| # taz.de -- Essay zu Integration und Zuwanderung: Dieses Deutschland gehört mir | |
| > Die Deutschiranerin Yasaman Soltani hörte oft, sie solle dahin | |
| > zurückgehen, wo sie herkomme. Sie ging wirklich, kehrte zurück – und hat | |
| > viel gelernt. | |
| Bild: „Auf den Straßen sprachen plötzlich viele Menschen meine Sprache“: … | |
| Frau Soltani, wenn es Ihnen hier nicht gefällt, dann gehen Sie doch wieder | |
| dorthin zurück, wo Sie hergekommen sind.“ | |
| Als ich vor [1][acht Jahren einen Leserartikel für Zeit Online] schrieb und | |
| darin ausführte, dass die Integration von Ausländern nicht nur durch diese | |
| zu erreichen sei, sondern auch eine Beteiligung der deutschen Bevölkerung | |
| erfordere, las ich zahllose Kommentare, die mir ein verbales Rückflugticket | |
| ausstellten. Damals, 2012, war das Wort [2][„Hasskommentar“] noch neu, und | |
| ich kannte den Umgang damit nicht. | |
| Ich las einen nach dem anderen und wurde trauriger und trauriger, bis ich | |
| endlich verstand, dass es sich nicht um konstruktive Kritik an meinem | |
| Artikel handelte. Meine Sätze hatten etwas angerührt. 50.000 Aufrufe. 522 | |
| Kommentare. Über Tage meistgelesener Artikel. Ich versuchte, die Kontrolle | |
| über die Reaktionen zu gewinnen, erstellte eine Liste, in die ich alle | |
| positiven und negativen Kommentare eintrug. Doch ihre Worte schwirrten mir | |
| im Kopf umher und taten weh. Die Negativen hatten einfach mehr Gewicht. | |
| Kommentar Nummer 66 lautete: „Wer die angebotene Wurst nicht will, verlässt | |
| bitte den Laden und lässt sich woanders bedienen.“ Aber in welchen anderen | |
| Laden sollte ich denn gehen? War dieses Land nicht mein Laden? „Warum | |
| hassen sie uns?“, hatten Asylbewerber in Hoyerswerda damals auf ein Laken | |
| geschrieben. | |
| Heute frage ich mich das nicht mehr. Das „Warum“ interessiert mich schlicht | |
| nicht mehr. Früher, als Jugendliche, habe ich diskutiert, mich gewehrt. An | |
| Wahlständen der CDU stemmten wir uns gegen Gegner der doppelten | |
| Staatsbürgerschaft. Wir wollten unsere Herkunft nicht aufgeben, und wir | |
| wollten Deutsche sein. | |
| Bei meinem Schülerpraktikum in einer Werbeagentur regte man sich beim | |
| Mittagessen gern über die „Ausländer“ auf, und ich, in meiner frischen | |
| Bereitschaft, mich aufzulehnen, hielt dagegen. „Auch ich bin Ausländerin“, | |
| verkündete ich. „Nein, du bist anders. Du bist total gut integriert.“ Total | |
| gut integriert? Wer waren sie, dass sie mir in meinem vermeintlich eigenen | |
| Land, diese Auszeichnung gaben? Durfte ich es andersherum genauso? Durfte | |
| ich zu ihnen auch „Du sprichst aber gut Deutsch“ sagen? | |
| Kommentar Nummer 22: „Liebe Zuwanderer, nutzt das Angebot, anstatt zu | |
| meckern. Auf dem silbernen Tablett werdet ihr die Integration nämlich kaum | |
| hinterhergetragen bekommen. Mein Nachbar aus Jugoslavien (sic) ist bestens | |
| integriert. Und jugoslavisch (sic) spricht er nicht mehr – er hat sein | |
| Geburtsland hinter sich gelassen. Er hat keine doppelte | |
| Staatsangehörigkeit! Er hat sich eben ganz und gar integriert und ist von | |
| einem Einheimischen nicht mehr zu unterscheiden.“ | |
| Einmal abgesehen davon, dass es 2012 das Land Jugoslawien gar nicht mehr | |
| gab und es die Sprache Jugoslawisch nie gegeben hat, fragte ich mich, ob | |
| der Leser recht hatte. War das das Rezept, um hier akzeptiert zu werden? | |
| Seine Muttersprache nicht mehr sprechen? Sein Vaterland hinter sich lassen? | |
| Mein Vaterland ist der Iran. Dort bin ich 1983 geboren. Wir verließen meine | |
| Heimat, als ich sechs Jahre alt war. Meine Eltern waren damals Anfang | |
| dreißig, mein Bruder war gerade mal drei. Es war keine gute Zeit, um im | |
| Iran zu leben. Der Iran-Irak-Krieg war seit einem Jahr zu Ende, das Land | |
| war farblos und karg. Aber 1989 war auch keine gute Zeit, um in Deutschland | |
| anzukommen. | |
| Hoyerswerda, 1991. | |
| Rostock-Lichtenhagen, 1992. | |
| Solingen, 1993. | |
| Als ich erwachsen war, erzählte mir mein Vater, dass er nach unserer | |
| Ankunft aus Deutschland fliehen wollte. Dabei waren wir doch gerade erst | |
| geflohen. Wir waren Flüchtlinge. Und er erzählte mir auch, dass er sich | |
| damals einen Vollbart wachsen ließ. Ein Gemisch aus Wut und Trotz. | |
| Vielleicht auch Stolz. Er wollte sich als Ausländer nicht verstecken. | |
| Wir lebten in Frankfurt am Main. Ich erinnere mich an wenig aus dieser | |
| Zeit. Ich aß hier meine erste Banane, das weiß ich noch. Und ich erinnere | |
| mich an einen Schultag, an dem meine Mutter mich zu spät abholte. Ich saß | |
| weinend im Büro der Schulleiterin, die mir Fragen auf Deutsch stellte, die | |
| ich zwar verstand, doch nicht auf Deutsch beantworten konnte. Vielleicht | |
| war es auch mein Schluchzen, das mich vom Antworten abhielt. Ich weiß es | |
| nicht mehr. | |
| Ich weiß nur, dass ich nickte und den Kopf schüttelte, um ihre Fragen zu | |
| beantworten. Nur sieht das persische Nicken und Kopfschütteln anders aus | |
| als das Deutsche. Im Iran hebt man sein Kinn, um zu sagen: „Nein.“ Die | |
| umgekehrte Bewegung, also, das Kinn zu senken, bedeutet „Ja.“ Und so hielt | |
| die Schulleiterin sowohl mein Ja als auch mein Nein für ein amputiertes Ja. | |
| Ich erinnere mich auch daran, dass wir für unseren Asylantrag Stuhlproben | |
| abgeben mussten. Auch wir Kinder mussten uns im Bad auf den Boden hocken | |
| und auf ein Stück Papier kacken, damit wir es eintüten und verschicken | |
| konnten. | |
| Ich erinnere mich, dass ich nicht konnte und wie meine Mutter, die die | |
| Angst vor den deutschen Behörden noch nicht verinnerlicht hatte, kurzerhand | |
| das Produkt meines Bruders halbierte und eine der Hälften in meinem Namen | |
| abschickte. Mit sechs Jahren wusste ich nicht, was Erniedrigung bedeutet, | |
| doch diese Szene ist mir in meinem erwachsenen Gehirn als erniedrigend in | |
| Erinnerung geblieben. | |
| „Die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte werden abgelehnt“, hieß … | |
| einige Monate später in einem Schreiben vom Bundesamt für die Anerkennung | |
| ausländischer Flüchtlinge – wie die Behörde damals noch hieß –, das an … | |
| und meinen Bruder gerichtet war. Er war drei und ich sechs Jahre alt. | |
| Hatten wir umsonst gekackt? | |
| Unser Anwalt ging in Berufung, und unser Leben in Deutschland nahm seinen | |
| Anfang. Wir lernten Deutsch, mein Bruder und ich sprachen nach einem Jahr | |
| kein Persisch mehr zu Hause, unsere Mutter nannten wir „Mutti“. Meine | |
| Eltern fingen an zu arbeiten, und ich erinnere mich an manche Geschichten, | |
| die sie von der Arbeit erzählten, davon, wie ihre Kollegen ihnen | |
| begegneten. | |
| Dass viele freundlich waren, ist meiner Meinung nach nicht erwähnenswert, | |
| das sollte selbstverständlich sein, meine Eltern waren es ja auch. Neben | |
| der Freundlichkeit war da noch etwas anderes. Ein Gefühl, das ihnen als | |
| Ausländer vermittelte, dass sie im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen | |
| immer ein bisschen dümmer waren, weil ihr Deutsch nicht muttersprachlich | |
| war. | |
| Ich erinnere mich an eine wütende Hilflosigkeit und daran, wie ich mir | |
| vorstellte, meine Mutter auf der Arbeit zu besuchen und ihre Kollegen in | |
| einwandfreiem Deutsch zurechtzuweisen. Ich tat es nie. Die Wut blieb. | |
| ## Wütend auf Merkel und Mustafa | |
| Mein Bruder und ich gingen zur Schule, aufs Gymnasium, es folgten Studium, | |
| Promotion, Approbation, Postdoc. Zusammen legten wir einen beispiellosen | |
| Lebenslauf hin, in den sich Erfahrungen streuten, die uns immer wieder | |
| daran erinnerten, dass wir nicht „wirklich“ von hier kamen. Die Polizei | |
| hielt Jugendliche, die nicht deutsch aussahen, unzählige Male auf der | |
| Straße an. | |
| Ältere deutsche Frauen setzten sich in der U-Bahn weg, wenn neben ihnen | |
| jemand mit dunklerer Haut, dunkleren Haaren oder dunklem Bart Platz nahm. | |
| Eltern schämten sich, dass die Tochter einen ausländischen Freund mit nach | |
| Hause brachte, Professoren vergaben fünf Promotionsstellen an fünf | |
| deutsche, also hier geborene Studenten. | |
| An den Migranten gerichtet, hieß es: „Sie können doch so gut Englisch, da | |
| ist England genau das Richtige.“ Als ich mich für ein Promotionsstipendium | |
| bewerben wollte, sagte mein Professor: „Stipendium? Dafür reichen deine | |
| Noten doch nicht.“ Ich hatte einen Einserschnitt im Diplom. Und als ich es | |
| trotzdem tat und es erhielt, sagte eine Freundin: „Ja, die Stiftung braucht | |
| endlich mal ein Paar Migranten. Sieht sonst echt nicht gut aus.“ | |
| Dann wurde ich Psychotherapeutin. Die teure Ausbildung, die unbezahlte | |
| Arbeit in der Psychiatrie finanzierte ich selbst. Es gab sonst kaum | |
| Migranten, die sich diesen teuren Job leisten konnten. Für uns hatten die | |
| Großeltern nicht gespart, die waren gar nicht hier. | |
| Zu dieser Zeit, 2015, „brach“ die „Flüchtlingswelle“ über Deutschland | |
| herein. Und ich behandelte als Erste in unserer Klinik einen geflüchteten | |
| Patienten. „Beantragen Sie da erst mal weniger Stunden. Wir wissen ja | |
| nicht, ob der die Therapie nur für seinen Asylantrag will“, schlug ein | |
| Kollege damals vor. Ich hörte nicht auf ihn und beantragte so viele | |
| Stunden, wie er brauchte, damit es ihm wieder gut ging. | |
| Langsam veränderte sich das Stadtbild. In Frankfurt sprachen plötzlich | |
| viele Menschen meine Sprache auf den Straßen. Mir gefiel das. Doch viele | |
| Bürger waren wütend. Wütend auf Merkel, auf Mohammed, auf Mustafa. Waren | |
| sie auch wütend auf mich? | |
| „Du bist ja nicht wie die anderen Ausländer. Die Iraner sind so fleißig und | |
| an Bildung interessiert“, sagte die Mutter einer Freundin. Wir waren die | |
| „guten Migranten“. Ich war also nicht wie die anderen Ausländer. Aber auch | |
| nicht wie die Deutschen. Wer war ich dann? Deutsche, Frau mit | |
| Migrationshintergrund, Migrantin, Ausländerin, Flüchtling, Kanakin. | |
| Ein ordentliches Kastensystem. „Migrationshintergrund“ klingt für mich | |
| wie „Behindertenausweis“ mit unklarer Prozentzahl. Bis 1949 wird per | |
| Definition zurückverfolgt, ob die eigenen Eltern zugewandert sind oder | |
| nicht. Das will man hier nämlich genau wissen. | |
| „Aber Yasa, wir brauchen doch auch Putzfrauen in dieser Gesellschaft“, | |
| antwortete ein Kollege mir, als ich mich für die Schulbildung einer jungen | |
| syrischen Klientin einsetzte, und ich verstand, dass die Kanakenkaste | |
| notwendig war. Ich hatte dem syrischen Mädchen gesagt, was mir meine Eltern | |
| damals gesagt hatten: „Du musst dich so lange bilden, bis du ganz oben in | |
| der Gesellschaft einsteigst. Von unten aufsteigen wird dir als Ausländerin | |
| schwer gelingen.“ | |
| Und ich hatte mich gebildet. Immer fleißig gelernt, für mich, für meine | |
| Eltern, immer mit einer 1 vorneweg. Mehr Bildung ging kaum. Ich hatte auf | |
| meine Eltern gehört und war oben eingestiegen. | |
| Und dann saß ich eines Morgens als Leiterin meiner Abteilung in einer | |
| Sitzung, und eine Kollegin fragte in die Runde: „Wer kann das Manuskript | |
| Korrektur lesen? Am besten macht das ein ‚native speaker‘.“ In unserer | |
| Runde gab es zwei Deutsche, die sich meldeten. Auch ich hob meine Hand. | |
| „Frau Soltani, aber Sie sind doch keine ‚native speakerin‘ “, sagte sie, | |
| und ich senkte langsam die Hand. | |
| Weiter in der Kommentarspalte. Nun hieß es höflich: „Vielleicht sollten | |
| Sie, werte Frau Soltani, auch einen Augenblick darüber nachdenken, wie es | |
| Ihnen heute ergehen würde, wären Ihre Eltern im Iran geblieben, anstatt mit | |
| Ihnen nach Deutschland zu gehen“, hatte ein anderer Leser geschrieben. | |
| Ja, ich habe tatsächlich oft darüber nachgedacht, wie es uns heute ergehen | |
| würde, hätten wir den Iran nie verlassen. Was habe ich jetzt, was ich nicht | |
| gehabt hätte? Was habe ich für immer verloren, was ich dort gehabt hätte? | |
| Niemand kann mir eine Antwort auf diese Fragen geben. Und dann hatte | |
| derselbe Leser noch hinzugefügt: „Neben Ihren Eltern sollten Sie | |
| Deutschland dankbar sein, anstatt zu beckmessern.“ | |
| Meinen Eltern war ich dankbar. Doch musste ich Deutschland dankbar sein? | |
| Ich konnte keinem Land dankbar sein. Vielleicht meinte der Leser, ich solle | |
| Frau Merkel oder Herrn Kohl, der damals Bundeskanzler war, dankbar sein. | |
| Doch ich spüre keine Dankbarkeit Deutschland gegenüber. Meine Familie | |
| leistet ihren Beitrag, arbeitet, zahlt Steuern. Ich zahle Steuern und | |
| behandle die kranken Menschen dieser Gesellschaft. Darunter einen | |
| Patienten, der früher in der rechten Szene unterwegs war. | |
| „Ist interessant, dass Sie jetzt eine ausländische Therapeutin haben“, | |
| sagte ich, als er mir davon erzählte. „Ja, ist interessant“, sagte er, und | |
| es wurde eine gute Therapie. Ich finde, Deutschland kann mir und allen hart | |
| arbeitenden Kanaken verdammt noch mal dankbar sein. Es müsste einen | |
| Kanaken-Dankbarkeits-Tag geben! Ohne uns würde diese Gesellschaft nicht | |
| funktionieren. | |
| Kommentar Nummer 87: „Die junge Dame konnte hier kostenfrei zur Schule | |
| gehen und anschließend studieren, und sie wird aufgrund des Studiums eine | |
| bessere Chance auf ein gutes Leben haben als all diejenigen, die ihr dies | |
| mit ihren Steuergeldern ermöglichten.“ Waren wir nicht dazu bestimmt, | |
| aufzuholen oder gar zu überholen? | |
| Ich wollte in einem Land leben, in dem meine Anwesenheit nicht nur | |
| toleriert wurde, nicht nur selbstverständlich war, sondern auch | |
| wertgeschätzt wurde. Aber „beckmessern“ durfte ich ja nicht, und wenn man | |
| es doch tat, hieß es: „Gehen Sie doch dorthin, wo Sie hergekommen sind, | |
| wenn es Ihnen hier nicht gefällt.“ | |
| Vielleicht hatten sie ja recht. Vielleicht sollte ich genau das tun. Es war | |
| ein gleichzeitiges Abgeschoben- und Angezogenwerden. Das ständig | |
| vermittelte Gefühl, nicht „ursprünglich“ von hier zu sein, und die | |
| Sehnsucht, wirklich dazuzugehören, waren die Motoren, die eine Entscheidung | |
| vorantrieben: Deutschland verlassen und in den Iran zurückkehren. | |
| „Was ist bloß in dich gefahren? Du willst Deutschland verlassen und in den | |
| Iran ziehen?“, sagten meine Freunde. Sie hatten recht. Ich hatte doch | |
| alles, was man in Deutschland zum Leben brauchte. Ich war | |
| Psychotherapeutin. Ich verdiente genug Geld, ging zum Yoga, hatte meine | |
| Freunde und meine Freuden. Ich genoss meine Pseudofreiheit im Zeitalter des | |
| Konsums, schaute Netflix, kaufte bei Amazon, ging auf | |
| Junggesellenabschiede, schmiss Babyshowers für meine Freundinnen, machte | |
| Urlaub, war gestresst, klagte ständig über zu viel Arbeit, dachte über | |
| Versicherungen für dies und jenes nach und wiederholte diesen Loop Jahr für | |
| Jahr. Es war ein gehetzt betäubtes Leben in Frieden und Sicherheit. | |
| ## Analphabetin im eigenen Land | |
| Und so lief auch der Arbeitsalltag hier einfach vor sich hin. „Ich habe | |
| eine kleine, süße Inderin mit depressiven Symptomen gesehen“, sagte eine | |
| Kollegin, als sie eine neue Patientin vorstellte. „Ich finde es nicht | |
| besonders respektvoll, so über Patienten zu reden. Ich stelle meine | |
| deutschen Patienten auch nicht als ‚kleine, süße Deutsche‘ vor“, sagte … | |
| Und die anderen? Schwiegen. Und ich? Fühlte mich leer, hatte mich ins Aus | |
| gespielt. Aus der Ausgrenzung in die Ausgrenzung. | |
| „Gibt es eigentlich schwarze Wundpflaster für Schwarze? Müsste es doch“, | |
| fragte ich eines Mittags in die Runde meiner Kollegen. Wir googelten und | |
| fanden heraus, dass das bereits in den 60er Jahren in den USA thematisiert | |
| worden war. „Man kann sich aber auch über jede Kleinigkeit aufregen“, | |
| murmelte eine Kollegin. „Wenn dein Volk über zweihundert Jahre versklavt | |
| wurde, und du noch heute täglich Rassismus erfährst, dann ist es keine | |
| Kleinigkeit, wenn dein Hautton nicht als Hautton anerkannt wird“, | |
| antwortete ich. Und wieder hatte ich mich aus dem Kreis begeben, hatte | |
| etwas angesprochen, das zu Mittag schwer verdaulich war. Und die anderen? | |
| Schwiegen. | |
| Wir Kanaken spürten Rassismus, er war da, passierte uns, unseren Eltern, | |
| Geschwistern und Freunden, und doch sprach man uns diese Erfahrung ab. „In | |
| Deutschland haben alle die gleichen Chancen!“, sagte eine deutsche | |
| Freundin, als ich erklärte, dass mein Name bei Bewerbungen wohl weniger | |
| Chancen hätte als ihrer. Ihr schien es schwerzufallen, sich einzugestehen, | |
| dass wir unter ungleichen Bedingungen gleich weit gekommen waren. | |
| „Wahrgenommene Diskriminierung? Was soll das denn sein? Da kann ja jeder | |
| kommen und sagen, er fühlt sich diskriminiert“, sagte ein Kollege, als ich | |
| vorschlug, für meine Doktorarbeit zu erfragen, in welchem Ausmaß Migranten | |
| Diskriminierung wahrnahmen. Ich arbeitete vor einigen Jahren an einem | |
| renommierten Forschungsinstitut, das zahlreiche Migrantenforschungsprojekte | |
| durchführte. Dafür gab es nämlich viele Forschungsgelder. | |
| Die Direktorin sagte: „Ich war in Afrika, und wir waren auf dem Anwesen | |
| eines Kollegen. Es war so süß, dort hingen die kleinen schwarzen Kinder wie | |
| Äffchen in den Bäumen.“ Aber da konnte ja jeder kommen und sich | |
| diskriminiert fühlen. | |
| Ich zumindest hatte mich ja assimiliert, wie man es von mir verlangt hatte. | |
| Sie nannten es zwar „integriert“, doch was sie meinten, war „assimiliert�… | |
| Ich als Kanakin musste ihnen den Unterschied erklären. | |
| In diesem Prozess der Assimilierung war ich mir selbst fremd geworden. Ich | |
| fühlte mich fremd in mir und mit mir. Ich hatte die Ausgrenzung | |
| verinnerlicht, mich dabei verloren und mochte mich nicht. Ich suchte nach | |
| diesem Gefühl der Zugehörigkeit. Wahrhaftiger, körperlicher Zugehörigkeit, | |
| die durch den Magen ging. Ich wollte mich durch die Erde, die mich geboren | |
| hatte, ernähren lassen. Ich dachte, ich würde mich im Iran wiederfinden. | |
| Auf früheren Reisen in den Iran lief ich durch die Straßen Teherans und | |
| schaute in Gesichter, die mir bekannt, evolutionär vertraut waren. Die | |
| Stadt war voller Onkel und Tanten, die ich nicht kannte. Die Bärte der | |
| Männer sahen aus wie der Bart meines Vaters auf den Fotos von früher. Die | |
| Ringe an ihren Fingern waren die Ringe, die meine Großeltern trugen. Auch | |
| ich wollte einen solchen Ring haben. Ich wollte ihn an meinem Ringfinger | |
| tragen. Ich wollte den Iran heiraten und mich, bis dass der Tod uns schied, | |
| an ihn binden. | |
| Kommentar Nummer 70: „Übrigens ist meine ganz persönliche Erfahrung mit | |
| Menschen aus dem Iran leider genau die, die hier in dem Artikel präsentiert | |
| wird. Vermeidet man 1001 Möglichkeiten, sie zu beleidigen, finden sie die | |
| 1002. Möglichkeit. Mir kommt es manchmal fast so vor, als würden sie nur | |
| darauf warten, beleidigt zu werden. Ursache ist meiner Meinung nach ein | |
| völlig überkommenes Ehrgefühl.“ | |
| Diese unerhörten Sätze ein Leben lang ungehört lassen und weitergehen? Es | |
| lebten doch so viele meiner Kanakenfreunde in Deutschland und genossen | |
| ihren Wohlstand. Ich konnte es nicht. „Ich bin Postmigration“, sagte ich zu | |
| meinen Freunden und meinte damit, dass ich es leid war, expliziten und | |
| impliziten Rassismus abzuklären. Mich zu erklären. Andere aufzuklären. | |
| Sollten sie doch ihr Land für sich haben. | |
| Und so kündigte ich meinen Job, ließ mein Leben in Deutschland hinter mir, | |
| schwamm gegen den „Flüchtlingsstrom“ flussaufwärts und kam dort an, wo | |
| keiner hinwollte, von wo so viele wegwollten und wo manche mich | |
| hinwünschten. Freunde schenkten mir zum Abschied nicht ein, sondern gleich | |
| drei Kopftücher, und ich machte mich auf den Weg. | |
| Ich hörte die Stimme meiner Mutter: „Jetzt? Nach deiner Approbation? Jetzt | |
| willst du alles stehen und liegen lassen, um in den Iran zu gehen? Sei doch | |
| vernünftig.“ In den Iran zu gehen, war alles andere als vernünftig. Das war | |
| keine rationale Entscheidung, ergab keinen Sinn. „Aber du musst doch ein | |
| Kopftuch tragen“, sagten meine Freunde. „Es ist gefährlich dort, wir machen | |
| uns doch nur Sorgen um dich“, sagten sie auch. Und: „Das hältst du nie im | |
| Leben aus. Dir ist deine Freiheit viel zu wichtig.“ | |
| Sie fragten: „Du willst nach Irak? Ist da nicht Krieg?“ Es half nichts. | |
| Vernunft, gute gemeinte Ratschläge und Warnungen ließen mich nicht | |
| zweifeln. Dorthin, wo ich hergekommen war, dachte ich nur. Im Sommer 2019 | |
| kam ich in Teheran an und stand mit beiden Beinen auf dem Boden, die Fäuste | |
| in die Seiten gestemmt in dieser Stadt. Ich schlug mein Zelt auf und spürte | |
| nach. Ich suchte und wusste nicht, wonach. | |
| Im Iran konnte ich kaum lesen und schreiben, ich hatte hier nie die Schule | |
| besucht. Analphabetin im eigenen Land, dachte ich und bahnte mir Buchstabe | |
| um Buchstabe den Weg zu einem Wort, das ich dann oftmals nicht kannte. | |
| „Bitte füllen Sie dieses Formular aus“, sagte ein Bankangestellter, als ich | |
| dort ein Konto eröffnen wollte. | |
| Ich nahm das Formular entgegen, starrte auf die Wörter und griff nach dem | |
| Stift, der neben mir lag. „Name“, las ich mir langsam selbst vor. Zumindest | |
| meinen Namen musste ich doch schreiben können. Verloren starrte ich auf die | |
| restlichen leeren Felder, die ich nicht zu füllen vermochte. Mir war heiß, | |
| die Klimaanlage half wenig. Noch weniger half der wartende Blick des | |
| Bankangestellten. | |
| ## Wie eine Erstklässlerin in Teheran | |
| Ein lange vergessenes Gefühl holte mich ein. Eine Sprachlosigkeit, die ich | |
| in Deutschland zum ersten Mal erfahren hatte. Ich saß am ersten Schultag | |
| einer Mitschülerin gegenüber, bemerkte, dass wir die gleichen Hefte hatten, | |
| wollte sie darauf hinweisen und eine Verbindung herstellen, suchte nach | |
| ihrem Blick, lächelte, schaute auf mein Heft, dann auf ihres und wollte | |
| etwas sagen. Und konnte nicht. | |
| Die Worte blieben mir im Hals stecken, denn es waren die falschen. Der | |
| Augenblick überraschte mich selbst. Sprachlosigkeit hatte ich in meinem | |
| kurzen Leben bis dahin noch nicht bewusst erlebt. Und heute in der Bank? | |
| Ich gab mich geschlagen. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als sei ich von | |
| hier. „Entschuldigen Sie bitte, es ist für mich etwas schwierig, dieses | |
| Formular auszufüllen. Könnten Sie mir dabei behilflich sein?“ | |
| Und so begleitete er mich durch das Dickicht des Formulars. Stolz wie eine | |
| Erstklässlerin kam ich am anderen Ende heraus, machte ein Foto und schickte | |
| es meinem Vater. „Mein erstes ausgefülltes Formular“, schrieb ich darunter. | |
| Das Leben in Teheran war gar nicht so anders als in Frankfurt und | |
| gleichzeitig völlig anders. Ich hatte eine Wohnung im Norden der Stadt, die | |
| ich mir nach und nach einrichtete und in der ich tagsüber schrieb. | |
| Ich ging auch hier zum Yoga, meldete mich mit einem Freund bei einem | |
| Essay-Workshop an und besuchte einen Philosophiekurs, in dem wir Texte von | |
| Goethe lasen. Freitags ging ich mit Freunden zu Galerie-Eröffnungen, sah | |
| mir Theaterstücke an und lud zu Filmabenden bei mir zu Hause ein. „Du | |
| siehst selbst total deutsch aus. Das muss wohl daran liegen, dass du dort | |
| so lange gelebt hast“, sagte eine Freundin. Ich nickte höflich. | |
| Hier war ich etwas Besonderes, die Freundin aus Europa, obwohl ich mit | |
| aller Kraft versuchte, mich anzupassen und meinen deutschen Akzent | |
| loszuwerden. Nicht als anders auffallen und doch anders sein. Das Fremdsein | |
| haftete weiter an mir. Und trotzdem fühlte ich mich zu Hause bei den | |
| Menschen hier. Ihr Lautsein, ihre Emotionen, das viele Essen, hier fühlte | |
| ich mich lebendig. | |
| In Deutschland war es, als würde man mit angezogener Handbremse durchs | |
| Leben fahren. Dort drehte ich meine Lautstärke herunter. Zimmerlautstärke | |
| eben. Gesetzliche Mittagsruhe. „Psst! Das ist Ruhestörung!“ Ich sehnte mich | |
| danach, diese Ruhe zu stören. Ich wollte laut sein, ungestüm, unordentlich, | |
| ungeplant. Teheran war all das. Und mehr. Eben ganz anders als Deutschland. | |
| ## Halle und Hanau | |
| Kurze Zeit nach meiner Ankunft stand wieder ein Krieg kurz bevor, doch | |
| Donald Trump brach den Angriff zehn Minuten vorher ab. Hier lebte man mit | |
| diesem und anderen Damoklesschwertern. Wie? Ich weiß es nicht. Die Armut | |
| war direkt vor der Haustür, die Menschen waren hilflos und wütend. Und ich | |
| – ich war hierhergekommen, um mich selbst zu finden? Ich schämte mich. | |
| Der Blick vieler Menschen schien zu sagen: „Die hat keine Ahnung. Diese | |
| verwöhnten Europäer, die dort im Überfluss leben, wissen nicht, was | |
| wirkliche Probleme sind.“ Und sie hatten recht. Das dicke Fell, das sich | |
| die Menschen hier hatten zulegen müssen, fehlte mir. Nach einem halben Jahr | |
| machte mir alles zu schaffen. Die Luftverschmutzung, die mir in meiner | |
| Wohnung den Atem nahm, das Chlor im Wasser, das unter der Dusche in meinen | |
| Augen brannte, das blöde Kopftuch, das meine Haare platt drückte. | |
| Ich gehörte nicht mehr zu diesem Land, schon lange nicht mehr. Doch ich | |
| wollte bleiben, mir beweisen, dass es ging. Wie konnte ich nach sechs | |
| Monaten aufgeben und einfach an das Leben in Deutschland anknüpfen? Es war | |
| kein Entweder-oder, es war zu einem Weder-noch geworden. | |
| Ein weiteres Jahr wollte ich in Teheran leben, kam nach Deutschland, wollte | |
| vier Wochen bleiben, kurz durchatmen und wieder zurückfliegen. Doch dann | |
| überschlugen sich die Ereignisse, der Iran stand erneut kurz vor einem | |
| Krieg, sie schossen das Passagierflugzeug über Teheran ab, es folgten | |
| Proteste. Und Deutschland? | |
| In meiner Abwesenheit: der Anschlag in Halle, der Mord an Lübcke. Nach | |
| meiner Rückkehr: die Wahl in Thüringen, der rassistische Anschlag in Hanau. | |
| Gehen, bleiben, gehen, bleiben, bis Corona mir den Rückweg versperrte, mir | |
| die Entscheidung abnahm und mir viel Zeit zum Nachdenken gab. Ich verstand, | |
| dass ich nicht mit leeren Händen aus dem Iran zurückgekehrt war. Ich hatte | |
| etwas mitgebracht. Es war eine Heimat, die ich mir erschlossen hatte und | |
| die ich nun in mir trug. | |
| Und die deutsche Heimat? Der Mord an George Floyd hatte etwas bewegt, auf | |
| der ganzen Welt und auch hier. Im behäbigen Deutschland wurden Wellen | |
| spürbar. Mit zehntausend anderen Kanaken und Deutschen stand ich auf dem | |
| Römerberg in Frankfurt und rief: „Black Lives Matter!“ | |
| Dieses Deutschland gehört mir! Ich war dort, wo ich hergekommen bin. | |
| 21 Jun 2020 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2012-04/-leserartikel-integr… | |
| [2] /Hate-Speech-im-Internet/!5628313 | |
| ## AUTOREN | |
| Yasaman Soltani | |
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| sie ab. Deutsche aus migrantischen Familien verlassen die Heimat. |