# taz.de -- „Black Lives Matter“-Debatte: Rassismus ist keine Einbahnstraß… | |
> Der aktuelle Rassismus-Diskurs führt teils zu „Othering“ – dem | |
> gutgemeinten, aber nicht zielführenden Andersmachen von anderen. | |
Rassismus ist real. Er ist ernst und lässt sich nicht ignorieren. Rassisten | |
diskriminieren, verfolgen und töten andere Menschen aufgrund ihrer | |
Hautfarbe, ihrer Herkunft, ihres „Andersseins“. Die brutale, enthemmte | |
Gewalt des amerikanischen Polizisten gegen [1][George Floyd] wühlt auf und | |
erzeugt Wut. Zu Recht führen solche Vorfälle dazu, die eigene Haltung, die | |
eigene Gesellschaft zu hinterfragen. Zu Recht lösen sie Debatten aus. Das | |
ist lebensnotwendig für die Demokratie. | |
Keinen anderen Ansatz im Kampf gegen Rassismus kann es geben als den einer | |
breiten Diskussion über das Phänomen selbst, seine Ursachen und die | |
Einstellungen dazu. | |
Doch in den Debatten zeigen sich auch Schieflagen. Teils genügen Codes, | |
Memes, einzelne Worte, um Hass oder Ablehnung und Denkverbote zu | |
aktivieren. In Teilen der Linken gleicht jegliche differenzierte | |
Betrachtung der Polizei einem Verrat. | |
Wer, wie ich, strukturellen Rassismus in der Polizei als nicht existent | |
wahrnimmt und große Unterschiede in der Ausbildung der Polizei zwischen der | |
USA und Deutschland sieht, ist für sie „rechts“, ein Onkel-Tom Migrant oder | |
ein Haussklave, wer auf Diskriminierung von Minderheiten durch andere | |
Minderheiten hinweist, wird abqualifiziert und diffamiert. Nach diesem | |
Muster verlaufen Debatten über Integration, Frauenrechte im Islam und viele | |
andere Diskussionen. | |
Schwarze berichten von ihren Alltagserfahrungen, das ist gut und richtig. | |
Doch einige erteilen dabei nichtschwarzen Leuten Sprechverbote: Als | |
Privilegierte könnten sie nie nachvollziehen, was es bedeutet, wegen der | |
Hautfarbe angestarrt oder ausgegrenzt zu werden. Geht es dabei tatsächlich | |
nur um das Bekämpfen von Rassismus? Oder eher darum, Thesen und Theorien zu | |
untermauern und etwa den eigenen Opferstatus festzuschreiben? | |
## Maulkorb für Nichtschwarze | |
Im Namen der Toleranz kann eine Menge Intoleranz entstehen – gegenüber | |
anderen Meinungen, anderen Gruppen, selbst wenn diese vom eigenen | |
moralischen Kompass nur wenige Millimeter abweichen und heilige Figuren der | |
Szene kritisch berühren. Die Gefahr für den freien Diskurs besteht dann, | |
wenn Minderheiten für sich eine Form von „Artenschutz“ reklamieren, der | |
selber wieder biologistische Züge trägt. „Weil ich schwarz bin, können | |
Weiße mich nicht verstehen! Also haben Weiße auch nichts dazu zu sagen!“ | |
Schwarze Studierende in den USA haben in den vergangenen Jahren schon | |
manchmal gefordert, dass Weiße ein Seminar oder eine Vorlesung verlassen, | |
damit sie „unter sich“ in einem „safe space“ sein könnten. Auch schwar… | |
Professoren wie John McWhorter von Columbia University oder Glenn Loury von | |
der Brown University haben [2][solche Ansätze offen als „illiberal“ | |
kritisiert]. | |
McWhorter gab zu, dass ihm solche Phänomene, angefeuert durch Soziale | |
Medien, Angst machen, da sie keineswegs weiße Privilegien beseitigen und | |
mehr freien Diskurs schafften, sondern dogmatisch Sprechverbote und | |
Denkverbote errichteten. Der schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King | |
hielt am 28. August 1963 vor dem Lincoln Memorial in Washington seine | |
berühmte Rede mit dem Leitmotiv: „Ich habe einen Traum.“ | |
Ein Schlüsselaspekt darin war der Traum, dass die Kinder der früheren | |
Sklaven und die Kinder der früheren Sklavenhalter gemeinsam am Tisch der | |
Brüderlichkeit sitzen werden, dass nicht die Hautfarbe, sondern der | |
Charakter eines Menschen zählt. Solche Sätze würden im heutigen Diskurs von | |
vielen als naiv verurteilt. „Aber ich bin und bleibe doch schwarz – und | |
Weiße sehen mich anders an!“ Ja, das ist wahr – aber genau deshalb sollten | |
Sätze wie die von Dr. King heute noch mehr Geltung bekommen. | |
Genau darum geht es: um die Würde eines jeden Menschen, die unantastbar ist | |
- ganz gleich, wie unterschiedlich wir sind. Es gilt das Recht | |
durchzusetzen, das jedem Menschen zusteht, das Menschenrecht. Wenn ich | |
darauf beharre, dass ich als Araber „anders“ bin, weil ich eine andere | |
Herkunft als die der Mehrheit hier im Land habe, bekräftige ich das | |
[3][„Othering“], das mich zum „anderen“ macht. | |
## Die Farbe muss egal sein | |
Ich suche dann weniger meine Würde, mein Menschenrecht und meine | |
Gleichberechtigung, als meinen Status als Opfer. Ich verfestige eine in | |
Schwarz und Weiß gespaltene Welt. Darum kann es nicht gehen. Es geht darum, | |
jedem Rassismus entschieden mit dem Grundgesetz, mit dem Menschenrecht | |
entgegenzutreten. Das gilt für den Rassismus der Weißen gegenüber | |
Schwarzen, für den Rassismus der [4][Chinesen gegenüber den Uiguren], der | |
[5][Türken gegenüber den Kurden] – und so fort. Überall. Auf allen | |
Kontinenten. | |
Es geht darum, dass Menschen anderer Hautfarbe oder Herkunft immer klarer, | |
immer selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sind: an Schulen, in der | |
Wirtschaft, Wissenschaft, in Medien – in allen Bereichen der Lebens- und | |
Arbeitswelt. Das erreiche ich nicht, wenn ich beanspruche, allein den | |
Diskurs zu bestimmen und zu entscheiden, was legitime Meinungen sind, und | |
außerhalb meiner Blase nur Gegner sehe. Das Ziel der Gleichberechtigung | |
erreiche ich nicht mit Theorien, die ich meinen Dogmen anpasse. | |
Wer zum Beispiel heute auf die gefährdete Lage von Lesben und Schwulen in | |
muslimischen Ländern und anderen traditionellen Gesellschaften hinweist, in | |
denen homophobe Gesetze und Sitten gelten, wird im postkolonialen Diskurs | |
oft als „Homonationalist“ bezeichnet. Solche Anwürfe sind grotesk. Sie | |
verzerren die Frage, welche Probleme und Rechte auf dem Spiel stehen. | |
## Der Begriff Homonationalist ist grotest und arrogant | |
Sie verstellen den Blick auf die Realität und verraten diejenigen, die in | |
diesen Ländern um ihre Rechte kämpfen, die verfolgt und inhaftiert oder | |
hingerichtet werden. Vertreter der Denkrichtung des Postkolonialismus | |
wollen Missstände, etwa im Nahen Osten oder in afrikanischen Staaten, | |
sämtlich als Folge des Kolonialismus definieren. Den Menschenrechten | |
erweist diese monokausale Perspektive einen Bärendienst. | |
Es ist, als seien die Gesellschaften dort noch immer nicht erwachsen, nicht | |
souverän und nicht zumindest mitverantwortlich für ihre Lage, auch | |
steinreiche Ölstaaten nicht. Es ist, als könnten „Araber“ oder „Afrikan… | |
keinerlei Kritik ertragen, als seien sie passive Wesen und Bevölkerungen, | |
unfähig, sich aus eigener Kraft zu reformieren. Auch das ist „Othering“ – | |
das gutgemeinte, aber nicht zielführende Andersmachen von Anderen. | |
Rassismus von Nichtweißen darf in diesem Weltbild nicht vorkommen, da kann | |
nur „der weiße alte Mann“ Rassist sein. Doch die Abwertung von „anderen�… | |
und die irreale Fantasie der „homogenen Gruppe“ kommt rund um den Globus | |
vor. Rassismus ist keine Einbahnstraße, die nur von den „Weißen“ in | |
Richtung anderer Gruppen führt. Diskriminierung aufgrund von Glauben, | |
Nationalität, Hautfarbe, sexueller Orientierung, Bildung oder sozialer | |
Schicht ist universell. | |
Sie trifft Geflüchtete, Muslime, Schwarze, LGBTQ-Gruppen, „Ungläubige“ od… | |
auch Hartz IV-Empfänger…die Liste ließe sich unendlich fortsetzen. All | |
diesen Herausforderungen begegnen moderne, diverse Gesellschaften im | |
Zeitalter der Globalisierung. Kein Dogma, kein Sprechverbot schafft sie aus | |
der Welt – nur der couragierte, offene und herrschaftsfreie Diskurs. Wird | |
er im Namen einer falschen Toleranz unterbunden, dann verliert der Begriff | |
Toleranz seine Substanz. | |
Und dann reiben die Rechten sich die Hände. Die Rechte ist dreister | |
geworden. Sie hat aufgehört ihre rassistische Ideologie schön zu verpacken | |
und als Konservatismus auszugeben. Offen propagiert sie Hass gegen jene, | |
die nicht bereit sind, ihre Panik vor dem Ende vermeintlicher Homogenität | |
zu bestätigen. In ihr Feindbild gehören Ausländer, Muslime, Flüchtlinge, | |
Linke, Grüne, Journalisten, die Kanzlerin, die Europäische Union – im Kern: | |
die Demokratie. | |
Die Rechte nutzt emotional aufgeladene Codes, Argumente und Fakten wischt | |
sie vom Tisch der Brüderlichkeit, ob in Brasilien, den USA, den Philippinen | |
oder in Ungarn, Frankreich, Polen – und Deutschland. Und die Verbohrtheiten | |
der Linken machen es ihr – leider – oft nur leichter. Ohne rechte und linke | |
Ränder gleichsetzen zu wollen, strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen | |
identitärer Bewegung und Identitätspolitik sind da: Beide Ideologien | |
arbeiten mit Fantasien von homogenen Gruppen und mit Opferkonkurrenz. | |
## Demokratie braucht die Mitte | |
Beide nutzen fixierte Feindbilder und Opferrollen, beide Ideologien gehen | |
von der Minderwertigkeit Anderer aus – die Identitären und Völkischen | |
wollen Minderheiten ausgrenzen, die Anhänger der Identity Politics wollen | |
Minderheiten glorifizieren. Dass Großgruppen ebenso wie Individuen stets | |
gemischte, hybride Identitäten haben, blenden beide strategisch aus. | |
Gesellschaften, in denen die politischen Ränder am lautesten sind während | |
die Mitte schweigt, verlieren ihre demokratische Basis. Die Ränder befeuern | |
sich gegenseitig und die Mitte hält sich raus,sie beobachtet das Ping-Pong | |
der Parteien und überlässt stellvertretend den Radikalen die Diskussion. So | |
bleibt keine Demokratie bei sich. So ist auch kein Kampf gegen Rassismus | |
und Diskriminierung zu gewinnen. | |
Wenn ich mit Martin Luther King sage „ich habe einen Traum“, dann träume | |
ich von einer Gesellschaft, in der Herkunft oder Hautfarbe kein Wort zu | |
sagen haben über gerechte Chancen, in der es keine dummen Trennwände gibt | |
zwischen Einheimischen und Zugewanderten, sondern kluge Trennwände zwischen | |
Demokraten und Nicht-Demokraten. | |
Ich träume von einer Gesellschaft, in der ein Kind von Migranten Kanzlerin | |
oder Kanzler werden kann, aufgrund von Haltung und Können, nicht trotz oder | |
wegen eines Migrationshintergrunds. Das wäre Gerechtigkeit. Ich träume von | |
einer Gesellschaft, die Konflikte friedlich löst, sachlich und | |
differenziert diskutiert und die wichtigsten Themen tabufrei diskutiert, | |
lösungsorientiert und im Geist des Grundgesetzes. | |
Demokratie lebt nicht davon, dass die Mitte schweigt, sondern dass dort | |
alle bereit sind, zur offenen Diskussion, zur konstruktiven Streitkultur | |
mit Argumenten und Gegenargumenten, zu gegenseitiger Anerkennung und | |
Flexibilität im Denken. Um das zu erreichen, brauchen wir starke und | |
selbstbewusste Demokratiebildung in jeder Schule, einen Schwerpunkt auf | |
Erziehung zu Diskursfähigkeit und Empathie. | |
Dafür sind politische Vorbilder nötig, die bereit sind auch die | |
unbequemeren Themen zu behandeln. Mit Sonntagsreden und Mahnwachen wird der | |
Kampf für Gleichberechtigung und Demokratie nicht gewonnen. | |
5 Jul 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Rassistische-Polizeigewalt-in-den-USA/!5688583 | |
[2] https://www.theatlantic.com/politics/archive/2017/06/a-columbia-professors-… | |
[3] /Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/!5685526 | |
[4] /Unterdrueckung-von-Uiguren-in-China/!5697513 | |
[5] /Tuerkische-Angriffe-auf-Kurden/!5692931 | |
## AUTOREN | |
Ahmad Mansour | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
George Floyd | |
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus | |
Schwerpunkt Debatte über Kolumne in der taz | |
Debatte | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Identitätspolitik | |
Diversität | |
Musik | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Yasmine M'Barek liest in Bremen: Kompromiss ist sexy | |
Yasmine M'Barek plädiert in ihrem Buch „Radikale Kompromisse“ für eine | |
beweglichere Debattenkultur. Jetzt liest sie daraus in Bremen. | |
Extremismusbekämpfung in der Haft: Fremd und doch so nah | |
Alex ist Neonazi, Khaled Islamist. Beide Männer sitzen in Haft. Über die | |
Begegnung zweier Extremisten und die Ähnlichkeit von Ressentiments. | |
Taiji gegen Rassismus: Ein Affenkampf | |
Warum betonen Rassisten so oft, kein Rassist zu sein? Weil sie alles | |
abwehren, das von außen kommt. Unsere Autorin hat einen gymnastischen | |
Vorschlag. | |
Bildungsaktivistin über Diversität: „Ich möchte meinen Teil beitragen“ | |
Gloria Boateng wünscht sich eine Gesellschaft, an der alle partizipieren. | |
Für ihre Arbeit beim Verein SchlauFox ist sie mehrfach ausgezeichnet | |
worden. | |
Neues Album der Band Sault: Von der Erfahrung, Schwarz zu sein | |
In Musik gefasstes Empowerment: „Untitled (Black is)“ von der britischen | |
Band Sault ist das antirassistische Protestalbum der Stunde. | |
Strategien für die Krise: Solidarität und Verantwortung | |
In einer Welt voller Hass und Gewalt hilft vermutlich nur noch ein Appell | |
an den Menschenverstand und an die Menschlichkeit. Und Information. | |
Berliner Jahresbericht zu rechter Gewalt: „Rassismus ist das Hauptmotiv“ | |
Das Antifaschistische Pressearchiv hat die „Berliner Zustände“ | |
veröffentlicht. 2019 gab es so viel rechte Gewalt war nie. |