| # taz.de -- Hate-Speech im Internet: Auch verbaler Hass ist Gewalt | |
| > Das Internet darf nicht die virtuelle Kloake für Wut und Hass bleiben. | |
| > Schärfere Gesetze, mehr Expert*innen und härtere Sanktionen sind nötig. | |
| Bild: Wurde im Netz schwer beleidigt: Renate Künast | |
| Da ist er wieder: der Online-Hass. Raus aus der vermeintlichen virtuellen | |
| Blase mitten rein ins echte Leben. Der Fall Renate Künast und die – gelinde | |
| gesagt – [1][verwunderliche Einschätzung des Berliner Landgerichts,] | |
| wüsteste Beschimpfungen gegen die Grünen-Politikerin zwar als geschmacklos, | |
| aber hinnehmbar zu bezeichnen, hat die Debatte über Hate Speech im Netz | |
| wieder in die Schlagzeilen katapultiert. | |
| Vor allem Frauen sind den Angriffen programmierter Attacken und Angreifern, | |
| auch unter Klarnamen, ausgesetzt. Politische Themen wie Rassismus, | |
| Geflüchtetenpolitik, Klimaschutz polarisieren. Haltungen von rechts bis | |
| links, krude Ansichten, selbst Verschwörungstheorien mögen ja unter dem | |
| Label Meinungsfreiheit akzeptabel sein. Aber Beschimpfungen? Anfeindungen | |
| bis hin zu Bedrohungen jeglicher Art? Die Grenzen des digital Aushaltbaren | |
| verschwimmen. | |
| Kein Wunder also, dass sich nach dem Künast-Urteil etliche Initiativen | |
| gründeten oder Petitionen anstießen, die fordern: Hate Speech im Netz | |
| stoppen. Der [2][Hype um das Urteil] ist ein Aufhänger, brenzliger ist aber | |
| die Datenlage. [3][Laut einer Studie] des Instituts für Demokratie und | |
| Zivilgesellschaft haben mehr als 80 Prozent der Teilnehmer*innen Hate | |
| Speech im Netz gesehen, jede dritte Person wurde selbst beleidigt, weit | |
| über 10 Prozent wurde Gewalt angedroht. | |
| Die Slogans der Aktivist*innen klingen plakativ und eindeutig, sind aber | |
| bei Weitem nicht simpel in der Umsetzung. Prompt hinterlassen die | |
| Kritiker*innen – darunter vermutlich auch viele Hater – alles andere als | |
| freundliche Kommentare. So zu lesen zum Beispiel unter den | |
| [4][Campact-Aufrufen auf Facebook]. Auf anderen Plattformen attackieren sie | |
| die Organisation [5][HateAid], diffamieren die Autor*innen, die sich zu | |
| Hate Speech äußern. | |
| ## Im Netz greifen die Regeln offenbar nicht | |
| Die Kritiker*innen sehen die Meinungsfreiheit in Gefahr, gar von Zensur im | |
| ach so freien Internet ist die Rede. Aber nicht vom schmalen Grat zwischen | |
| der freien Rede, Geschmacklosigkeit und schlicht der Würde der Person, die | |
| mit verbalen Angriffen auf Persönlichkeit, Körper, Leib und Leben | |
| angetastet wird. Doch genau darum geht es. Im anonymen Netz greifen für | |
| viele die eindeutigen und unmissverständlichen Regeln, die den Schutz jedes | |
| Einzelnen, aber vor allem besagter Meinungsfreiheit gewähren, offenbar | |
| nicht. | |
| Ganz blank steht der Gesetzgeber aber nicht da. Es gibt bereits Werkzeuge, | |
| wie die Hater im Netz in ihre Schranken verwiesen werden können. Vor genau | |
| zwei Jahren trat das [6][Netzwerkdurchsetzungsgesetz] (NetzDG) in Kraft. | |
| Einen sperrigen Namen hatte sich der damalige Bundesjustizminister Heiko | |
| Maas (SPD) da ausgedacht für ein Gesetz, das der unkontrollierten Wut von | |
| Meinungsmachern in digitalen Netzwerken Einhalt gebieten sollte. | |
| Im Kern geht es darum, dass Plattformen wie Facebook, YouTube oder Twitter | |
| Beschwerdestellen in den Unternehmen einrichten, an die sich die | |
| Betroffenen wenden können. Liegen rechtswidrige Inhalte vor, müssen die | |
| Anbieter sozialer Netzwerke diese Einträge entfernen oder den Zugang dazu | |
| sperren. Außerdem müssen sie die Bestandsdaten der Hater offenlegen – wenn | |
| dies Richter anordnen. Die Idee ist richtig, schließlich ist die zunehmende | |
| Verbreitung von Hasskriminalität kein Geheimnis. Ein Bollwerk gegen Hate | |
| Speech ist das NetzDG leider nicht geworden. | |
| ## Die Zahl der Anfragen ist enorm | |
| Könnte es aber werden. Die Behörden, die für die Umsetzung des Gesetzes | |
| zuständig sind, brauchen dringend mehr Personal, um die Anfragen überhaupt | |
| zu bewältigen. Aber nicht nur zahlenmäßig, sondern auch mit entsprechender | |
| Expertise. Damit Betroffene nicht nur auf Antwort aus Berlin hoffen, | |
| braucht es zuständige Stellen in den Ländern. | |
| Ähnlich der Beschwerdeeinrichtungen, die sich um das Einhalten von | |
| Datenschutz, besonders der Vorgaben der EU-Datenschutzgrundverordnung (kurz | |
| DSGVO) kümmern. Auch hier ist die Zahl der Anfragen bundesweit enorm. | |
| Allerdings sind die Wege zur Beschwerde kompliziert, brauchen Ausdauer und | |
| Geduld. Die obersten Datenschützer*innen in den Ländern beklagen seit | |
| Monaten, dass die Bearbeitung von Fällen viel Zeit erfordert. | |
| Was für die staatlichen Stellen gilt, ist bei den Unternehmen ähnlich. Wer | |
| weiß schon, wie er sich bei Facebook, Twitter oder YouTube über | |
| diffamierende Kommentare und Nutzer*innen beschweren kann? Die Kontaktdaten | |
| der Sicherheitscenter sind meist gut versteckt in den Einstellungen der | |
| Nutzer*innen. Die Verpflichtung, per Gesetz überhaupt eine Beschwerdestelle | |
| einzurichten, ist aber immerhin ein Anfang. Nun muss es empfindliche | |
| Strafen geben, wenn Bearbeitungszeiten nicht eingehalten werden, | |
| Sicherheitseinstellungen nicht nutzer*innenfreundlich sind und auch keine | |
| Kampagnen gefahren werden, um auf den Schutz der Persönlichkeitsrechte im | |
| Netz aufmerksam zu machen. | |
| ## Das Netz ist kein Paralleluniversum | |
| Renate Künast ist einer der prominentesten Fälle. Tatsächlich ist jede | |
| Person, die sich im Netz bewegt, ganz gleich, ob sie sich äußert und wie | |
| aktiv sie ist, potenzielles Opfer von Hasskriminalität. Bis der Gesetzgeber | |
| reagiert, Expert*innen gegen Hate Speech in den Unternehmen verpflichtend | |
| fordert oder Algorithmen verletzende und beschämende Kommentare automatisch | |
| blockieren, braucht es mehr Bewusstsein gegen die Gewalt aus dem virtuellen | |
| Raum. Denn um nichts Geringeres handelt es sich. | |
| Künast nutzt ihren Promi-Faktor für Aktionen gegen den Hass im Netz – und | |
| hat zudem Beschwerde gegen die Entscheidung des Berliner Gerichts | |
| eingelegt. Die unterschiedlichsten Kampagnen gegen Hate Speech verbreiten | |
| sich rasend schnell – natürlich online – und finden zahlreiche | |
| Unterstützer*innen. Das Netz ist eben keine virtuelle Blase. Es ist kein | |
| Paralleluniversum, kein Ort, in dem sämtliche Regeln des respektvollen | |
| Umgangs miteinander plötzlich außer Kraft gesetzt sind. Und es ist kein | |
| gesetzloser Raum. In unserer durchdigitalisierten Welt gerät dies zunehmend | |
| in Vergessenheit. | |
| 7 Oct 2019 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Sexistische-Beschimpfungen-im-Netz/!5627681 | |
| [2] /Prozess-wegen-Beleidigung/!5624981 | |
| [3] https://www.bmbf.de/de/hasskommentare-bedrohen-die-demokratie-9067.html | |
| [4] https://www.facebook.com/campact/ | |
| [5] https://hateaid.org/ | |
| [6] /Diskussion-um-NetzDG/!5563748 | |
| ## AUTOREN | |
| Tanja Tricarico | |
| ## TAGS | |
| Hate Speech | |
| NetzDG | |
| Netzwerkdurchsetzungsgesetz | |
| Internet | |
| Hasskriminalität | |
| Fake News | |
| Sexismus | |
| Autobiographischer Comic | |
| Twitter / X | |
| Axel Springer | |
| deutsche Justiz | |
| Renate Künast | |
| Internet | |
| NetzDG | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Grüne klagt gegen Facebook: Künast geht gegen Falschzitat vor | |
| Die Grünen-Politikerin hat eine Klage gegen Facebook eingereicht. Sie | |
| möchte ein grundsätzliches Urteil zur Löschpflicht des Unternehmens | |
| erwirken. | |
| Pilotprojekt gegen Hass im Netz: „Digitale Bürgerkultur“ in Sachsen | |
| Ein Pilotprojekt bietet Mitarbeiter:innen aus der Privatwirtschaft | |
| Schulungen gegen Hate Speech und Fake News an. Was steckt dahinter? | |
| Studie zu Gewalt gegen Mädchen im Netz: Mehr Belästigung als auf der Straße | |
| Junge Frauen und Mädchen werden im Internet tagtäglich bedroht, beleidigt | |
| und belästigt. Ein Großteil der Übergriffe spielt sich auf zwei | |
| Social-Media-Plattformen ab. | |
| Comic über Job an der Hasskommentarfront: Kaffeepause vom Volkszorn | |
| Freischalten, Ablehnen, Sortieren: Kathrin Klingners Comicfigur Kitty | |
| kämpft sich in einer Hamburger Internetklitsche durch Hass und | |
| Gewaltfantasien. | |
| Aggression auf Twitter: Don’t @ me, Arschloch | |
| Künftig sollen Nutzer*innen bei Twitter einstellen können, wer ihnen | |
| antworten darf. Ob das den Hass eindämmen wird, werden erst Tests zeigen. | |
| Blogger der „Welt“ Don Alphonso: Der Troll vom Tegernsee | |
| Don Alphonso twittert über Linke, die dann von seinen rechtsextremen | |
| Followern bedroht werden. Sein Arbeitgeber Springer verteidigt ihn. | |
| Verschärfung des Strafgesetzbuchs: Beleidigungen werden teurer | |
| Das Bundeskabinett will Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und | |
| Hasskriminalität beschließen. Es geht vor allem um rechten Hass im Netz. | |
| Nach umstrittenen Beleidigungs-Urteil: Künast legt Beschwerde ein | |
| Ein Berliner Gericht hatte Anfang September heftige Beleidigungen gegen die | |
| Grünen-Politikerin für hinnehmbar erklärt. Künast will sich jetzt wehren. | |
| Journalismusforscherin zum Künasturteil: „Inbegriff von Menschenverachtung“ | |
| Die Kommunikationswissenschaftlerin Margreth Lünenborg über die Frage, | |
| warum Beleidigungen wie die von Renate Künast vor allem Frauen betreffen. | |
| Diskussion um NetzDG: Druck von beiden Seiten | |
| Das NetzDG soll Opfern von Hate Speech in Online-Netzwerken helfen. Doch | |
| was passiert, wenn Kommentare zu Unrecht gelöscht wurden? |