# taz.de -- Islamistischer Terror: Laut werden gegen Hass | |
> Wir müssen die Meinungsfreiheit für alle entschiedener verteidigen. Auch | |
> von Muslimen darf man das erwarten. | |
Bild: It's the ideology, stupid! In Polen wehren sich Frauen gegen die Einschr�… | |
Jedes Mal, wenn ein islamistisches Attentat geschieht, wird das übliche | |
abgedroschene und schlicht unerträgliche Skript wiederholt: Viele Muslime | |
und muslimische Organisationen verurteilen die Tat, distanzieren sich von | |
dem Mörder und verteidigen dann den Islam: „Was passiert ist, hat nichts | |
mit dem Islam zu tun.“ Oder: „Man kann nicht einer ganzen Gemeinschaft die | |
Tat eines Einzelnen vorwerfen.“ So lautet der Refrain, der auch von einem | |
großen Teil der europäischen Linken nachgebetet wird. Genau das ist auch | |
nach der Hinrichtung des französischen Lehrers [1][Samuel Paty] passiert, | |
der am 16. Oktober 2020 in einem Vorort von Paris von einem Islamisten | |
enthauptet wurde, und erst kürzlich nach dem Anschlag in Nizza mit drei | |
Todesopfern. | |
Aber terroristische Angriffe kommen niemals aus dem Nichts. Sie sind immer | |
nur das letzte Glied einer Kette. Und genau diese Kette ist aus politischer | |
und sozialer Sicht das Wichtige. Sich von einem Mörder zu distanzieren ist | |
eine Selbstverständlichkeit – aber auch verdammt einfach. | |
Schwerer, aber geboten wäre es gewesen, nach dem Massaker an der Redaktion | |
von [2][Charlie Hebdo] nicht darüber zu streiten, ob es für eine Zeitung | |
angemessen sei, Karikaturen zu veröffentlichen, die manche als beleidigend | |
empfinden, sondern die Freiheit zu verteidigen, dass auch das | |
veröffentlicht werden darf, was mich beleidigt – wie kürzlich durch die | |
Indian Muslims for Secular Democracy geschehen. Wer will denn entscheiden, | |
was Kritik ist und was Beleidigung? Für die Fundamentalisten ist | |
beleidigend, was für andere – Gläubige oder nicht – eine Kritik ist, so | |
scharf sie auch sein mag. Meine subjektive Einschätzung kann nicht der | |
Maßstab für die Entscheidung sein, was du sagen oder nicht sagen darfst. | |
Als Atheistin fühle ich mich sehr oft von Gläubigen (dem Papst inklusive) | |
beleidigt, die offen sagen, dass Atheisten etwas fehle. Aber ich käme nicht | |
auf die Idee, sie daran zu hindern, ihre Meinung zu äußern, auch wenn sie | |
mich beleidigt. Andere Menschen zu respektieren kann nur heißen, ihre | |
Ideen, ihre Weltanschauungen, ihre politischen oder religiösen | |
Überzeugungen, sogar ihre Haltungen ernst zu nehmen und gegebenenfalls auch | |
scharf zu kritisieren, ohne dafür das Leben zu riskieren. Denn wenn der | |
Preis der Meinungsfreiheit zu hoch ist, ist sie keine echte Freiheit, auch | |
wenn sie gesetzlich garantiert ist. | |
Schwerer, aber geboten wäre es, sich von all den Familien zu distanzieren, | |
die Druck auf Lehrer ausüben, damit sie ihren Unterricht ändern; die ihren | |
Töchtern die Teilnahme am Unterricht in bestimmten Fächern verbieten und | |
damit deren Recht auf Bildung verletzen; die – nicht nur mit Gewalt – ihren | |
Töchtern den Schleier aufzwingen; die für sich besondere Rechte einfordern, | |
zum Beispiel die Ausnahme von dem Gesetz, das in Frankreich jedes religiöse | |
Symbol im öffentlichen Raum verbietet und das die multikulturalistische | |
Rhetorik, die Wahrheit verdrehend, als „Gesetz gegen den Schleier“ | |
bezeichnet. | |
Schwerer, aber geboten wäre es, öffentlich und laut alle Formen von | |
Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Hass gegen Abtrünnige, | |
gegen Nichtgläubige zu verurteilen, wann immer sich die Gelegenheit dazu | |
bietet – in der Schule, in der Familie, unter Freunden, in der Moschee. | |
Schwerer, aber geboten wäre es im Fall Samuel Patys gewesen, sofort auf die | |
penetrante diffamierende Kampagne gegen den Lehrer zu reagieren, die von | |
dem Vater einer Schülerin betrieben wurde. Man hätte öffentlich und laut | |
seine Solidarität mit dem Lehrer bekunden müssen, das Terrain abstecken, | |
den öffentlichen Raum physisch und ideologisch besetzen, vielleicht sogar | |
T-Shirts mit den Mohammed-Karikaturen anziehen – da Allah zu groß ist, um | |
sich durch einige Zeichnung beleidigt fühlen zu können. | |
Stattdessen gibt man den öffentlichen Raum mit einem Schulterzucken auf: | |
„Ich habe nichts damit zu tun. Ich muss mich als Muslim nicht | |
rechtfertigen.“ Als Sizilianerin ist mir dieser Mechanismus wohl bekannt: | |
„Ich bin kein Mafioso, daher ist die Mafia nicht mein Problem.“ Das war | |
jahrelang der perfekte Rahmen, der der Mafia zum Aufschwung verholfen hat. | |
Erst als eine genügend große Zahl von Sizilianern erkannte, dass die Mafia | |
uns alle betrifft, auch wenn wir keine Mafiosi sind, und dass es in unserer | |
Verantwortung liegt, täglich, wo wir nur können, die Mafia anzuprangern und | |
nicht mehr wegzusehen, konnte der Kampf gegen die Mafia auch seitens der | |
Polizei eine gewisse Wirksamkeit erlangen. | |
Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit, Homophobie und Hass gegen Abtrünnige, | |
gegen Nichtgläubige ist nicht nur dem Islam eigen, das ist wohl wahr. Keine | |
Religion ist gegen Fundamentalismus gefeit. In Polen wird Abtreibung mit | |
der starken Unterstützung der polnischen katholischen Kirche praktisch in | |
allen Fällen verboten. Und was machen die Frauen – darunter auch viele | |
gläubige –, die ihre Selbstbestimmung verteidigen? Sie protestieren klar | |
und offen nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die Kirche und | |
kritisieren – oder beleidigen, je nach Gesichtspunkt – die Ideologie hinter | |
dieser Entscheidung. | |
Im Fall des Islam passiert aber bei uns etwas Symptomatisches, das nichts | |
mit dem Islam selbst zu tun hat: Der erste Impuls vieler ist es, den Islam | |
zu verteidigen, statt die Probleme innerhalb des Islam zu erkennen und | |
anzugehen. Das führt dazu, dass, während wir wegschauen, die Probleme | |
zunehmen. | |
Solange Journalisten wegen der Veröffentlichung von Karikaturen massakriert | |
werden; solange Intellektuelle wegen ihrer Ideen und Äußerungen unter | |
Polizeischutz leben müssen; solange Lehrer Angst haben, über bestimmte | |
brisante Themen zu sprechen, und dafür sogar ihr Leben riskieren, ist es | |
unser aller Pflicht, die Meinungsfreiheit ohne Wenn und Aber zu verteidigen | |
– in der großen Hoffnung, viele Muslime Europas an unserer Seite zu haben. | |
2 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Islamistischer-Terror-und-Politik/!5720553&s=Paty/ | |
[2] /Islamistische-Anschlagsserie/!5721076&s=Charlie+Hebdo/ | |
## AUTOREN | |
Cinzia Sciuto | |
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