hanau / Berlin taz | Tobias R. hat sich ordentlich ein Hemd angezogen für
sein Video, er blickt ernst in die Kamera. „Dies ist eine Botschaft an das
gesamte deutsche Volk“, sagt der Hanauer. Und dann redet Tobias R., eine
Stunde lang. Über seine Kindheit, über Geheimdienste, die ihn überwachten,
über fehlende Frauen in seinem Leben, über US-Einsätze im Irak und
Afghanistan. Aber auch: über „Ausländerkriminalität“, über Menschen mit
Migrationshintergrund, deren Existenz „an sich ein grundsätzlicher Fehler
ist“ und über Völker, die „vernichtet werden müssen“.
Und aus all diesen Gründen, sagt R., „blieb mir also nichts anderes übrig,
so zu handeln, wie ich es getan habe“.
Es ist ein abstruses Video, wirr, verschwörerisch, voller Hass. Aber Tobias
R. spult seine Gedanken mit gewichtigem Blick runter. Er hat sie auch
verschriftlich, in fehlerfreiem Deutsch, in einem „Skript“, 24 Seiten lang.
Den Schriftsatz und das Video stellt Tobias R., neben anderen Dokumenten,
auf eine auf seinen Namen angelegte Internetseite, legt dazu ein Impressum
mit seiner Adresse und Handynummer an. Ein fast bürokratisches Vorgehen.
Und dann zieht Tobias R. los.
Mit seinem schwarzen BMW, so der Ermittlungsstand, fährt der 43-Jährige am
Mittwochabend in die Hanauer Innenstadt. Mit einer Waffe stürmte er
zunächst die Shishabar „Midnight“ am zentralen Heumarkt, erschießt dort
mehrere Menschen. Dann fährt Tobias R. weiter, westwärts zum Ortsteil
Kesselstadt, wo er die „Arena Bar“ am Kurt-Schumacher-Platz angreift und
weiter mordet. [1][Am Ende sind neun Menschen mit Migrationshintergrund
tot, 21 bis 44 Jahre alt, sechs weitere teils schwer verletzt.]
## Schlimmste Rechtsterrortat seit dem NSU
Dann fährt Tobias R. nach Hause. Als die Polizei, von Zeugen auf das
Tatfahrzeug hingewiesen, dort später in der Nacht eintrifft, finden sie
Tobias R. und dessen 72-jährige Mutter tot auf, beide erschossen. Neben
Tobias R. liegt eine Pistole. Unverletzt bleibt der Vater.
Zehn Mordopfer, neun davon aus rassistischem Hass. Der Anschlag von Hanau
ist damit der schwerste rechtsterroristische Anschlag seit der Mordserie
des „Nationalsozialistischen Untergrunds“, der 2011 aufflog. Noch um 4 Uhr
in der Nacht zieht die Bundesanwaltschaft die Tat an sich, wegen der
besonderen Bedeutung des Falls.
Es ist die Fortsetzung einer bedenkliche Gewaltserie, die sich in den
vergangenen Monaten in Gang setzte. [2][Schon im Juni hatte ein
Rechtsextremist in Hessen getötet: Er erschoss den Kasseler
Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor dessen Haus]. Einen Monat später
schoss ein Mann auf einen Eritreer in Wächtersbach, auch Hessen, verletzte
das Opfer lebensgefährlich. Im Oktober versuchte ein Rechtsextremist in
Halle die Synagoge zu stürmen, erschoss danach zwei Passanten. Und erst am
Freitag hatte die Bundesanwaltschaft [3][12 Rechtsextremisten unter
Terrorverdacht festnehmen lassen, die „Gruppe S.“, Fanatiker aus dem
Bürgerwehrmilieu].
Und nun Hanau.
## „Rassismus ist ein Gift“
Mit „Entsetzen“ reagiert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am
Donnerstag auf die „terroristische Gewalttat“. Kanzlerin Angela Merkel
sagt: „[4][Rassismus ist ein Gift, der Hass ist ein Gift, und dieses Gift
existiert in unserer Gesellschaft, und ist schuld an schon viel zu vielen
Verbrechen].“ Tatsächlich: Es ist etwas ins Rutschen gekommen in diesem
Land.
Tobias R. hat dazu nun beigetragen. Die Sicherheitsbehörden hatten ihn
nicht auf dem Schirm. Der 43-Jährige lebte in einer Wohnung in einem
Reihenhaus in Kesselstadt, bei seinen Eltern. Nach eigener Auskunft in
seinem Video machte er eine Bankerlehre und studierte BWL. Ein
Bildausschnitt zeigt sein karg eingerichtetes Zimmer: ein senffarbener
Sessel, ein Bett, vor allem aber Regale voller Aktenordner. In seiner
Freizeit betätigte sich R. als Sportschütze. Als Rechtsextremist fiel er
den Behörden nicht auf, auch nicht mit sonstigen Straftaten.
Offensichtlich aber scheint, dass Tobias R. psychische Probleme hatte. In
seinem Video äußert er immer wieder, dass er sich überwacht und verfolgt
fühle. Tobias R. spinnt sich in einem wahnhaften Komplott, in dem eine
„Geheimorganisation“ die Welt steuere und sich Geheimdienste in Gehirne
„einklinken“ könne. R. erzählt von einer „Schattenregierung“, von
Hollywood, vom DFB und Donald Trump. Etliche Ereignisse der Weltgeschichte
seien „auf meinen Willen zurückzuführen“, sagt er.
Gleichzeitig klagt er, nie eine Frau an seiner Seite gehabt zu haben. Und
er ätzt über Menschen mit Migrationshintergrund, die „nicht
leistungsfähig“, kriminell und „in jeglicher Hinsicht destruktiv“ seien.
Deren Ausweisung sei „keine Lösung mehr“, es brauche eine „Grob-Säuberu…
„Ich würde diese Menschen alle eliminieren.“ Seine Tat sei daher als
„Doppelschlag“ zu verstehen, schließt Tobias R.: „gegen die
Geheimorganisation und gegen die Degeneration unseres Volkes“.
## Wo beginnt Terror?
Die Einordnung der Tat hinterlässt damit Fragen. Was ist hier Terror, was
ist Wahn? Die Frage stellt sich nicht zum ersten Mal.
Schon nach dem Attentat am Münchener OEZ-Einkaufszentrum 2016 wurde darüber
diskutiert. Neun Menschen hatte damals der 18-jährige David S. erschossen,
allesamt Menschen mit Migrationshintergrund. Jahrelang stritten die
Gutachter, ob hier ein rassistisches Verbrechen vorliegt. Weil der Täter
sich von Mitschülern gemobbt fühlte und psychische Problem hatte, dann aber
seinen Frust gegen Menschen mit Migrationshintergrund richtete, gegen diese
„Untermenschen“ und „Kakerlaken“, wie er schrieb, weil er für den
Rechtsterroristen Anders Breivik schwärmte und genau an dessen Attentatstag
loszog. Erst im Oktober 2019 entschieden die Ermittler: [5][Die Tat wird
als rechtsextrem eingestuft, weil sich David S. seine Opfer gezielt
ausgesucht habe].
Auch nach dem Halle-Attentat tauchte die Diskussion wieder auf. Auch der
dortige Attentäter Stephan Balliet [6][verfasste eine Dokumentensammlung,
in der er aufrief, „so viele Anti-Weiße zu töten wie möglich, Juden
präferiert“]. Dazu schrieb er eine Liste, auf welche Weisen er alles Juden
töten wolle. Seinen Verteidiger fragte er als Erstes, ob dieser Jude sei.
Dennoch halten die Behörden Balliet bisher für voll zurechnungsfähig. Die
Anklage gegen ihn soll demnächst erhoben werden.
Beide Fälle zeigen aber auch die rechtsextremen Ideologiefragmente, welche
die Täter aufgriffen – und derer sich nun auch der Hanau-Attentäter Tobias
R. bedient. In seinem Fall ist es der tiefe Hass auf Menschen mit
Migrationshintergrund und der Wahn, das diese bewusst auf eine „weitere
Vermehrung“ setzten, wie R. schreibt. Es ist das in der Szene propagierte
Bild des „Großen Austauschs“, eines angeblich gezielten
Bevölkerungsaustauschs. Bei Tobias R. kommen dazu Anleihen an die
Incel-Bewegung, die sich aus ihrer Sexlosigkeit in einen Hass auf Frauen
steigern.
## „Zutiefst rassistische Gesinnung“
Auch der Thüringer Rechtsextremismusforscher Matthias Quent ordnet den Fall
am Donnerstag wegen der rassistischen Opferauswahl als Hassverbrechen und
rechten Terror ein. „Aspekte von Amok und Terror schließen sich nicht aus“,
betont er.
Gleiches tut am Nachmittag auch Generalbundesanwalt Peter Frank. Auch er
attestiert Tobias R. „wirre Gedanken“ und „abstruse Verschwörungstheorie…
zugleich aber auch eine „zutiefst rassistische Gesinnung“. Die Indizien für
eine rechtsextremistische Tat seien daher „gravierend“. „Das war eine
Nacht, die uns noch lange in Erinnerung bleiben wird.“
Die Sicherheitsbehörden stellt der Fall aber noch vor ein größeres Problem.
Denn wieder konnte sich ein Mann im Stillen radikalisieren, wieder konnten
sie einen Rechtsextremisten nicht von seiner Tat abhalten – wie schon im
Fall Lübcke und in Halle. Und wie konnte jemand mit derart psychischen
Problemen an Waffen gelangen?
## Tobias R. besaß Waffen als Sportschütze
Nach taz-Informationen besaß Tobias R. schon seit Jahren legal
Waffenbesitzkarten als Sportschütze. Drei Pistolen sollen darauf
registriert gewesen sein: je eine der Marken Sauer, Luger und Walther. Erst
im vergangenen Sommer wurde Tobias R. von den Behörden routinemäßig
kontrolliert: ohne Auffälligkeiten.
Dabei hatte die Bundesregierung zuletzt erst ein Maßnahmenpaket gegen
Rechtsextremismus geschnürt – inklusive eines verschärften Waffenrechts.
Nun sollen Antragsteller eines Waffenscheins zuerst mit einer Regelanfrage
beim Verfassungsschutz überprüft werden. Allein: Tobias R. war dort ja
nicht bekannt.
Das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz hatten zudem Konzepte
aufgestellt, um auch Einzeltäter schneller aufspüren und deren Gefahr
besser einschätzen zu können, etwa mit dem geplanten Analysetool
Radar-rechts. Aber auch hier müssen die Gewalttäter überhaupt erst ins
Visier der Behörden kommen.
## „Sehr besorgniserregende Entwicklungen“
Generalbundesanwalt Peter Frank will nun vorerst klären, ob Tobias R.
Mitwisser und Unterstützer hatte, möglicherweise auch im Ausland.
Gleichzeitig sind die Behörden in Sorge über die derzeitige Dynamik in der
rechtsextremen Szene. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), der am
Donnerstag mit anderen Spitzenpolitikern eigens nach Hanau reist, spricht
von „sehr besorgniserregenden Entwicklungen“. Er verkündet, die
Sicherheitsvorkehrungen in Deutschland zu verstärken. Noch am Abend wolle
er mit den Innenministern der Länder darüber beraten, auch „vor dem
Hintergrund vieler öffentlicher Veranstaltungen in den nächsten Tagen“.
In Hanau wollten sich da parallel Bürger und Politiker zu einer
Gedenkkundgebung versammeln. Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) spricht
zuvor schon von zurückliegenden Stunden, die zu den „traurigsten,
bittersten gehören, die diese Stadt seit Friedenszeiten erlebt hat“.
20 Feb 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Konrad Litschko
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