| # taz.de -- Prävention von Radikalisierung: Die Macht der Mütter | |
| > Terrornetzwerken ist nur mit einer wirkmächtigen Gegenerzählung | |
| > beizukommen. Der Schlüssel liegt in den Familien. | |
| Nizza, Paris, Wien, die Namen dieser Städte wecken in uns nicht nur | |
| Reisesehnsucht, sondern auch Assoziationen mit [1][Terror], Gewalt und | |
| Unsicherheit. Eine weitere Stadt ist New York, die mit dem schicksalhaften | |
| Datum des 11. September 2001 unser aller Zusammenleben verändert hat. Die | |
| Anschläge und darauffolgenden Kriege und Rachefeldzüge führten zu einer | |
| neuen Weltunordnung, die tief in unseren Alltag hineinreicht. Drei Tage | |
| nach dem Ereignis postete die Mutter eines jungen Mannes, der sein Leben im | |
| 103. Stock in einem der Türme verlor, den offenen Brief „Not in my son’s | |
| name“ an Präsident Bush: „Unser Sohn starb als Opfer einer unmenschlichen | |
| Ideologie. Denken wir gemeinsam nach über eine vernünftige Antwort. Wir | |
| sollten nicht als Nation zur Unmenschlichkeit beitragen.“ | |
| Die Antworten aus aller Welt, die Phyllis Rodriguez erfuhr, waren | |
| überwältigend. Aber es kam keine Antwort von offizieller Seite. Eine | |
| einmalige Reaktion von Empathie und Courage stach hervor: Aicha el-Wafi, | |
| Mutter von Zacarias Moussaoui, der Teil des verhängnisvollen | |
| Pilotentrainings war, entschuldigte sich für den Schmerz, den die Familien | |
| der Opfer durchmachten. | |
| Ich wusste sofort, dass wir diesen Dialog zwischen der Mutter eines Opfers | |
| und der Mutter eines beschuldigten Terroristen begleiten müssen. Und so | |
| kamen beide nach Wien, um mit betroffenen Müttern aus aller Welt ihre Wut | |
| und ihr Mitgefühl zu teilen. Nach jedem Anschlag gibt es immer dieselbe | |
| Frage nach dem Warum, wie es dazu kommen konnte. Diese Begegnung war nun | |
| ein Versuch, eine Extremsituation zu verstehen, mit neuen Lösungen, die von | |
| der Basis kommen. Es war ein Versuch, Räume zu öffnen, in denen sich | |
| diejenigen treffen können, die ganz nah am Geschehen sind, um Wege jenseits | |
| von militärischen Interventionen zu explorieren. | |
| Solche Konversationen sind ein erster Brückenbau, um mutiger darüber | |
| nachzudenken, wie wir mit Terror umgehen. Hard Power hat unsere Welt nicht | |
| sicherer gemacht. Das Feld der Terrorbekämpfung und der Prävention ist von | |
| Militär, Polizei, von Männern dominiert. Kann die Bemühung um Soft Power, | |
| die auf Dialog, Analyse von zwischenmenschlichen Dynamiken und | |
| Ursachenforschung aufbaut, tatsächlich eine zusätzliche Schutzfolie | |
| entwickeln, quasi Immunisierung von innen? Können den Netzwerken | |
| gewalttätiger Extremisten, die ihre Gefolgschaft mit emotionalen | |
| Botschaften bombardieren, Netzwerke „von uns“ entgegengestellt werden? Zum | |
| Beispiel von Müttern, wenn sie als erste Linie der Verteidigung in ihren | |
| Familien sensibilisiert werden, ihre heranwachsenden Jugendlichen zu | |
| beschützen und vor verhängnisvollen Kurzschlüssen zu bewahren? | |
| Um diese Frage zu beantworten, habe ich mit dem Team von Frauen ohne | |
| Grenzen eine Reise durch die Geografien des Terrors gemacht. Von Jemen über | |
| Israel, Palästina, Pakistan bis Indien. Nach dem Terrorangriff auf Mumbai | |
| sprach ich mit Zeugen und Terrorexperten über die Zusammensetzung der | |
| Gruppe der Angreifer, junge Männer, die die beiden Länder, Indien und | |
| Pakistan, an den Rand des Krieges brachten. Ajmal Kasab war der einzige | |
| überlebende Terrorist, der über die Methoden seines Rekrutierers Auskunft | |
| geben konnte. Dieser schaffte es, einen kindlichen Gehorsam in allen von | |
| ihnen zu erzeugen. Es hatten sich 32 für die tödliche Mission gemeldet, | |
| aber nur weniger als die Hälfte dieser jungen Männer wollte letztendlich | |
| Märtyrer werden. Der Stoppfaktor waren ihre Familien. Kasab erinnert sich | |
| im Gefängnis an das Abschiedsessen, das seine Mutter für ihn vorbereitete: | |
| Er wurde vor diesem Himmelfahrtskommando quasi als Bräutigam gefeiert, aber | |
| innerlich wünschte er nichts mehr, als daheim bleiben zu können. | |
| Dieses Beispiel ist nicht untypisch, Ambivalenz und Zweifel sind immer auch | |
| Untertöne, die die Rekrutierung begleiten. Der Prozess läuft meist in einem | |
| rasanten Tempo ab, sodass den Jugendlichen kaum Zeit bleibt, ausführlich | |
| die Suren des Korans zu studieren. Was viele von ihnen antreibt, ist nicht | |
| die Suche nach religiöser Wahrheit, sondern die Suche nach sich selbst, die | |
| Entschlossenheit, endlich jemand zu sein, die Wut auf die eigenen Defizite | |
| und das Nichtangekommensein in der Gesellschaft. Dieses Ich-Loch und die | |
| einhergehenden Gefühle der Sinnlosigkeit nützen die Ideologen geschickt aus | |
| und ihre erste Bemühung zielt darauf ab, die Jungen von ihrer Familie zu | |
| isolieren und mit paradiesischen Verheißungen in eine fantasierte Welt zu | |
| locken. Sie versprechen alles, vor allem Wertschätzung und Brüderlichkeit. | |
| Mit dem alten Umfeld müssen sie brechen. Das ist ein klarer Hinweis darauf, | |
| dass sie den Einfluss der Familie durchaus als Konkurrenz erleben. | |
| ## Digitale Nabelschnur | |
| In einer Serie von Gesprächen mit Müttern der jungen | |
| [2][Dschihadigeneration] in Belgien, England und Deutschland wurde mir | |
| schnell klar, dass die emotionale Nabelschnur zu den Müttern oft über | |
| digitale Kommunikationskanäle aufrechterhalten wurde. Eine junge Französin | |
| war mit ihrem Liebhaber, einem hochrangigen IS-Rekrutierer, nach Syrien | |
| aufgebrochen. Sie blieb mit ihrer Mutter in Kontakt und schickte | |
| begeisterte Meldungen zurück. Nach einigen Monaten kristallisierte sich ein | |
| typisches Muster heraus: Sie wird schwanger, er wird gewalttätig, sie will | |
| abspringen, um ihr Kind zu schützen. Die Textnachrichten wurden immer | |
| verzweifelter, ihre Mutter versuchte, sie mit Schleppern aus dem Land zu | |
| bekommen, der Plan misslang. Heute ist die 20-jährige zweifache Mutter im | |
| berüchtigten Al-Hol-Camp verschwunden. | |
| Diese Erlebnisse müssen als wichtiges Mosaik für die Gegenerzählungen | |
| genutzt werden, um ein Netzwerk aus Verbündeten in Familien, Peergroups und | |
| nicht zuletzt in den Zentren der Terrorstrategen aufzubauen. Dazu muss man | |
| die Betroffenen dafür gewinnen, ihr Schweigen zu brechen, um die zu | |
| erreichen, die noch nicht ins Netzwerk der Verführer geraten sind. | |
| Kein Geheimdienst kommt den kleinen alltäglichen Schritten in den Abgrund | |
| näher als die Mütter. Sie sind unfreiwillige Zeitzeuginnen, die ihre Kinder | |
| oft verzweifelt und beunruhigt beobachten. Und es ist nie zu spät für | |
| Interventionen, – wenn Familien dafür die nötige Ausrüstung hätten. | |
| Die Frühwarnsignale sind immer ähnlich: Im Haus macht sich eine Politik der | |
| geschlossenen Türen breit, die Heranwachsenden sind bedacht, ihre | |
| Geheimnisse zu wahren, sie führen ein Doppelleben. Die Freunde bleiben weg, | |
| die Kleidung verändert sich. Eine deutsche Mutter, deren Sohn nach Syrien | |
| aufbrach, bemerkte Auffälliges in seinem Kinderzimmer. Er schlief nicht | |
| mehr im Bett, sondern auf dem harten Boden, trainierte mit Hanteln, ging | |
| auf endlose Fußmärsche und brach schließlich in den Irak auf. | |
| Die Mütter von radikalisierten Jugendlichen quer durch Europa kommen zu | |
| denselben Schlussfolgerungen: Wir sind nicht vorbereitet gewesen, | |
| Widerstand zu leisten im Kampf gegen diese gefährlichen Entwicklungen. Sie | |
| spürten die Präsenz eines „unsichtbaren Feindes“ in der Familie, fühlten | |
| sich paralysiert und geängstigt. Sie hätten Hilfe gebraucht. Das Projekt | |
| von Frauen ohne Grenzen, Mother Schools: Parenting for Peace,bringt | |
| besorgte Mütter in mittlerweile 16 Ländern zusammen, um sie mit | |
| Selbstvertrauen und Erziehungskompetenz für das Tabuthema Extremismus zu | |
| rüsten. | |
| Präventionsarbeit, das ist ganz klar, geht uns alle an und ist im | |
| Wesentlichen Sozialisationsarbeit. Wenn wir uns auf die Symptome | |
| konzentrieren, dann können wir diesen komplexen und dynamischen Prozess | |
| nicht stoppen. Wir stehen immer kurz vor dem nächsten Versäumnis, anstatt | |
| auf eine kontinuierliche und beharrliche Strategie zu setzen, die genau | |
| dort beginnt, wo die Probleme beginnen: in den Familien. | |
| In Wien gehen jeden Abend Menschen durch die engen Gassen, durch die der | |
| Attentäter am 2. November neun Minuten lang raste, vier Menschen erschoss | |
| und über zwanzig verwundete. Sie zünden Kerzen vor der Ruprechtskirche an, | |
| auf dem Kirchturm ist ein Poster angebracht: „Liebe ist stärker als Hass, | |
| Angst ist kein guter Ratgeber“. | |
| ## Der Faktor häusliche Gewalt | |
| Bewaffnete Polizeisondereinheiten werden die Angst und Verunsicherung nicht | |
| zähmen. Sie sind im Ausnahmezustand präsent. Die Angst vor dem Terror ist | |
| spürbar in der Stadt, doch Angst und Resignation dürfen nicht unsere | |
| Realität werden, genau das ist das Ziel der Terroristen und ihrer | |
| Drahtzieher. | |
| What’s next? Es muss langfristig in die Communitys investiert werden, und | |
| das sind wir alle. Wir müssen dem Zyklus reaktiven Zurückschlagens | |
| entkommen, denn gewalttätiger Extremismus äußert sich in Wellen, die gerade | |
| in kurzen Abständen Europa treffen. Wir müssen Dynamiken, die den Prozess | |
| der [3][Radikalisierung] begünstigen, genau im Blick haben. Anstatt ein | |
| „extremistisches“ Persönlichkeitsprofil zu erstellen, identifizieren | |
| Expert_innen Push- und Pull-Faktoren, die wie Stoß- und Zugkräfte auf eine | |
| Person einwirken und sie anfällig machen. | |
| Häusliche Gewalt ist bislang ein übersehener Faktor in diesem Szenarium. | |
| Machistische Herrschaftsstrukturen sind oft der letzte Kick, die Familie | |
| hinter sich zu lassen. Eine Mutter, die von ihrem Sohn erfahren wollte, | |
| warum er sein altes Leben, seine Freunde hinter sich gelassen hatte, | |
| nachdem er an der türkischen Grenze aufgegriffen worden war, bekam von ihm | |
| diese Antwort aus dem Gefängnis: „Mama, ich habe erkannt, dass ich dich | |
| nicht retten kann. Papa hat dich so oft geschlagen, jetzt kann dir nur mehr | |
| Allah helfen. Ich gehe voraus.“ | |
| Prävention ist ein langfristiges Projekt, das unsere ständige Wachsamkeit | |
| verlangt. Wir müssen uns davon verabschieden, dass es den einen Weg gibt, | |
| dass Integration durch den Fokus auf Religion gelingen kann, dass | |
| aufgeklärte Imame und eine Reform des Islams es alleine schaffen. Die | |
| Reformen liegen an uns allen. Wir haben dafür eine solide Grundlage, die | |
| Idee der Aufklärung als Basis unserer Politik und Alltagsgestaltung, die | |
| Verteidigung säkularer Werte ohne Wenn und Aber. | |
| Eine globale Bewegung von Müttern, die diese Grundlagen schaffen, ist ein | |
| starker Pfeiler einer tragfähigen neuen Sicherheitsarchitektur. | |
| 22 Nov 2020 | |
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