# taz.de -- Bildungsaktivistin über Diversität: „Ich möchte meinen Teil be… | |
> Gloria Boateng wünscht sich eine Gesellschaft, an der alle partizipieren. | |
> Für ihre Arbeit beim Verein SchlauFox ist sie mehrfach ausgezeichnet | |
> worden. | |
Bild: „Dafür, Diversität zu akzeptieren, brauchen wir sicher noch Jahrzehnt… | |
taz: Gloria Boateng, wenn ich Sie zur Begrüßung gelobt hätte, wie gut Ihr | |
Deutsch doch sei – wie hätten Sie darauf reagiert? | |
Gloria Boateng: Ich hätte gesagt „Ihr Deutsch ist aber auch gut!“. Auf mehr | |
lasse ich mich da gar nicht ein. | |
Also auch nicht auf eine Debatte über den Unsinn dieser Frage? | |
Dazu hab' ich echt keine Lust mehr und wechsle lieber auf die Humorebene. | |
Trotzdem wird dann oft noch mal nachgebohrt, im Sinne von „Sie sind aber | |
auch schon lange hier, oder?“ | |
Immerhin 30 Ihrer 40 Jahre, als Sie aus Ghana nach Hamburg gekommen sind. | |
Und nach so langer Zeit keinen Akzent mehr in der Sprache zu haben, ist für | |
mich nichts Ungewöhnliches. Schon gar nicht, wenn man mit zehn Jahren in | |
einem Land ankommt. | |
Was war denn Ihre Muttersprache – Englisch? | |
Nein, meine Erstsprache ist Twi aus der Akan-Gruppe. Aber das spreche ich | |
von all meinen Sprachen mittlerweile am schlechtesten. Ist ein bisschen | |
traurig, aber ich kann mittlerweile auch darüber lachen. | |
Wie wichtig ist der Faktor Sprache, um sich einer Gesellschaft zugehörig zu | |
fühlen? | |
Sprache ist sehr wichtig, aber wenn eine Fremdsprache die Erstsprache | |
ablöst, auch zwiespältig, weil man letztere – in diesem Fall Twi – | |
vernachlässigt. So gewinnt man zwar kulturelle Identität, verliert aber | |
auch etwas davon. Sprache dient nicht nur der Verständigung, sondern | |
unserer Teilhabe an und dem Zugang zu einer Gesellschaft. | |
Haben Sie demnach zwei ganze oder zwei halbe Identitäten? | |
Beides. Aber manchmal fühlt es sich auch so an, als hätte ich gar keine. Da | |
man mir in Deutschland immer wieder das Gefühl gibt, nicht richtig | |
dazuzugehören, steht meine Identität permanent in Zweifel. Wenn ich sage, | |
Lehrerin zu sein, denken viele an Sport oder noch besser: Kurse für | |
Migrierte. Weil meine Identität immer mit der Hautfarbe ins Verhältnis | |
gesetzt wird, bin ich auch nach 30 Jahren weniger deutsch, als ich mich | |
fühle, aber eben auch weniger ghanaisch, weil ich Twi kaum noch beherrsche. | |
Empfinden Sie das als Mangel oder Zugewinn? | |
Auf der praktischen Ebene ist es definitiv ein Zugewinn. Ich merke an | |
meinem Umgang mit anderen oder der Erziehung meiner Kinder, wie schön es | |
ist, beide Kulturkreise und verschiedene Erziehungskulturen zu kennen und | |
praktizieren; das gibt mir eine Wahlfreiheit, die Menschen ohne dieses | |
doppelte Wissen womöglich fehlt. Auf der emotionalen Ebene empfinde ich es | |
teilweise eher als Mangel, denn der Mensch ist von seiner Natur her so | |
veranlagt, über Gruppenzugehörigkeit Sicherheit und Geborgenheit zu | |
erlangen. Das fehlt mir auf der Makroebene. Auf der Mikroebene finde ich | |
das zum Glück in der Familie und im Freundeskreis. | |
Ist dieser Mangel womöglich der Grund, warum Sie sich ehrenamtlich so sehr | |
dafür engagieren, anderen bei der Zugehörigkeit zu helfen? | |
So denke ich nicht. Engagement, Fürsorge sind für mich selbstverständlich. | |
Ich bin in einem sehr fürsorglichen Milieu groß geworden, wo jede Person | |
für die andere sorgt. Wer in unserer Community in Ghana etwas geben konnte, | |
gab es auch. Einander zu dienen war etwas Selbstverständliches. Diese | |
Haltung ist Teil meiner Normalität, seit ich dazu in der Lage bin. | |
Das heißt in Jahren? | |
Ende Pubertät, ungefähr mit 17, als ich nicht mehr so sehr mit mir und | |
meiner Lebenssituation beschäftigt war. Sobald ich meinen Weg erkannte, | |
konnte ich den Blick auf andere richten. | |
Wobei es schon etwas anderes ist, sich für andere zu engagieren oder wie | |
bei Ihnen für fast alle. Haben Sie noch den Überblick, in wie vielen | |
Institutionen und Einrichtungen Sie anderen helfen? | |
Meistens schon. Mir ist halt wichtig, mein Bisschen an Lebenszeit sinnvoll | |
zu nutzen. Wobei das nicht bloß Altruismus ist. Ich gebe, aber eigennützig, | |
kriege nämlich auch viel zurück. Deshalb bin ich unter anderem Lehrerin | |
geworden; da lerne ich selbst am meisten von anderen. Und es ist so | |
bereichernd, jungen Menschen die Lust am Lernen zu vermitteln. Wer sie früh | |
verliert, verliert sie womöglich für immer. Da ist [1][SchlauFox] … | |
Der Bildungs- und Förderverein, den Sie 2008 gegründet haben. | |
… nochmal eine ganz andere Möglichkeit, Kinder auch außerschulisch, also | |
ohne Vorgaben der zuständigen Behörde, zu unterstützen, um Bildung ganz | |
individuell zu implementieren. Unsere Arbeit besteht darin, herauszufinden, | |
was junge Menschen mitbringen, wie sie ihr Potenzial besser nutzen. Viele | |
von denen kriegen so oft „Das schaffst Du nicht!“ zu hören, bis sie es | |
selbst glauben. | |
Haben Sie bei einer Zehnjährigen mit Migrationshintergrund da manchmal die | |
gleichaltrige Gloria nach Ihrer Ankunft 1989 vor Augen? | |
Es gab Phasen, in denen das der Fall war, die sind aber schon lange her. | |
Und wir dürfen nicht vergessen, dass die Gesellschaft von heute verglichen | |
mit damals zwar mehr Ressourcen und Bildungszugänge bietet, im Kern aber | |
noch immer so ist wie früher. Es wird zwar mehr miteinander geredet, | |
weshalb sich langsam eine neue Haltung zum Anderssein entwickelt, aber auf | |
dem Weg, Diversität zu akzeptieren, brauchen wir sicher noch Jahrzehnte, | |
wenn nicht Jahrhunderte, um in einer Gesellschaft anzukommen, an der alle | |
partizipieren. | |
Das klingt jetzt misanthropisch … | |
Nein, realistisch. Ich bin eher philanthropisch, habe allerdings Hemmungen, | |
einen Zeitpunkt festzulegen, an dem wir ankommen – zumal ich nicht weiß, | |
wer dieses Ziel definieren darf. Ich möchte nur meinen Teil dazu beitragen, | |
dass sich möglichst viele auf den Weg dorthin machen können, denen das ohne | |
die Hilfe anderer schwerfällt. | |
Beschreiben Sie damit auch sich selber, die Sie bald nach der Ankunft in | |
Deutschland auf sich alleine gestellt waren? | |
Ja, meine Mutter ist drei Monate danach abgeschoben worden und ein Jahr | |
später starb mein Großvater. Mit elf bin ich dann bei einer Pflegefamilie | |
untergekommen, in einer ländlichen Gegend, wo sich die Akzeptanz für eine, | |
die wie ich aus dem Rahmen fiel, gering war. Das hat mein Leben schon enorm | |
erschwert. | |
Inwiefern? | |
Ein Nachbarsjunge hat mich auf rassistische Art und Weise bespuckt und | |
bepöbelt. Er hat das afrikanische Spiel, das ich mit meiner Freundin auf | |
die Straße gemalt hatte, bekritzelt. Er hat ein Hakenkreuz auf unser | |
Fenster gesprüht und wochenlang eine Fahne der rechtsradikalen FAP aus dem | |
Fenster gehängt. Einmal bin ich auf dem Weg zur Schule von drei jungen | |
Männern krankenhausreif geprügelt worden. Sie sagten: „Wir müssen die Neger | |
aus unserm Dorf rauskriegen, sonst vermehren sie sich wie die Karnickel.“ | |
Ich kam mit gebrochenen Rippen und einer Gehirnerschütterung ins | |
Krankenhaus. Leider hat die Polizei nicht herausbekommen, wer sie waren. | |
Wie sind Sie damit umgegangen? | |
Ich hab die Flucht angetreten. Ich habe mich immer mehr zurückgezogen in | |
die Welt der Bücher, habe so wenig wie möglich mit der Außenwelt | |
kommuniziert. In der Schule habe ich immer wieder Hilferufe ausgesandt, die | |
aber kaum gehört worden sind. Es wurde wenig unternommen gegen die | |
Jugendlichen, die mir, aber auch einem Jungen mit Behinderung das Leben | |
schwer gemacht haben. | |
Wie sind Sie aus diesem Rückzug ins Innere wieder herausgekommen? | |
Ich hatte immer wieder tolle Menschen um mich herum, mit denen ich reden | |
konnte, die mich unterstützt haben, die mir gezeigt haben, dass das Leben | |
auch andere Seiten hat. Meine Freund*innen etwa. Ich hatte auch eine | |
Lehrerin, der konnte ich jederzeit schreiben. Sie hat mich motiviert | |
durchzuhalten. Sie hat mich sowohl im Unterricht als auch außerhalb des | |
Unterrichts unterstützt und mir signalisiert, dass sie immer für mich da | |
ist. Das, und mein Glaube an einen mich liebenden und für mich sorgenden | |
Gott, hat mir sehr geholfen. Ich habe viel Glück erlebt. Und je glücklicher | |
ich bin, desto mehr kann ich davon an andere weitergeben. | |
Ist Selbstlosigkeit ohne Glück oder zumindest Zufriedenheit nicht möglich? | |
Es erleichtert sie jedenfalls ungemein, aber zum Glück gibt es auf der | |
ganzen Welt Menschen, die anderen helfen, obwohl es ihnen selber schlecht | |
geht. Menschen, die auch in der Not füreinander da sind. | |
Haben Sie von denen in Hamburg später mehr vorgefunden als auf dem Land in | |
Schleswig-Holstein? | |
Als Großstadt voller Menschen aus vielen Ländern und Kulturkreisen ist das | |
Leben natürlich diverser als auf dem Dorf. Weil die Menschen keine | |
grundsätzlich anderen sind, passieren Dinge, die dort passieren, auch hier. | |
Mehr Menschen heißt halt auch mehr von allen. | |
Also auch Arschlöcher. | |
Auch die. Aber in der Anonymität einer Millionenstadt sind sie | |
wahrscheinlich weniger sichtbar. Doch je mehr die einen versuchen, sich | |
dafür zu engagieren, dass die Gesellschaft Diversität als Chance begreift, | |
umso mehr versuchen andere, sie auseinanderzutreiben. In Deutschland und | |
anderswo entsteht so ein Kampf verschiedener Lager. | |
Macht es einen Unterschied, ob man einem Arschloch auf dem Land begegnet | |
oder in der Stadt? | |
Naja, Rassisten sind keine Arschlöcher. Rassisten sind Rassisten. Der | |
Unterschied ist, dass man ihnen auf dem Land allein ausgeliefert ist. In | |
einer Stadt leben so viele Menschen, da kriegt es meistens irgendjemand | |
mit, wenn man angefeindet wird, und steht einem – hoffentlich! – bei. Auch | |
in Hamburg in der Bahn werde ich manchmal ganz schön schlimm traktiert. Es | |
gab aber Situationen, in denen mir jemand zu Hilfe gekommen ist. Vor zwei | |
Wochen ist ein junger Mann dazwischen gegangen und hat gesagt: „He, so | |
reden wir nicht! So redet man mit niemandem.“ Auf dem Land sind die | |
Menschen vielleicht ängstlicher oder sie halten eher zusammen. Diejenigen, | |
die austeilen, sind eher Teil der Gemeinschaft, als ich es bin. | |
Hilft eine Auszeichnung wie das Bundesverdienstkreuz für Ihre Vereinsarbeit | |
dabei, sie noch weiter zu bringen? | |
Es bringt definitiv was, denn so eine Auszeichnung ehrt das ehrenamtliche | |
Engagement insgesamt. Man kann gar nicht deutlich genug machen, wie sehr | |
dieses Land davon profitiert. Abgesehen von Motivation und | |
Zusammengehörigkeit hilft so eine Anerkennung uns als Verein aber auch ganz | |
praktisch, die Aufmerksamkeit für einzelne Projekte zu erhöhen und | |
finanzielle Unterstützung zu kriegen. | |
Waren Sie also auch persönlich ein wenig stolz auf sich und das, was Sie | |
erreicht haben? | |
Das war ich! Und dankbar für das, was ich in meinem Leben erreicht habe. | |
Das Verdienstkreuz habe ich als Gloria Boateng angenommen, aber es gilt 200 | |
Personen, die sich im Verein engagieren und engagiert haben. Deshalb steht | |
die Auszeichnung auch nicht bei mir zu Hause, sondern bei SchlauFox. | |
11 Jul 2020 | |
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Jan Freitag | |
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