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# taz.de -- Terror in Frankreich: Der Schatten des Bataclan
> Vor fünf Jahren ermordeten islamistische Attentäter 130 Menschen in
> Paris. Der Schock sitzt immer noch tief. Die Gesellschaft ist unfreier
> geworden.
Bild: Unter Polizeischutz: Gedenkzeremonie vor der Pariser Konzerthalle anläss…
Paris taz | 13. November 2015: Fuad, Ismail und Samy, 23, 28 und 29 Jahre
alt, drei junge Franzosen, die schwer bewaffnet sind und Sprengstoffgürtel
tragen, dringen in [1][das Pariser Bataclan] ein. Sie bahnen sich ihren Weg
ins Innere, strecken alle nieder, denen sie am Eingang begegnen.
Sie verschaffen sich Zugang zu dem großen Saal, rufen „Allahu Akbar“ und
entladen die ganze Feuergewalt ihrer Waffen und ihres Hasses. Sie schießen
auf alle, die tanzen und die nicht mehr tanzen. Sie schießen, wieder und
wieder, auf 1.500 Menschen, die gekommen sind, um Eagle of Death Metal zu
hören, eine amerikanische Rockgruppe.
Ein Terrorist brüllt, er suche den Sänger der Gruppe, da die Amerikaner das
Gebiet bombardierten, das der IS, der „Islamische Staat“ im Irak und in
Syrien halte. Ein anderer schreit wütend, dass diese Operation eine
„Antwort auf all das Leid ist, das François Hollande [Frankreichs
Ex-Präsident; Anm. d. Red.] den Muslimen weltweit angetan hat“.
Aber vor allem geht es darum, einen Ort anzugreifen, „an dem sich Hunderte
Götzendiener zu einem perversen Fest versammelt haben“, wie es in einem
Bekennerschreiben des IS heißt. Die tödliche Orgie dauert 20 Minuten, 90
Menschen sterben. Hinzu fallen 40 Menschen den fast zeitgleich
stattfindenden Attentaten vor dem „Stade de France“ in Saint Denis sowie in
und vor Lokalen im 10. und 11. Pariser Arrondissement zum Opfer.
## Hass im Herzen
Heute, fünf Jahre später, sind sie in Paris immer noch da: die Erinnerung
an ein unbeschreibliches Grauen und ein Gefühl der Verstörung, die niemand
überwunden hat. Wie hat ein solcher Hass in die Herzen junger Männer
eindringen können, die in Frankreich und Belgien aufgewachsen sind? Der
Ursprung dieser Krankheit (wenn es denn eine Krankheit ist) ist der
schiitische und sunnitische Islam, der zu Beginn der 1980er Jahre einen
Aufschwung erlebte.
Den Anfang macht im Februar 1979 der Triumph der Islamischen Revolution in
Teheran. Sehr schnell beginnt sich der Schiismus auszubreiten, vor allem im
Libanon im Sommer 1982. Unter dem Vorwand, gegen den israelischen Einmarsch
zu kämpfen, schickt die Islamische Republik eine Einheit der
Revolutionswächter in den Libanon. Diese gründet die libanesische
Hisbollah.
Sie ist ein Ableger der iranischen Hisbollah, die vordergründig unabhängig
ist, sich jedoch in der schiitischen Gemeinschaft wachsenden Zuspruchs
erfreut. Diejenigen, die damals im Namen der Unterdrückten das Wort
ergreifen, sind Linke, Fürsprecher der Dritten Welt und arabische
Nationalisten. Der Fortschritt, den diese Gruppen anstreben, besteht darin,
die Ungerechtigkeit zu beseitigen, die die „Verdammten der Erde“ daran
hindert, zu der wirklichen Welt aufzuschließen.
Die Islamisten folgen einer anderen Inspiration. Sie wollen der Welt als
solcher den Rücken kehren, um den Werten der ursprünglichen muslimischen
Welt in deren ganzem historischem Glanz wieder Geltung zu verschaffen.
Diese Welt wird erhitzt von dem Glauben, der Scharia und den Lehren des
Koran.
## Neue Ideologie
Im Oktober 1983 bekennt sich die Hisbollah zu zwei Attentaten auf die
US-Botschaft in Beirut (254 Tote) und einen französischen Militärstützpunkt
(56 Tote). Quasi über Nacht werden große Teile der muslimischen Bevölkerung
– besonders die Jugend – zu Bewunderern angesichts des Erfolges dieser
Aktionen, „die vom Islam inspiriert sind. Diese vergleichen sie mit den
wiederholten Misserfolgen früherer Operationen unter der Ägide linker sowie
nationalistischer arabischer Gruppen.
Die alte vorherrschende Ideologie wird durch eine neue ersetzt. Der
sunnitische Islam erblickt in Saudi-Arabien das Licht der Welt. Dort
herrscht eine der rigorosesten Versionen des Islam, der Wahhabismus.
Ihn haben die USA gefördert, ermutigt und finanziert, um die afghanischen
Mudschaheddin dabei zu unterstützen (darunter auch Osama Bin Laden) die
sowjetische Besetzung des Landes zu beenden. Die Islamisten machen jedoch
kein Geheimnis aus ihren Zielen: „Unsere Aufgabe (der Muslime) endet nicht
mit einem Sieg in Afghanistan“, schreibt Scheich Abdullah Assam, Bin Ladens
Mentor. „Der Dschihad bleibt so lange eine individuelle Verpflichtung, bis
alle Gebiete, die einmal muslimisch waren, zu uns zurückkommen. Dann wird
der Islam von Neuem herrschen.“
Der islamische Sieg in Afghanistan bringt al-Qaida hervor. Mit dem Angriff
auf die Twin Towers in New York im September 2001 gelingt dieser Gruppe der
größte Terroranschlag, der je auf amerikanischem Boden stattgefunden hat.
Unter dem Vorwand, diese Attacke vergelten zu wollen, marschieren die USA
im Irak ein und geben so ungewollt dem sunnitischen Islamismus neue
Gelegenheit, sich über alle Kontinente auszubreiten.
## Extremes Chaos
Die USA führen den Sturz Saddam Husseins herbei, beschließen die Auflösung
der irakischen Armee – ohne sich darüber im Klaren zu sein, dass das für
das Land extremes Chaos bedeutet. Die Folgen: ein Bürgerkrieg zwischen
sunnitischen und schiitischen Milizen; mit dem Abzug der US-Streitkräfte
entsteht der IS, der „Islamische Staat“.
Von der Fläche her so groß wie Großbritannien, umfasst er Teile des Iraks
und Syriens. Genau auf diesem Gebiet, dem „Islamischen Kalifat“, werden
fortan Tausende auf der ganzen Welt rekrutierte Kämpfer, auch aus
Frankreich und Belgien, ausgebildet. Und von dort werden auch die Anschläge
in Paris geplant – auf das Bataclan, das Stade de France und den Supermarkt
Hyper Cacher.
Fünf Jahre sind vergangen, und das Territorium des „Islamischen Kalifats“
ist militärisch zurückerobert worden. Aber jenseits von Sieg und Niederlage
ist eins klar: Das Hauptziel des Islamismus war (und ist), die
„Muselmanen“, besonders in Europa, von anderen Mitbürgern abzusondern. In
Frankreich sind rund 10 Prozent der Bevölkerung Muslime mit französischem
Pass – die große Mehrheit ist in die Gesellschaft integriert und hat mit
einer identitären muslimischen Gemeinschaft nichts am Hut.
Diese Menschen mögen Chirurgen sein, Müllwerker oder Taxifahrer, und sie
betrachten, wie die meisten Christen oder Juden, ihre Religion als ihre
Privatsache. Immer wieder bestätigen französische Meinungsumfragen, dass
auch diese Bevölkerungsgruppe den Laizismus unterstützt und damit das
Prinzip, dass der Staat die freie, ungehinderte Religionsausübung
garantiert. Eine ganz kleine Minderheit nur identifiziert sich mit einem
beinharten islamistischen Diskurs, heißt Morde im Namen Allahs gut und
träumt davon, in einem Staat zu leben, der die Gesetze Frankreichs durch
die Scharia ersetzt hat.
## Verteidigung der Unterdrückten
Die terroristische Bedrohung erzeugt Misstrauen gegeneinander. Das führt
dazu, dass ein Teil der abgehängten französischen Muslime anfällig für
einen Diskurs ist, der den Islam verherrlicht, weil dieser angeblich die
Unterdrückten verteidigt. Für deren Misere ist das aktuelle „System“
verantwortlich.
In diesem Punkt ähneln sich der islamistische Diskurs und der der Linken in
den 1960er und 70er Jahren. Und deshalb ist die französische Linke der
alten Schule heute auch so angefixt bei diesem Diskurs. Es wirkt, als ob
ihre einstige Solidarität mit der „Sache der Unterdrückten“ unter dem
Vorwand, gegen Islamophobie zu kämpfen, sie drängt, es nicht so streng zu
nehmen mit „soften“ Ausformungen des Islamismus.
Währenddessen sind brutale Islamisten nicht untätig geblieben. Nach dem
Attentat 2015 auf Journalisten von Charlie Hebdo, auf Juden im Hyper
Cacher, auf Feiernde im Bataclan, haben sich sich 2016 in Nizza die große
Party zum Nationalfeiertag vorgeknöpft, sie haben vor Kurzem [2][den Lehrer
Samuel Paty enthauptet] und gläubige Christen in der Kathedrale von Nizza
ermordet. Als wenn sie sagen wollte: „Es ist eure Welt, die wir hier
symbolisch zerstören, Zug um Zug.“
Die französische Gesellschaft steht unter Schock. Der extremen Rechten
gelingt es, auf dieser Welle des Unsicherheitsgefühls zu reiten – nach der
Attacke auf das Bataclan verdoppelte die Partei Front National [heute:
Rassemblement National, Anm. d. Red.] ihr Ergebnis bei den Regionalwahlen.
## Legitimation durch den Terror
Die französische Regierung setzt seit 2015 in Kombination mit der ständigen
Ausrufung des Notstands immer wieder die Freiheit stark einschränkende
Gesetze durch, die sie durch die Terrorgefahr legitimiert sieht. Die den
Grundrechten entgegenstehenden Verordnungen, die einst als temporär
verkauft wurden, bleiben.
So müssen Journalisten auf behördliche Anweisung sofort den Schauplatz
eines möglichen Zusammenstoßes zwischen Polizei und Demonstranten
verlassen. Am 17. November wird in der Nationalversammlung ein
Gesetzesvorhaben der Regierung diskutiert, laut dem mit einem Jahr
Gefängnis und 45.000 Euro Geldbuße jeder bestraft wird, der, egal über
welchen Kanal, und sei es ein Retweet, Bilder von Polizisten im Einsatz
verbreitet.
Meine 23-jährige Tochter erzählte, wie sie kurz nach dem Bataclan-Anschlag
Angst hatte, dass Terroristen auf sie schießen. Heute habe sie eher Angst,
dass die Polizei auf sie schieße.
Der Islamismus hat es vielleicht nicht geschafft, die Gesellschaft zu
spalten. Aber er hat dazu beigetragen, sie gewalttätiger, argwöhnischer und
unfreier zu machen. Fünf Jahre später kann man sagen, dass das Leben in
Frankreich immer noch vom Terrorismus überschattet ist. der
Aus dem Französischen Barbara Oertel und Harriet Wolff
13 Nov 2020
## LINKS
[1] /Fuenf-Jahre-nach-Bataclan-Anschlag/!5728244
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## AUTOREN
Selim Nassib
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