# taz.de -- Psychologin über Krisenintervention: „Ich bin demütig geworden�… | |
> Die Hamburger Psychologin und Krimi-Autorin Angélique Mundt spricht über | |
> ihre Arbeit im Kriseninterventionsteam. Da kann man oft nur schweigen. | |
Bild: Sieht im Menschen erst mal das Gute: Angélique Mundt | |
taz: Frau Mundt, was macht ein Kriseninterventionsteam? | |
Angélique Mundt: Wir sind rund 40 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und | |
Mitarbeiter des Roten Kreuzes, die zum Beispiel die Polizei begleiten, wenn | |
sie Angehörigen von Unfall- oder Verbrechensopfern die Todesnachricht | |
überbringen muss. Wir betreuen auch überlebende Opfer nach Vergewaltigung, | |
Geiselnahmen, Raubüberfällen oder anderen Gewaltdelikten. Aber wir | |
begleiten auch Augen- und Ohrenzeugen anderer katastrophaler Ereignisse: | |
Jemand springt vom Hochhaus oder vor die U-Bahn und Menschen sehen dabei | |
zu. Wir kommen immer dann, wenn Unvorstellbares passiert und Menschen davon | |
potenziell [1][traumatisiert] werden. | |
Wie genau arbeiten Sie? | |
Das [2][Kriseninterventionsteam (KIT)] bleibt, wenn die Polizei gegangen | |
ist. Wir versuchen, die Betroffenen zu halten, zu stabilisieren, Verwandte | |
herbeizuholen, gemeinsam zu überlegen, wo sie Hilfe bekommen können – sei | |
es psychologisch, sei es für die Bewältigung des Alltags. Wir leisten | |
psychosoziale Notfallversorgung. Erste Hilfe für die Seele. | |
Warum muten Sie sich das schon seit zwölf Jahren zu? | |
Weil es mir sehr viel bedeutet, Menschen über diese schwersten Stunden | |
hinwegzuhelfen. Außerdem fand ich als Psychotherapeutin die Idee | |
bestechend, dass ich nicht erst aktiv werde, wenn die Menschen bereits | |
traumatisiert sind. Sondern dass ich mein Know-how einsetzen kann, um zu | |
verhindern, dass sie krank werden. Es hat eine andere berufliche Wucht, | |
wenn man mal nicht nur heilt, sondern präventiv handelt. | |
War das der einzige Grund für Ihr Engagement beim KIT? | |
Zugegeben, Neugier war auch dabei. Schließlich geht es um Polizeiarbeit, um | |
echte Grenzsituationen. Und thematisch bin ich natürlich nah dran: Auch in | |
der Psychotherapie bin ich mit intensiven Gefühlen wie Trauer, Verlust oder | |
Scheitern konfrontiert. | |
Aber KIT-Arbeit ist härter. | |
Allerdings. Gleich bei den ersten Einsätzen habe ich gemerkt: Hier geht es | |
um etwas ganz anderes. Hier geht es um Menschlichkeit im wahrhaftesten | |
Sinne. Denn wenn ich nach einem Tötungsdelikt zu den Angehörigen komme oder | |
überlebende Opfer betreue oder Kinder tödlich verunglückt sind – da gibt es | |
keinen Trost. Sondern wir können nur sagen: „Wir lassen euch mit dieser | |
Katastrophe nicht allein. Wir helfen euch, durch die ersten Stunden dieser | |
Katastrophe zu kommen.“ Das kann viele Stunden dauern, aber wir bleiben so | |
lange, bis wir das Gefühl haben: Wir können jetzt gehen. Diese Familie | |
kommt zur Ruhe. Vielleicht sagen die Menschen noch: „Wenn Sie nicht | |
dagewesen wären, hätte ich das nicht überlebt.“ Das macht etwas mit einem. | |
Inwiefern? | |
Ich bin ich sehr demütig mit meinem Leben geworden. Ich tue nicht mehr so | |
viele Dinge, die ich nicht tun möchte – weil ich sehe, wie schnell es | |
vorbei sein kann, wie tragisch manche Unfälle sind. Da räumen Sie zum | |
Beispiel Ihren Geschirrspüler aus, halten den Korb mit den Bestecken in der | |
Hand, und ein wichtiges Messer steht mit der Klinge nach oben. Ihr Kind | |
tobt rein, stolpert, fällt, und das Messer bohrt sich so unglücklich in den | |
Körper, dass das Kind stirbt. Oder Sie setzen mit dem Auto zurück und | |
überfahren aus Versehen Ihr eigenes Kind. | |
Neue KIT-Mitwirkende werden geschult. Aber kann man sich auf solche | |
Katastrophen vorbereiten? | |
Ich finde schon. Zunächst lernen wir viel über die verschiedenen Rollen. | |
Wir haben ja nicht nur eine Rolle den Betroffenen gegenüber, sondern auch | |
gegenüber der Polizei und den Rettungskräften. Oder im Krankenhaus. Da | |
musste ich auch schon mal sagen: „Nein, die Familie hat sich noch nicht | |
ausreichend von ihrem Kind verabschiedet, und wir geben den Raum noch nicht | |
frei – auch wenn Sie jetzt Schichtwechsel haben.“ Oder ich sage dem | |
Bestattungsinstitut: „Fahren Sie bitte Ihren Wagen hier weg, denn gleich | |
kommt die Tochter mit dem Taxi. Sie soll nicht als Erstes den Leichenwagen | |
vor der Haustür sehen.“ | |
Müssen Sie als KIT-Angehörige das Opfer ansehen? | |
Ich muss gar nichts. Aber wenn möglich, schaue ich mir das Opfer alleine | |
an, bevor ich es gemeinsam mit Angehörigen tue. Erstens, damit ich mich im | |
Beisein der Angehörigen nicht erschrecke, weil die Tote vielleicht aussieht | |
wie meine Tante. Zweitens, damit ich die ersten Fragen der Angehörigen | |
beantworten kann. Bei Verkehrsunfällen besorge ich mir auch immer die | |
Telefonnummer des Notarztes. Denn vielleicht will ihn ein Angehöriger | |
fragen: „Hat er noch was gesagt?“ Oder: „War er sofort tot?“ Kinder hab… | |
mich schon gefragt: „Wie sah er aus?“ | |
Sagen Sie da immer die Wahrheit? | |
Ich würde zunächst keine grausamen Details anbieten, sondern sukzessive | |
berichten. Einmal war zum Beispiel ein junges Mädchen durch Messerstiche | |
getötet worden. Die Mutter fragte: „Wie viele Messerstiche?“ Soll ich jetzt | |
sagen: „115“? Dann frage ich: „Wofür ist das wichtig? Ändert das etwas?… | |
waren viele. Der Täter war verrückt. Und Ihre Tochter – das sehen Sie an | |
den Verletzungen am Arm – hat sich sehr gewehrt.“ Das ist es doch, was die | |
Mutter interessiert. Im Übrigen bekommen die Angehörigen nicht alle | |
Verletzungen zu sehen. Ich sage dann: „Die Rechtsmedizin hat über die linke | |
Körperseite ein Tuch gelegt und ich möchte nicht, dass Sie das hochnehmen.“ | |
Halten sich die Menschen dran? | |
Immer. Denn sie wollen ja etwas ganz anderes. Sie wollen sehen: Ist es | |
wirklich mein Liebster? Meine Liebste? Sie wollen das Gesicht sehen, die | |
Hand halten, noch mal sprechen. | |
Sprechen alle? | |
Es spricht nicht zwangsläufig jeder, jedenfalls nicht laut. Aber | |
ausnahmslos jeder hat berührt. Das Begreifen im wahrsten Sinne des Wortes | |
hat mit Greifen zu tun. Um zu begreifen, dass da der eigene Ehemann liegt, | |
der gerade mal 30 war, muss die Ehefrau ihn einfach anfassen. | |
Welches ist der schwerste Moment beim KIT-Einsatz? | |
Wenn ich den Klingelknopf gedrückt habe, und mir wird geöffnet. Dann | |
bekomme ich Herzrasen, weil ich weiß, das Leben dieses Menschen verändert | |
sich jetzt brutal – und ich kann nicht mehr zurück. Ich weiß nicht, was | |
mich erwartet. Öffnet mir ein Kind, platze ich in einen Kindergeburtstag? | |
Öffnet mir jemand, für den eine Welt zusammenbricht? | |
Sind Sie wirklich mal in einen Kindergeburtstag geplatzt? | |
Ja. Jemand hatte sich [3][das Leben genommen,] und wir standen bei den | |
Angehörigen vor der Tür. Auf unser Klingeln öffnete ein kleines Mädchen, | |
strahlte uns an und hielt uns Schoko-Muffins hin. Dann kam die Mutter – und | |
ihr konnte ich ansehen, dass sie Bescheid wusste. Denn es fehlte ja jemand. | |
Verfolgen Sie diese Bilder? | |
Nein. Ich kann mich an fast alles erinnern, und spektakuläre Fälle verfolge | |
ich in der Presse weiter. Aber nichts davon hat mich ungewollt in Bildern | |
oder im Traum noch mal aufgesucht. Es sind vielmehr bewusste Erinnerungen, | |
die ich abrufen kann oder eben nicht. | |
Wie schaffen Sie das? | |
Das hat mit Psychohygiene zu tun. Um einen sehr beeindruckenden Einsatz zu | |
verarbeiten, brauche ich ein paar Tage, das ist harte Arbeit. Es fängt | |
damit an, dass ich ausführliche Einsatzberichte schreibe, die nicht | |
zwangsläufig ans KIT-Büro gehen, sondern nur für mich sind. Außerdem | |
überlege ich: Wie belohne ich mich nach einem Einsatz? Ich habe einen | |
Zweitwohnsitz an der Ostsee, direkt am Strand. Das ist Balsam für meine | |
Seele. Da ruhen mein Mann und ich uns aus. | |
Ihr Mann hat als Hauptkommissar auch mit Toten zu tun. Hilft Ihnen das? | |
Mein Mann ist bei der Wasserschutzpolizei und hat nur mit Tod zu tun, wenn | |
es schwere Arbeitsunfälle oder Verkehrsunfälle gibt oder jemand von der | |
Köhlbrandbrücke springt. Im Moment ist er in einer anderen Dienststelle. | |
Aber ja, ihm ist das Thema vertraut – was für mich insofern entlastend ist, | |
als ich mit ihn anders darüber sprechen kann als mit Freunden. Die halten | |
das oft nicht aus. Mein Mann schon. | |
Jederzeit? | |
Nein. Ich neige dazu, gleich morgens auf dem Handy nach den | |
KIT-Einsatzberichten zu schauen. Ich sitze dann am Frühstückstisch und | |
sage: „Da ist der und der getötet worden...“ Da hat mein Mann irgendwann | |
gesagt: „Tu mir den Gefallen: keine Leichen zum Frühstück!“ Daran halten | |
wir uns bis heute. | |
Und in Ihren Krimis verarbeiten Sie Ihre KIT-Einsätze? | |
Nein. Mit dem Krimi-Schreiben habe ich schon vor meiner Zeit beim KIT | |
angefangen. Auslöser waren meine Erlebnisse als Therapeutin in der | |
Psychiatrie. Auch da kommen Menschen zu mir, die mit intensiven Gefühlen | |
kämpfen. Ich muss das alles durcharbeiten, die Patienten im übertragenen | |
Sinne halten. Wenn ich diese Emotionen versprachliche, kann ich mich besser | |
davon distanzieren. | |
Gibt die Psychiatrie so viel an Romanstoff her? | |
Ja. Da sind so viele Dinge passiert, so skurril, so furchtbar, so lustig, | |
spannend – ich musste das einfach aufschreiben. So war unheimlich viel | |
Material zusammengekommen, das mir die Freude am Schreiben vermittelt hat | |
und diese gute emotionale Distanzierung. Deshalb habe ich meinen ersten | |
Roman geschrieben, der in der Psychiatrie spielt. Dann kam die KIT-Arbeit | |
dazu, und die brachte den Aspekt der Polizeiarbeit mit hinein. | |
Allerdings durchschaut die Psychologin in Ihren Krimis nie die Täter. Ist | |
das ein Problem Ihres Berufsstands? | |
Wenn überhaupt, würde ich mir nur anmaßen, mich selber zu kritisieren. Und | |
ja, ich neige dazu, erst mal das Gute im Menschen zu sehen. Das ist | |
hilfreich, weil mir nicht jeder, der in die psychotherapeutische Praxis | |
kommt, die ich inzwischen führe, auf den ersten Blick sympathisch ist. Wenn | |
da ein Narzisst reinkommt – das ist nicht lustig. Bis ich das finde, was | |
ich an diesem Menschen wertschätzen kann. Dann ist der Narzissmus nur noch | |
ein Symptom, und ich kann wunderbar mit demjenigen arbeiten. Und ja, | |
vielleicht kritisiere ich in meinen Büchern, dass ich, wenn ich zu Menschen | |
in Beziehung trete, vernachlässige, dass sie auch schlimme Dinge tun | |
können. | |
In Ihren Krimis über den „Mikrokosmos Anstalt“ steckt auch Humor. Wird in | |
der Psychiatrie viel gelacht? | |
Absolut. Ich habe jahrelang die [4][Depressions-]Bewältigungsgruppe | |
geleitet, und wir haben viel gelacht. Gerade psychisch Kranke haben oft | |
einen guten Selbsthumor. In meinem ersten Buch schreibe ich über einen | |
Patienten mit Zwängen. Das ist sehr angelehnt an einen echten Patienten. Er | |
konnte ausgelassen über seine Zwangshandlungen lachen. Aber er beging sie | |
trotzdem. | |
14 Nov 2020 | |
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[1] /Traumapaedagoge-ueber-Folgen-von-Hanau/!5665832&s=Krisenintervention/ | |
[2] https://www.drk-harburg.hamburg/ehrenamt-kriseninterventionsteam.html | |
[3] /Isabel-Bogdan-ueber-ihren-Roman-Laufen/!5704874&s=isabel+bogdan/ | |
[4] /Studie-zu-psychischen-Krankheiten/!5714450&s=Depression/ | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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