# taz.de -- Hanau nach dem rechten Anschlag: Die Kinder dieser Stadt | |
> Eine Woche nach dem rassistischen Terror werden die Opfer zu Grabe | |
> getragen. Eine Mutter fordert, nicht zur Tagesordnung überzugehen. | |
Bild: Beerdigung von Mercedes K. am 24. Februar | |
HANAU taz | Kränze, Grablichter, Bilder der Opfer, Botschaften des | |
Mitgefühls und der Wut. Auch eine Woche [1][nach der Tat] ist in der Mitte | |
Hanaus die Wunde sichtbar, die die rassistisch motivierten Morde am 19. | |
Februar gerissen haben. Der gewaltige Sockel des Denkmals für die Brüder | |
Grimm verschwindet unter Tulpen, Rosen, Kerzen und Plakaten. | |
Mit unbeholfener Handschrift haben zwei Jungen auf einem grünen Zettel | |
notiert: „Wir trauern mit den Angehörigen der Opfer“. Verwandte und Freunde | |
haben Porträts aufgestellt: Junge Menschen gucken selbstbewusst und | |
freundlich in die Kamera. Auf vielen Plakaten stehen ihre Namen. „Diese | |
Namen sind wichtiger als seine!“ Nicht an den Täter, sondern an die Opfer | |
und ihre Familien wollen die Menschen erinnern. | |
Passanten halten inne, manche kommen, um neue Blumen und Botschaften | |
abzulegen. „Wir halten zusammen!“, steht da, aber es gibt auch Zeichen des | |
Zorns: „Es reicht!!!“, liest man und: „Ich bete, dass es nicht heute Hass | |
ist und morgen zum zweiten Mal Auschwitz sein wird.“ | |
Hanau lebt im Ausnahmezustand. Am Sonntag [2][versammelten sich auf dem | |
Markt mehr als zehntausend Menschen], um anschließend in einem langen | |
Demonstrationszug zu den Tatorten am Heumarkt und im Ortsteil Kesselstadt | |
zu ziehen. Am Montag trafen sich mehr als Tausend Menschen, um mit ihren | |
Imamen das Totengebet für drei der Opfer zu teilen. Ihre Särge waren in | |
türkische Fahnen gehüllt. Auch Vertreter der türkischen Regierung kamen zu | |
Wort. | |
„Eine furchtbare Inszenierung“, findet Mehmet Tanriverdi, stellvertretender | |
Bundesvorsitzender der Kurdischen Gemeinde in Deutschland. „Die Türkei | |
instrumentalisiert die Opfer für politische Zwecke“, sagt er. Auch die | |
ausgegebene Parole: „Islamhass ist die Mutter aller Probleme!“ findet er | |
falsch. „Die Menschen sind nicht wegen ihres Glaubens gestorben, sondern | |
weil der rassistische Täter sie als Nichtdeutsche treffen wollte,“ sagt | |
Tanriverdi der taz. | |
## Die Kanzlerin hat sich angekündigt | |
Am Freitag wird hier das Totengebet für die beiden letzten Opfer | |
gesprochen. Am 4. März ist eine gemeinsame Gedenkfeier geplant, zu der sich | |
der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin angemeldet haben. | |
Am Dienstag begleitet der kurdische Gemeindevertreter die Vizepräsidentin | |
des Deutschen Bundestages, Claudia Roth, zu den Tatorten. Vor der Shishabar | |
Midnight am Heumarkt legt die Grünenpolitikerin Blumen nieder. „Wir haben | |
ein Problem mit Rassismus und Rechtsterrorismus,“ sagt Roth und räumt ein: | |
„Das große Problem ist kleingeredet worden. Rassismus darf nicht zur | |
Normalität verkommen.“ Sie leitet daraus eine Verpflichtung zum Kampf gegen | |
Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus ab. | |
Der Heumarkt, dieser erste Tatort, an dem am vergangenen Mittwoch fünf | |
Menschen erschossen wurden, ist längst Gedenkstätte geworden. In der Bar | |
starb Miteigentümer Sedat G., 30, den seine Freunde als friedlichen und | |
freundlichen Zeitgenossen beschreiben. Auch hier ein Blumenmeer und | |
Botschaften der Liebe und des Mitgefühls. | |
Mehr als Tausend Freunde und Angehörige haben sich am Mittwoch bei der | |
Beisetzung in seinem Wohnort Dietzenbach versammelt. Hanaus | |
Oberbürgermeister Claus Kaminsky hielt eine Trauerrede, wie am Vortag bei | |
den ersten Beerdigungen in Offenbach und auf dem Hanauer Hauptfriedhof. | |
Am Montag wurde Mercedes K. in der Gruft ihrer Familie in Offenbach | |
beigesetzt. Die deutsche Staatsbürgerin aus der Minderheit der Roma | |
hinterlässt einen Sohn und eine Tochter. Sie hatte einen Job in dem Kiosk, | |
der mit der Arena-Bar am Kurt-Schumacher-Platz verbunden ist, dem zweiten | |
Tatort. | |
Am vergangenen Mittwoch hatte sie eigentlich frei. Doch weil sie dort für | |
ihre Kinder noch eine Pizza kaufen wollte, traf sie auf ihren Mörder. Im | |
Hausflur des in die Jahre gekommenen neunstöckigen Wohnhauses sind Blumen | |
abgelegt. Immer wieder halten PassantInnen inne und teilen Gedanken und | |
Trauer. | |
## Rosa T-Shirt, schwarze Schiebermütze | |
[3][Dort starb auch Ferhat Unvar.] Seine Familie hatte am Mittwoch zu einer | |
Trauerfeier in die Sporthalle der benachbarten Heinrich-Heine-Schule | |
eingeladen. Die Halle war bis auf den letzten Platz besetzt. An der Wand | |
die Botschaft der Föderation der Demokratischen Gesellschaft Kurdistan: | |
„Dem Faschismus und Rassismus keinen Fußbreit Raum geben!“ Fast alle im | |
Raum hatten sich das Bild des 23-Jährigen ans Revers geheftet, Ferhat im | |
rosa T-Shirt und mit einer schwarzen Schiebermütze. Er hatte gerade seine | |
Ausbildung als Anlagentechniker abgeschlossen und große Pläne. | |
Der Imam aus Kassel – Hanau hat keine kurdische Moschee – erklärte der | |
Trauergemeinde den islamischen Ritus der Bestattung. Auf die Reporterfrage, | |
was genau er denn sagt, wissen Ferhats Freunde an unserem Tisch keine | |
Antwort. „Wir können kein Kurdisch. Wir sind alle hier geboren. Wir gehören | |
alle hierher!“, versichern sie. | |
Ihre Namen wollen sie nicht sagen, nicht nach dem, was sie in Medien lesen | |
mussten. „Da heißt es, das war ein Einzelfall und der Täter war krank,“ | |
ereifert sich ihr Wortführer. „Doch das war ein Rassist und Terrorist, mit | |
Ausländern hat das alles nichts zu tun. Wir leben jetzt zwar mit Angst, | |
aber wir lassen uns nicht vertreiben, wir halten zusammen!“, fügt er | |
entschlossen hinzu. | |
Hanau hat den Fastnachtszug abgesagt. Trotzdem waren in der Stadt auch an | |
diesem Tag maskierte Menschen unterwegs. | |
„Ich kann nicht verstehen, wie man nach dem, was geschehen ist, einfach | |
feiern und fröhlich sein kann“, sagt einer der drei: „Ich habe deshalb | |
heute schon ein paar ‚Freunde‘ im Internet gelöscht.“ | |
## „Ein liebenswerter Hanauer Bub“ | |
Bei der Beerdigung auf dem Hauptfriedhof wendet sich Oberbürgermeister | |
Kaminsky gegen die Erzählung von einer angeblich fremdenfeindlichen Tat, | |
„weil die Opfer für uns keine Fremden waren; alle Ermordeten waren Kinder | |
unserer Stadt“, stellt Kaminsky klar. „Ferhat war ein liebenswerter Hanauer | |
Bub!“ Kaminski kündigt an, dass die Stadt auf dem Friedhof eine | |
Gedenkstätte errichten wird, „für alle Zeit, zum Gedenken an die | |
schreckliche Tat und an alle neun Ermordeten.“ | |
Ferhat Unvars Mutter, Serpin Temiz, findet die Kraft, [4][Worte an die | |
Trauergemeinde zu richten], die seitdem häufig zitiert werden. „Ich habe | |
Angst“, sagte sie und fügt hinzu: „Ich hoffe, dass nicht eine andere Mutter | |
erleben muss, was ich durchgemacht habe.“ Sie appellierte an die | |
Verantwortlichen in Staat und Gesellschaft, nicht zur Tagesordnung | |
überzugehen: „Den Worten müssen Taten folgen!“ | |
Doch welche? Zu dieser Frage hat [5][Response, die Beratungsstelle für | |
Opfer von rechter und rassistischer Gewalt], am Dienstagabend zu einer | |
Diskussion in die Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt eingeladen. | |
Response-Leiterin Olivia Sarma wendet sich gegen die ständig wiederholte | |
Floskel, „es war ein Anschlag auf uns alle!“ Die Morde von Hanau seien | |
„Botschaftstaten“, die Opfer seien nicht individuell ausgewählt, sondern | |
stellvertretend angegriffen worden, als „nichtdeutsch“, als „anders“ | |
markiert. Alle Menschen, die als nichtdeutsch wahrgenommen werden, würden | |
so massiv verunsichert. Deshalb sei es wichtig, darüber zu reden; weder am | |
Arbeitsplatz noch in der Schule dürfe die Mehrheitsgesellschaft zur | |
Tagesordnung übergehen. | |
Wenig zuversichtlich gibt sich [6][Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler, der eine | |
Opferfamilie im NSU-Prozess] vertreten hat. „Antisemitismus, Islamphobie | |
und Rassismus sind fest in der deutschen Gesellschaft verankert“, sagt er. | |
Nicht nur die AfD, sondern auch Politiker von CDU und CSU nennt er als | |
Urheber rassistischer Einstellungen, etwa wenn sie [7][Shishabars, die | |
Rückzugsräume migrantischer Jugendlicher,] unter Generalverdacht stellten | |
oder wenn der [8][Innenminister den Zuzug in die Sozialsysteme „mit der | |
letzten Patrone“] zu verhindern versprach. | |
## „Aus Wut kann Energie werden!“ | |
Walid Malik, Islam- und Rassismusexperte, stellt nüchtern fest: „Wir können | |
nicht damit rechnen, dass uns die Mehrheitsgesellschaft schützt.“ Er | |
fordert einen Rassismusbeauftragten des Bundes, unabhängige | |
Beschwerdestellen bei der Polizei und in der Wirtschaft. „Aus Wut kann | |
Energie werden!“, gibt er den von Rassismus bedrohten Menschen noch mit auf | |
den Weg und: „Lasst uns aufeinander aufpassen!“ | |
Am Schluss der Veranstaltung wird der Aufruf „fortschrittlicher | |
migrantischer“ Organisationen zu einem Generalstreik gegen den Rassismus | |
verlesen, der für den 8. Mai geplant ist. Davon solle ein starkes Signal | |
ausgehen. | |
In Hanau ist die Ersthilfe angelaufen. Die Stadt hat [9][ein Bürgertelefon | |
geschaltet] und Opferbeauftragte eingesetzt. Es sind zwei Ärztinnen und als | |
Koordinator der parteilose Stadtverordnete Robert Erkan, ein ausgebildeter | |
Mediator. Die Stadt übernimmt die Kosten für die Bestattungen der Opfer, | |
für die Überführungen und Flüge, sie stellt Sonderbusse bei den | |
Trauerfeiern. | |
Am Dienstag kamen im Gebäude der Staatsanwaltschaft Hanau mit dem | |
Opferbeauftragten der Bundesregierung, Edgar Franke, erstmals | |
VertreterInnen von Behörden, Hilfsorganisationen und | |
Religionsgemeinschaften zu einem runden Tisch zusammen, um in einem | |
Netzwerk die Hilfe für Angehörige und traumatisierte Tatzeugen zu | |
koordinieren. | |
26 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Mutmasslich-rassistischer-Anschlag/!5665203 | |
[2] /Nach-rassistischem-Anschlag-in-Hanau/!5665545 | |
[3] /Nach-dem-rassistischen-Attentat/!5664747 | |
[4] /Trauer-nach-rassistischem-Anschlag/!5665804 | |
[5] https://response-hessen.de/ | |
[6] /25-Jahre-nach-Rostock-Lichtenhagen/!5435609 | |
[7] /Rechter-Terror-gegen-Migranten/!5663103 | |
[8] /Vorwurf-Volksverhetzung/!5125084 | |
[9] http://hanau-steht-zusammen.de/ | |
## AUTOREN | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Migration | |
Trauer | |
antimuslimischer Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
Grüne Hessen | |
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
Schwerpunkt Rechter Terror | |
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Linken-Anfrage zu Kampf gegen Rassimus: „Keine Planungen vorgesehen“ | |
Deutschland bekommt erst mal keinen Rassismusbeauftragten. Und auch die | |
Pläne für einen Expertenkreis zu Muslimfeindlichkeit stocken. | |
Gedenken in der Rosenstraße: Die Gegenwart der Vergangenheit | |
In der Rosenstraße protestierten Frauen 1943 erfolgreich gegen die | |
Deportation ihrer jüdischen Ehemänner. Beim aktuellen Gedenken geht es auch | |
um heute. | |
Rechte Gewalt stoppen: Wie viel Staat soll es sein? | |
Um rechte Gewalt zu stoppen, müssen wir über konkrete Maßnahmen sprechen. | |
Diese könnten auch für Linke unangenehm werden. | |
Nach dem Terror in Hanau: Alle Akten auf den Tisch | |
Die hessischen Grünen müssen anfangen, ihre Beteiligung an der | |
Landesregierung dafür zu nutzen, rechtsextreme Strukturen aufzudecken. | |
Maßnahmen gegen rechten Terror: Was tun gegen den Hass? | |
Politik und Zivilgesellschaft diskutieren nach dem Hanau-Anschlag, was | |
gegen rechten Terror hilft. Acht Punkte, die etwas verbessern könnten. | |
Protokolle nach Hanau: Wut. Trauer. Mut | |
Eine Woche nach dem rassistischen Terroranschlag von Hanau bleibt die | |
Frage: Was können wir tun? Elf Protokolle. | |
Editorial zum Dossier nach Hanau: Offene Grenzen | |
Eine Allianz aus Wutbürgern und rechten Ideologen hat 2015 die Grenzen | |
geöffnet – für bis dahin nicht Sagbares | |
Hanau und Rechtsextremismus: Die Mutter aller Probleme | |
AKP-nahe Akteure vereinnahmen die Opfer von rassistischem Terror in | |
Deutschland. Das darf die weiße Mehrheitsgesellschaft nicht länger | |
ignorieren. | |
Nach dem rassistischen Attentat: Der Hanauer Junge | |
Ferhat Unvar ist tot. „Wir sind deutsch“, sagt Cousin Ali Unvar. Und sein | |
Bruder Agit Unvar fügt hinzu: „Wir dürfen uns nicht separieren.“ |