# taz.de -- Prozess um Anschlag auf „Charlie Hebdo“: Die unmögliche Sühne | |
> Am Mittwoch sollen die Urteile im Prozess um die islamistische | |
> Attentatsserie von 2015 in Paris fallen. Die hohen Erwartungen bleiben | |
> aber unerfüllt. | |
Bild: Zeichnung aus dem Gericht vom 14. Dezember 2020 | |
Paris taz | Das Ende eines historischen Prozesses steht bevor: An diesem | |
Mittwoch werden die Urteile nach langen und mehrfach unterbrochenen | |
Verhandlungen zu den terroristischen Attentaten gegen Charlie Hebdo und das | |
Pariser Geschäft Hyper Cacher im Januar 2015 verkündet. Insgesamt 14 | |
Personen waren der Beihilfe bei der Vorbereitung der Anschläge der Brüder | |
Saïd und Chérif Kouachi gegen die Satirezeitung und der mörderischen | |
Geiselnahme durch Amédy Coulibaly im Lebensmittelladen angeklagt. | |
Da die drei Attentäter damals bei Schusswechseln mit der Polizei getötet | |
wurden, standen nur noch die mutmaßlichen Komplizen vor Gericht. Gegen die | |
meisten von ihnen hat die Staatsanwaltschaft hohe Gefängnisstrafen | |
beantragt. | |
Wegen der historischen Bedeutung wurden die Verhandlungen, die am 2. | |
September vor dem Sondergericht für Terrorismus in Paris begonnen hatten, | |
gefilmt und für die Nachwelt aufgezeichnet. Schon lange vor dem Tag der | |
Urteilsverkündung war klar geworden, dass dieser Prozess um die Terrorserie | |
mit 17 Toten die hohen Erwartungen niemals erfüllen konnte. Die historische | |
Aufarbeitung wird durch die Dokumentierung möglich sein, die Sühne aber | |
wurde durch den Tod der Terroristen verunmöglicht. Dieser Prozess konnte | |
also zwangsläufig nur noch ihre Helfer und Helfershelfer im Namen des | |
Volkes bestrafen. | |
Drei wichtige Angeklagte waren zudem abwesend. Man weiß nicht, ob | |
Coulibalys ehemalige Lebensgefährtin, Hayat Boumedienne und die Brüder | |
Mehdi und Mohamed Belhoucine überhaupt noch irgendwo im Irak oder Syrien, | |
wohin sie geflüchtet waren, versteckt unter den ausländischen Dschihadisten | |
leben. | |
## Die terroristischen Netzwerke besser verstehen | |
Als Hauptangeklagter bei den Pariser Verhandlungen blieb der Anklage der | |
aus der Türkei stammende 35-jährige Ali Riza Polat, der beschuldigt wird, | |
von Beginn an bei der Organisation der Attentate mitgewirkt und sowohl | |
Coulibaly als auch den Brüdern Kouachi zu ihren Waffen verholfen zu haben. | |
Für ihn hat die Anklage deswegen eine lebenslange Haft beantragt. Wegen | |
seiner Erkrankung an Covid-19 mussten die Verhandlungen mehr als einmal | |
unterbrochen werden. Ohnehin fand dieser Prozess wegen der Aktualität der | |
Corona-Epidemie in der Öffentlichkeit etwas weniger Beachtung als erwartet. | |
Trotz dieser Schwierigkeiten hat es dieser Prozess fünf Jahre nach den | |
Anschlägen erlaubt, besser zu verstehen, wie die terroristischen Netzwerke | |
funktionieren, wie womöglich unscheinbar anmutende Hilfeleistungen zu einem | |
Puzzlestück im Gesamtbild eines schrecklichen Verbrechens werden. Natürlich | |
war es vor allem für die Angehörigen der Opfer und die Überlebenden der | |
terroristischen Angriffe von größter Bedeutung, dass dieser Prozess | |
stattfinden konnte und dass im Minimum die als Mittäter Angeklagten erstens | |
vor Gericht befragt sowie zweitens dafür eine angemessene Strafe erhalten. | |
Für Staatsanwalt Jean-François Ricard darf das Ausmaß der Schuld nicht | |
relativiert werden: „Die Leute, über die heute geurteilt wird, sind keine | |
kleinen Fische, es wäre falsch, sie als bedeutungslos zu betrachten.“ | |
Die Ermittlungsergebnisse hatten am Prozess auch die Mängel und | |
Fehleinschätzungen in der Überwachung und Bekämpfung der islamistischen | |
Radikalisierung offengelegt. Coulibaly galt wegen einer Gefängnisstrafe | |
wegen Diebstahls als „kleiner Delinquent“, die Brüder Kouachi waren zwar ab | |
2011 wegen ihrer Radikalisierung in der „S-Datei“ für Feinde der | |
Staatssicherheit registriert, doch 2014 wurde ihre Überwachung eingestellt, | |
was vor Gericht ein Mitglied der Antiterrorbehörde nachträglich nur | |
„bedauern“ konnte. | |
## Plädoyer für Freiheit und Laizität | |
Als Anwalt von Charlie Hebdo als Nebenkläger hatte Richard Milka in seinem | |
Plädoyer die Worte gefunden, um Aktualität und Sinn des Prozesses zu | |
erklären: „Während dieser Verhandlungen [1][ist ein Lehrer enthauptet | |
worden], [2][in der Basilika von Nizza wurden Menschen getötet]. Die | |
Terroristen lassen keinen Zweifel daran, dass sie uns mit Beilen und | |
Messern unterwerfen wollen. Die Frage aber ist. Was antworten wir darauf?“ | |
Seine Antwort ist ein Plädoyer für die Freiheit und Laizität: „Sie können | |
uns ermorden, aber sie können nicht eine Idee töten. Charlie Hebdo ist ein | |
Symbol geworden. […] Wir werden nicht auf unsere Freiheit, die Religionen | |
zu kritisieren, und auch auf die Karikaturen verzichten. Denn das hieße, | |
unsere Geschichte zu leugnen und statt in Freiheit in Ketten zu leben.“ | |
16 Dec 2020 | |
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## AUTOREN | |
Rudolf Balmer | |
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