# taz.de -- Extremismusbekämpfung in der Haft: Fremd und doch so nah | |
> Alex ist Neonazi, Khaled Islamist. Beide Männer sitzen in Haft. Über die | |
> Begegnung zweier Extremisten und die Ähnlichkeit von Ressentiments. | |
Ein grauer Bau aus glattem Beton, irgendwo in Deutschland. Hoch ragen die | |
stacheldrahtumzäunten Gefängnismauern empor. Hinter den Mauern stapfen | |
Männer, gegen die Kälte dick eingemummelt, im Hof umher, in Gruppen, zu | |
zweit, allein, manche schweigend, andere ins Gespräch vertieft, viele | |
grübelnd, rauchend, die Hände in den Hosentaschen. Über ihren Köpfen sitzen | |
kleine vergitterte Zellenfenster. Die Mauern und Gitterstäbe scheinen mir | |
symbolisch, angesichts der Arbeit, die mein Team und ich hier heute | |
vorhaben. Wir wollen einer Gruppe Menschen dazu verhelfen, Mauern und | |
Gitter in ihrem Inneren zu überwinden. | |
Mauern, die sie in ihrem freien Denken und Handeln einschränken, die sie am | |
mündigen Erwachsensein in der Demokratie hindern. | |
Seit Jahren besuchen wir mit unseren Teams Haftanstalten. Im Rahmen von | |
Präventionsprojekten im Strafvollzugs bieten wir Workshops für Gefangene an | |
und kommen mit ihnen ins Gespräch: über Rollenspiele, Diskussionen, Streit | |
und oft auch emotionale Bekenntnisse. Die jungen Männer suchen Orientierung | |
und Halt in schwierigen Phasen. Gerade im Strafvollzug sind sie besonders | |
anfällig für radikale Ideen, die einfache Lösungen verheißen. | |
Fundamentalistische Gruppierungen rekrutieren hier besonders gern, sie | |
warten förmlich darauf, die Unsicherheit der Insassen auszunutzen, ihre | |
Sehnsucht nach Anerkennung und Neuanfang, ihren Drang nach Entlastung. | |
## Schneller sein als die Verführer | |
Präventionsarbeit muss deshalb schneller sein als die Radikalen. Unser | |
Motto lautet: Freiheit beginnt im Kopf. Unsere Gespräche bieten den Männern | |
ein mentales Werkzeug an, um kritisch, skeptisch und konstruktiv über sich | |
und andere nachzudenken, falsche Selbstverständlichkeiten zu bezweifeln und | |
überhaupt Lust am Fragen zu wecken. Wir wollen Alternativen schaffen, die | |
Psyche der Suchenden stärken und sie immunisieren gegen Radikalisierung | |
jeder Couleur. | |
Zentral ist dabei, dass wir ihnen zuhören, so dass sie wissen und fühlen, | |
dass sie angenommen und akzeptiert sind. Wir sprechen mit ihnen auf | |
Augenhöhe und bewusst im Kontrast zu den autoritären Figuren, die sie in | |
ihrem Leben meist von klein auf kennengelernt haben. Je gestärkter die | |
Mündigkeit, desto geringer die Gefahr der Radikalisierung. | |
Die Menschen, denen wir bei dieser Arbeit in Haftanstalten begegnen, sind | |
sehr unterschiedlich. Es gibt solche mit und solche ohne | |
Migrationshintergrund, mit Fluchtgeschichten oder hier Geborene. | |
Außerhalb der Strafvollzugsanstalt wären sie einander vermutlich nie | |
begegnet. Doch hinter Gittern wird aus den vielen Einzelschicksalen | |
immerhin eines, das alle Männer miteinander teilen: Sie leben vorübergehend | |
miteinander im Gefängnis. | |
Eine typische Sitzung beginnt mit einem Stuhlkreis von etwa zwölf | |
Teilnehmern. Hier will ich an eine Runde erinnern, in der sich sowohl der | |
Rechtsextremist Alex als auch der Islamist Khaled (Anm. d. Red: Die Namen | |
wurden geändert) befanden. Es war ein früher Nachmittag. | |
Es beginnt eine besondere Erfahrung, nicht nur für diese beiden. Sie können | |
einander nicht ausstehen, sie setzen sich so weit als möglich voneinander | |
entfernt, nach dem Motto: Bloß nicht neben dem! | |
## Der IS-Anhänger und der rechte Brandstifter | |
Khaled kam 2016 aus Syrien nach Deutschland. Inhaftiert ist er wegen der | |
aktiven Mitgliedschaft in der terroristischen Vereinigung „Islamischer | |
Staat“ (IS). Alex wiederum landete im Gefängnis, weil er einen | |
Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim verübte. | |
„Was soll ich mit Ausländern und Salafisten?“, hatte Alex verächtlich | |
geantwortet, als er gefragt wurde, ob er an dem Workshop teilnehmen möchte. | |
Wie Khaled lehnte er die Teilnahme zunächst ab. Mit Ungläubigen wollte er | |
nichts zu tun haben, vermutlich auch nichts mit „Psychokram“. Schließlich | |
überwogen bei beiden Langeweile und Neugierde. Nun sind sie dabei. | |
Voll Verachtung für den jeweils anderen kreuzen sich ihre Blicke. Über | |
Stunden wird dann jeder von ihnen unser Team davon überzeugen wollen, dass | |
er mit seinem ideologischen Hass und seinen Dogmen recht hat. Für Alex ist | |
ein IS-Kämpfer der ultimative Feind, für Khaled ein Nazi. Doch in einem | |
sind sich beide aber schon vor Beginn unserer Einheit einig: Beide halten | |
auch nicht viel von mir, dem Psychologen, von unserem multiethnischen Team | |
und von der intellektuellen wie emotionalen Aufklärung, die wir anbieten. | |
Alex ist genervt von uns, den Ausländern. Für Khaled sind wir Muslime, die | |
ihren Glauben vernachlässigen. | |
Oft verwenden wir bei unseren Workshops theaterpädagogische Elemente. | |
Kurze Rollenspiele illustrieren typische Situationen des Alltags, typische | |
Themen im Leben der jungen Leute: Arbeit, Arbeitslosigkeit, Erfolge, | |
Misserfolge, Sex und Liebe, Eltern und Autorität, Konflikte in der Familie. | |
Rollenspiele, dargestellt von Mitarbeitern des Teams, haben unmittelbar | |
emotionale Wirkung: Echte Menschen sprechen, streiten, argumentieren, | |
leiden, lachen. Häufig macht ein Vater-Sohn-Disput den Anfang. Väter, ihre | |
Anwesenheit oder Abwesenheit, Stärke oder Schwäche sind Schlüssel im | |
Radikalisierungsprozess. | |
Da kommt also ein Vater nach Hause und sieht den Sohn vor einem Videospiel | |
hocken. Das Verhalten des Jüngeren erzürnt den Älteren: „Du bist eine | |
Schande für die Familie! Warum gehst du nicht zur Schule?! Deine Mutter | |
weint sich wegen dir die Augen aus!“ Der Sohn murmelt, dass es ihm nicht | |
gutgehe, dass er sich doch nur ablenkt … Davon will der Vater nichts hören. | |
Er glaubt zu wissen, dass der Junge nur faul und unwillig ist: „Aus dir | |
wird nie was werden!“, prophezeit er ihm. Am Ende des Disput verstößt er | |
den Sohn geradezu: „Verschwinde aus meinem Blickfeld!“ | |
In fast jedem Workshop lösen diese Szenen massive Affekte aus, die nicht | |
gleich sichtbar werden. Anfangs finden die meisten das Verhalten des | |
autoritären, unempathischen Vaters gut. „So sollen Väter sein, streng!“ | |
Schließlich sei das gut gemeint, es soll ja nur dem Sohn zu mehr Disziplin | |
verhelfen. „Was mein Vater sagt, ist heilig“, erklärte einer. Andere nicken | |
zustimmend. | |
Dann aber kommt es zur Diskussion, und Bewegung kommt in die Gruppe. Einer | |
wünscht sich, sein Vater solle mehr mit ihm sprechen, vielleicht sogar wie | |
mit einem Freund. Andere sagen jetzt, dass sie als Kinder nie vom Vater | |
beachtet worden seien. Schmerz kommt ans Licht, was wieder andere ermutigt, | |
von sich zu sprechen. „Wie hätte der Vater im Rollenspiel denn anders | |
reagieren können?“, frage ich. Und oft ernte ich fragende, hilflose Blicke. | |
Anders, ja. Aber wie? Keine Ahnung. | |
Kritische Reflexion kommt erst mit dem Dialog in Gang. Scheinen sich | |
anfangs alle einig, entstehen häufig zwei Meinungslager. Die einen | |
kritisieren die Lieblosigkeit des Vaters in der Szene. Die anderen beharren | |
darauf, dass er sich absolut korrekt verhalten habe: „So müssen Väter | |
sein!“ | |
## Überraschende Einsicht: Man ist sich einig | |
Darin waren sich auch Alex und Khaled einig. Alex schätzte die starke | |
Ausstrahlung des Vaters: „Der setzt sich durch!“ Khaled stimmte zu: „Ein | |
Vater muss seine Kinder unter Kontrolle haben!“ Väter sollten klare Ansagen | |
machen, sogar Angst einflößen, um Disziplin zu erreichen. „Die wollen ja | |
nur das Beste.“ | |
An diesem Punkt blicken Alex und Khaled sich an, erstaunt: Sie sind in | |
derselben Mannschaft! Ihr erster Konsens überraschte sie beide | |
gleichermaßen. Auch bei anderen Themen kommen diese Parallelen zum | |
Vorschein – die Rolle der Frau, Autorität, Ressentiments gegen Juden, | |
Schwule, Lesben … | |
Angenehm ist den beiden ihr Konsens nicht. Schließlich leben sie von ihren | |
Ideologien der Abgrenzung. Doch wir entdecken gerade diese Schnittmengen in | |
den Workshops immer wieder. Sowohl Alex als auch Khaled weisen | |
unreflektierte Solidarität mit dem Aggressor auf, mit ambivalenten | |
Autoritäten, unter denen sie gelitten haben. Umso aufschlussreicher ist der | |
Blick in die Kindheit beider Männer, wie sie sich uns im Lauf der Gespräche | |
darbieten. | |
Sich mit dem Aggressor zu identifizieren hat eine Schutzfunktion für Opfer. | |
Wenn er recht hat und ich nicht, dann bleibt er richtig und mächtig, | |
väterlich und gut. Seine Verachtung und Gewalt ergeben „einen Sinn“. Kinder | |
retten so das Bild des guten Vaters, der guten Mutter, das sie dringend | |
benötigen, um Vertrauen in die Welt haben zu können und die Illusion | |
aufrechtzuerhalten, dass sie geliebt werden – oder würden, wenn sie sich | |
nur richtig verhielten. Zudem bekämpft das Kind mit der Identifikation | |
seine natürliche Wut und Enttäuschung. Wenn „ich das verdient habe, dann | |
hat der Vater recht und ich bin schlecht“. Bleibt die Wut unbewusst und | |
unterdrückt, meidet das Kind auch die Schuldgefühle, die durch die Wut | |
gegen den „guten Vater“ entstehen. Würde es sich auflehnen, wäre es | |
schuldig, bekäme noch weniger Zuneigung und noch härtere Strafen. So passen | |
sich Opfer mehr und mehr dem Denken und Verhalten ihrer Peiniger an, bis | |
sie im späteren Leben selbst zum Täter werden und Gewalt legitimieren. | |
Schutz hätten Alex und Khaled als Kinder gebraucht. Der deutsche | |
Rechtsextremist erlebte als Kind einen gewalttätigen Alkoholiker-Vater und | |
eine desinteressierte Mutter. Der syrische Häftling wuchs bei einer | |
alleinerziehenden Mutter auf, mit der ungestillten Sehnsucht nach einem | |
Vater. Der war früh in ein arabisches Scheichtum gegangen und hatte die | |
Familie in Syrien allein gelassen. Alle zwei Jahre kam er zu Besuch, mehr | |
aus Pflichtgefühl. Später stellte sich heraus, dass er im Ausland eine | |
zweite Familie und weitere Söhne hatte. | |
Am Tag tröstete Khaled seine depressive Mutter, nachts kämpfte er selbst | |
damit, dass seine Halbbrüder die Liebe des Vaters bekamen und er nicht. | |
## Die Psyche der Radikalen verstehen | |
Je mehr wir von der Psyche solcher Radikaler verstehen, desto deutlicher | |
werden die Parallelen. Alex und Khaled fehlt basales Vertrauen, beiden | |
fehlt eine liebevolle, verantwortungsvolle Vaterfigur, ein Vorbild, einer, | |
der ihnen vermittelte, dass sie und ihre Umwelt gut sind. Beide fühlten | |
sich entwertet und erniedrigt, anstatt aufgehoben. | |
Alex suchte wegen seiner gestörten Beziehung zum Vater und seines | |
Minderwertigkeitsgefühls den Halt woanders. Er glaubte, ihn als Teenager | |
gefunden zu haben, in einem Jugendklub, wo Neonazis ein und aus gingen. Zum | |
ersten Mal im Leben fühlte er sich akzeptiert und gehörte rückhaltlos dazu. | |
Je mehr er in Sprache und Habitus den Vorbildern nacheiferte, desto stärker | |
sah er sich „respektiert“. Seine Wut über den Liebesmangel in der Familie | |
durfte jetzt in Aggressionen gegenüber Ausländern ein Ventil finden: „Die | |
sind schuld!“ | |
Khaled hingegen fand Halt unter fundamentalen Islamisten, die ihm die | |
Zugehörigkeit zu einer Elite suggerierten. Nie sah er sich so aufgewertet. | |
Sozialarbeiter, Psychologen und Gefängnismitarbeiter wundern sich oft, | |
warum die Vaterfigur in unseren Workshops so sehr im Zentrum steht. Alex | |
und Khaled illustrieren die Ursache dafür besonders gut. Tatsächlich spielt | |
in jeder Radikalisierung durch eine extremistische Ideologie die Suche nach | |
einem Ersatzvater eine Riesenrolle. Ein allmächtiger Allah, ein strenger | |
Imam oder ein völkischer Anführer – sie bieten gleichermaßen | |
Ersatzangebote. | |
Islamisten wittern die Verletztheit und Unsicherheit junger Männer (und | |
Frauen) ebenso wie rechte Gruppierungen. Sie wissen die latente oder offene | |
Verachtung für brutale, schwache oder abwesende Väter auszunutzen, indem | |
sie Stärke und Überlegenheit suggerieren: „Gehörst du erst zu uns, bekommst | |
du einen besseren Vater! Du bist dann sogar besser als dein eigener Vater | |
und kannst dich von ihm lösen!“ In der Hierarchie locken neue, glänzende | |
Identifikationsfiguren, zu denen die Suchenden aufblicken und an deren | |
fantasierter Macht sie teilhaben dürfen. Im Patriarchat der autoritären | |
Gruppe scheinen Regeln klar und Maßregelungen gerecht. | |
Verlässlichkeit, so bitter vermisst, scheint hier garantiert. Während das | |
System, dessen Normen von Männern geprägt wird, die ihre Anhänger | |
kontrollieren, gehorchen diese den Tonangebenden, und träumen davon, sie | |
eines Tages nachahmen zu dürfen – da scheint es auch Aufstiegsmöglichkeiten | |
zu geben, die ebenfalls bitter vermissten Chancen. | |
Indes tauschen die Anhänger bei alledem ihre Mündigkeit und | |
Eigenverantwortung gegen maximale Abhängigkeit aus. Sie delegieren | |
Verantwortung an die Macht der Gruppenleiter und an die Gruppe, in der man | |
sich gegenseitig kontrolliert. Ideologien stärken den Zusammenhalt, in dem | |
die Heranwachsenden sich mächtig fühlen – obwohl sie de facto ohnmächtiger, | |
unselbstständiger werden. Doch sie erfahren meist zum ersten Mal in ihrem | |
Leben das Gefühl, jemand zu sein, den sie im Spiegel stolz anschauen. Sie | |
gehören „zu einer Elite“, sei es einer frommen oder einer völkischen. | |
Alex und Khaled überraschten einander wieder und wieder damit, dass sie | |
gleicher Meinung waren. Wichtig ist beiden strikte Autorität. Sie wissen, | |
wer „Respekt verdient“, wer nicht. | |
Sie finden, dass Frauen zu Küche und Kindern gehören, dass sie ihren | |
Männern gehorchen und deren Wünsche erfüllen sollen. Vertrauen sei gut, | |
Kontrolle aber besser – das fanden übrigens nicht nur die beiden, sondern | |
viele Teilnehmer des Workshops. Und Alex und Khaled sind fest davon | |
überzeugt, dass sich Kulturen nicht „vermischen“ sollten. „Ein Moslem und | |
eine Christin, das geht gar nicht! Man muss aufpassen, dass Kinder später | |
dieselbe Religion haben“, sagt Khaled. Alex sieht es ähnlich: „So was ist | |
Rassenschande! Eine Beziehung funktioniert nur, wenn ein Paar denselben | |
Hintergrund hat.“ | |
Rassismus ist mit der wichtigste Klebstoff, der extremistische Gruppen | |
zusammenhält. Hautfarbe, Religion, Herkunft, Sprache oder andere Merkmale | |
legitimieren dabei die Überlegenheit der eigenen gegenüber anderen Gruppen. | |
Das Grundmuster ist uralt: Gruppen ziehen ihre Identität aus der Abgrenzung | |
von anderen Gruppen. Zu beobachten ist das etwa bei Fußballfans oder in | |
städtischen Vierteln. Islamismus wie Rechtsextremismus ideologisieren | |
Strategien der Abgrenzung ins destruktiv Extreme. Sie arbeiten der | |
Vorstellung zu, dass es „reine“, homogene Gruppen gebe. | |
Die eigene Gruppe gilt als die Elite, zum Herrschen auserkoren, doch Opfer | |
von niederen, anderen Gruppen, von Ungläubigen oder der Lügenpresse. | |
Reklamieren auch andere Gruppen Opferstatus, gilt es mit ihnen zu | |
konkurrieren: Unser Leid war/ist schlimmer! Beiden Ideologien sind | |
demokratische Prozesse im Weg, beide wollen nichts wissen von | |
Menschenrechten und Universalismus: Wer auserwählt ist, kann das nicht | |
brauchen. Die einen sprechen von linker Lügenpresse, die anderen von | |
zionistischen Medien, die den Islam missachten würden. Wer immer der Feind | |
ist, er ist minderwertig und gehört bekämpft – das systematische Entwerten | |
anderer ist das Fundament jeder extremistischen Ideologie. | |
## Noch eine Gemeinsamkeit: Antisemitische Stereotypen | |
Im Workshop mit Khaled und Alex präsentiert unser Team auch ein Rollenspiel | |
zum Thema Antisemitismus. Zwei befreundete Jungen sind beim | |
Fußballtraining, und ein neuer Mitspieler ist dazugekommen, den sie spontan | |
mögen. Dann stellt sich heraus: Der Neue ist jüdisch. Einer der Jungen will | |
sofort nichts mehr mit dem Neuen zu tun haben. Der andere meint, Jude zu | |
sein sei doch kein Thema. | |
Unsere Runde ist aufgeregt. Khaled erklärt: „In dem Moment, wo ein Jude im | |
Raum ist, geh ich raus.“ Alex pflichtet ihm heftig bei. Wieder sind sie | |
sich im Prinzip einig. | |
Khaled begründet seine Ablehnung so: „Guckt euch an, was die in Palästina | |
mit uns machen! Wie viel Macht sie in Deutschland haben, wie sie Syrien | |
vernichten, weil sie sich ausbreiten wollen. Juden beherrschen die | |
Finanzmärkte, überall, die verüben Anschläge, damit Leute glaube, das | |
hätten Moslems gemacht.“ Alex sagt, er sei kein Christ, „weil Jesus Jude | |
war“. Alex glaubt an Verschwörungen der „Finanzmacht des internationalen | |
Judentums“, das heimlich die Fäden rund um den Globus zieht. | |
Auch wenn Alex der Nahe Osten wenig interessiert, er und Khaled teilen | |
antisemitische Stereotype und Verschwörungstheorien. In ihren Gruppen haben | |
sie gelernt, zeithistorische und wissenschaftliche Wahrheiten zu leugnen, | |
zu ignorieren oder durch „alternative Fakten“ zu ersetzen. | |
Ein Extremismus spiegelt sich perfekt am anderen. Während der Stunden des | |
Workshops haben Alex und Khaled verbissen dagegen gekämpft, einander | |
ähnlich zu sein. Doch die Parallelen waren unübersehbar. Trotzdem bleibt es | |
ihnen bis zum Schluss wichtig zu betonen, dass sie „total unterschiedlich“ | |
sind. Abgrenzung ist ein Muss, Überschneidungen dürfen nur Zufall sein. | |
Freilich reicht ein Tag Workshop nicht aus, um aus zwei Extremisten zwei | |
Demokraten zu machen. Die Diskussionen laufen in vielen Workshops, langsam | |
zeigen sich Änderungen, Erfolge, wenn einer über sich lachen kann, wenn | |
einer neue Fragen stellt, mehr von sich erzählt, die Vergangenheit | |
kritischer sehen kann. | |
Was der Raum der Begegnungen und des Öffnens bewirken kann, zeigt sich | |
einige Wochen später. Da erfahren wir von den Sozialarbeitern im Gefängnis, | |
dass Alex und Khaled angefangen haben, miteinander Schach zu spielen. Ich | |
weiß nicht, ob ich das gut oder schlecht finde. Berührt hat es uns | |
jedenfalls alle. | |
16 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Ahmad Mansour | |
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