# taz.de -- Prozessende in Frankreich: Katharsis im Zeichen des Grauens | |
> In Paris fallen Urteile gegen 20 Angeklagte, die im November 2015 | |
> dschihadistischen Terror verübt haben sollen. Der Prozess hat Frankreich | |
> bewegt. | |
Bild: Trauer kurz nach dem Anschlag in Paris: Bis zum Prozess dauerte es Jahre | |
PARIS taz | Es ist ein gigantischer, ein kathartischer, ein reinigender | |
Prozess geworden. Für ihn wurde eigens im Palais de Justice auf der Pariser | |
Île de la Cité ein Gerichtssaal gebaut. Es ist der größte Strafprozess, der | |
bis jetzt in Frankreich geführt wurde: [1][viereinhalb Jahre | |
Beweisaufnahme, zehn Monate Prozess], 1.800 Nebenkläger:innen, 20 | |
Angeklagte. | |
Letztere werden verurteilt für die brutalste Terrorattacke, die seit 1945 | |
je in Europa geführt wurde. Drei Sprengstoffgürtel detonierten am 13. | |
November 2015 beim Stade de France, diverse Pariser Lokale gerieten unter | |
Beschuss, im Konzertsaal Bataclan gab es ein Blutbad. [2][Am Ende sind 130 | |
Menschen tot, Hunderte verletzt und Tausende traumatisiert]. | |
Weit vor dem nun zu fällenden Urteil haftete ihm bereits etwas | |
Philosophisches an: Gerechtigkeit walten lassen, ja, aber vor allem | |
eindrücklich aufzeigen, dass in einer zivilisierten Gesellschaft auf die | |
blinde Gewalt des Terrorismus nur eins antworten kann: das Recht. Ein | |
Fingerzeig auch in Richtung der USA, die nach dem 9/11-Terror im Jahr 2001 | |
und konträr zum amerikanischen Strafsystem rechtsfreie Räume geschaffen | |
haben – namentlich die Geheimgefängnisse der CIA und das [3][Straflager in | |
Guantánamo]. | |
## Beklemmende Nachzeichnung | |
Der Prozess in Paris hat seit September 2021 und in 140 Verhandlungstagen, | |
verfolgt von Hunderten Journalist:innen aus aller Welt und gefilmt für | |
die Geschichte, beklemmend minutiös alle Handlungs- und Schicksalslinien | |
nachgezeichnet. Die der Terroristen, ihrer Opfer und der Zeug:innen, aber | |
auch der Polizist:innen: Ein Horrorfilm in nachträglicher Zeitlupe ist hier | |
zur Aufführung gelangt. | |
Wir fühlen mit dem Busfahrer Manuel Colaço Dias, der vor der Diktatur des | |
Portugiesen Salazar mit 18 flüchtete und jetzt mit 63 Jahren in einem Café | |
gegenüber dem Stade de France sitzt, um das Fußballspiel | |
Frankreich–Deutschland zu gucken. Er ist das erste Opfer des Gemetzels an | |
jenem Abend, als ein Dschihadist seinen Selbstmordsprenggürtel zündet. | |
Im Gerichtssaal sehen wir vor uns, wie acht Minuten später ein schwarzer | |
Seat mit belgischem Kennzeichen vor dem Restaurant Le Petit Cambodge im | |
hippen 10. Arrondissement von Paris hält. Drei Männer mit Sturmgewehren im | |
Anschlag beschießen die Gäste, dann steigen sie ruhig wieder ins Auto. In | |
knapp zwei Minuten töten sie 13 Menschen, unter ihnen zehn junge Frauen. | |
Wenig später metzeln zwei der Dschihadisten auf der Terrasse des Cafés À la | |
bonne bière erneut Dutzende Menschen nieder. Der dritte nähert sich einer | |
Frau, die auf dem Boden liegt, um sie zu erschießen, doch sein Gewehr | |
versagt. [4][Es ist Abdelhamid Abaaoud, der Hauptkoordinator der | |
Attentatsserie]. | |
## Seit langem auf dem Radar | |
Abaaoud ist kein Unbekannter. Den Belgier haben Nachrichtendienste in 15 | |
Ländern seit Langem auf dem Radar. Sechs Wochen zuvor versucht | |
französisches Militär vergeblich, ihn handlungsunfähig zu machen, und | |
bombardiert Ausbildungslager des IS in Syrien. Man vermutet ihn im Herbst | |
2015 im islamischen „Kalifat“ – in Wirklichkeit sitzt er im Seat in Paris… | |
und stirbt wenige Tage später in einem Versteck, überwältigt von der | |
Polizei. | |
Der historische Prozess schildert nicht nur den Ablauf des ganzen Dramas, | |
er wirft auch ein Schlaglicht auf das Versagen der französischen und | |
belgischen Nachrichtendienste, die es kalt erwischte, weil sie zu spät | |
kapierten, dass die Terroristen ihnen entwischt waren, weil diese sich | |
unter Hunderttausende Flüchtlinge gemischt hatten, die vor dem syrischen | |
Bürgerkrieg flohen. | |
Wir sehen vor uns, wie der Polizeikommissar Guillaume C. (der wegen seiner | |
Funktion anonym im Prozess bleibt) im Dienstwagen durch Paris fährt, als er | |
über Funk von der Terroraktion im Bataclan hört. Als erster Polizist | |
erreicht er den Tatort und entscheidet sich, nur zusammen mit seinem | |
Chauffeur den Konzertsaal zu betreten – im Gegensatz zu der Gendarmerie, | |
die draußen noch auf einen Einsatzbefehl wartet. Die beiden wissen noch | |
nicht, welcher Alptraum sie hinter dem Eingang zum Bataclan erwartet. | |
## Getöse der Schusswaffen | |
Inmitten von Angst- und Schmerzensschreien und dem Getöse der Schusswaffen | |
sehen die zwei Polizisten drei schwerbewaffnete Männer, die wahllos weiter | |
auf das Konzertpublikum schießen, während der Boden bereits von Leichen und | |
blutenden Verletzten bedeckt ist. Sie zielen sechs Mal auf einen der | |
Terroristen, der daraufhin stürzt und seinen Sprengstoffgürtel zündet. Ein | |
anderer lädt wieder sein Sturmgewehr, schreit die Opfer an: „Ihr | |
bombardiert unsere Brüder in Syrien und im Irak! Jetzt machen wir dasselbe | |
hier mit euch!“ | |
Im Mammutprozess kritisiert später der ehemalige Anti-Terror-Richter Marc | |
Tredivic, dass der französische und der belgische Staat fahr- und | |
nachlässig mit der Terrorwelle umgegangen seien, die sich schon viel früher | |
als an jenem grausamen Schicksalstag aufgebaut habe. Tredivic spricht von | |
Jugendlichen, „die fasziniert sind von 9/11“, die Guantánomo geprägt hat | |
und die Bilder von demütigenden Misshandlungen durch US-Soldaten im | |
Gefängnis von Abu Ghraib im Irak. | |
Er berichtet vom „Exodus“ von über 3.000 Französ:innen seit 2013 nach | |
Syrien, „von ganzen Familien, von Jugendlichen, die im Visier der Justiz | |
waren, von Verurteilten, die ihre Strafe abgesessen hatten“. Sie gingen und | |
kamen zurück nach Frankreich und reisten wohl wieder nach Syrien, der Staat | |
sei ihnen nicht auf die Schliche gekommen, so der Ex-Richter. „Deshalb | |
konnten sie problemlos Attentate planen und ausführen.“ | |
## Blinder Amoklauf | |
Wie also kam es dazu, dass junge Franzosen und Belgier, ohne auch nur mit | |
der Wimper zu zucken, sich in einen derart grausamen Amoklauf stürzten? Die | |
Wurzeln dieses Mysteriums lassen sich nur ausmachen, verfolgt man die | |
Ursprünge des Islamismus zurück, einer fundamentalistischen Islamströmung – | |
und hinterfragt die befremdliche Attraktion, die er auf manche ausübt. | |
Seinen Anfang nimmt der Islamismus in Saudi-Arabien; er verbreitet sich | |
schnell in der Organisation al-Qaida, sie wird geführt von Osama Bin Laden, | |
dem Drahtzieher von 9/11 im Jahr 2001. | |
Das Trauma, das die USA hier erleiden, lässt den damaligen Präsidenten | |
George W. Bush übereilt und falsch reagieren: Die USA marschieren | |
völkerrechtswidrig im Irak ein, um Präsident Hussein zu erledigen, der aber | |
hat mit der Zerstörung der Twin Towers nichts zu tun. Es hilft Hussein | |
nichts, schließlich stirbt er Ende 2006 durch den Strick. Während des | |
Irakkriegs 2003 lässt US-Präsident Bush die irakische Armee auflösen. Chaos | |
ist die Folge, Sunniten und Schiiten bekämpfen sich gegenseitig. Als die | |
USA das Land verlassen, greift der IS an, der mittlerweile al-Qaida | |
verdrängt hat, und schlägt die neue, von den USA installierte irakische | |
Armee in die Flucht. Dann ruft er das von ihm kontrollierte, flächenmäßig | |
immense, „Kalifat“ aus – jenen „Staat“, der bald zum Terrorcamp wird,… | |
anderem auch für Franzosen und Belgier. | |
Zu den Anfängen dieses „Kalifats“ ist zu sagen, dass es in den 1960er | |
Jahren eine informelle Bewegung in der arabischen Welt gab, die eher | |
laizistisch geprägt war, zusammengesetzt unter anderem aus Kommunisten, | |
Marxisten, Sozialisten und arabischen Nationalisten. Diese Bewegung | |
kanalisierte allen Frust und allen Ärger der arabischen Welt. Sie versprach | |
in ihren eigenen Worten „die Niederschlagung des Imperialismus, des | |
Zionismus und von arabischen Reaktionären“ – und kündete von besseren | |
Zeiten. | |
## Rückschritt als Rückkehr verkauft | |
Als diese Bewegung scheiterte, waren die einzigen Kandidaten für ihre | |
Nachfolge die Islamisten. Ihre Vorgänger waren noch Anhänger eines | |
„Fortschritts“, der ihnen wichtig war, um den Westen einzuholen. Die | |
Islamisten wollten von Anfang an zur islamischen Identität zurückkehren und | |
an den verlorenen Ruhm des untergegangenen arabischen Reiches anknüpfen – | |
an das Kalifat einstiger Zeiten. Dieser Rückschritt, den die Islamisten als | |
Rückkehr zu den Ursprüngen verkauften, hat nicht nur einen früheren Feldzug | |
wiederaufflammen lassen gegen die „Ungläubigen“, sondern auch den | |
jahrhundertealten Krieg zwischen islamischen Schiiten und Sunniten. | |
Unter den jungen Adepten des französischen und belgischen Dschihadismus hat | |
man viele Deklassierte gefunden, viele sozial Benachteiligte, kleine Dealer | |
und Taschendiebe, die sich der Illusion hingaben, dass der „Islam die | |
Lösung“ sei, weil ihnen das irgendein naher Verwandter erzählt hatte. Der | |
Islamismus diente hier als ein vermeintlicher Restart in eine Art | |
moralische Jungfräulichkeit. Indem sich diese Jugendlichen mit ihm | |
vollkommen identifizierten und ihr früheres Leben fortan total ablehnten, | |
gaukelten sie sich eine unsinnige und fatale Macht über „Ungläubige“ vor. | |
Sie glaubten, grausam über Leben und Tod derer verfügen zu können, denen | |
sie früher so unbedingt ähneln wollten. | |
Aber dass diese allermeist jungen Menschen ihre wahnhaften Fantasien in die | |
Tat umsetzen konnten, das war erst möglich, als das „Kalifat“ im Irak und | |
in Syrien wiederauferstanden war. Mit dessen militärischen Niederschlagung | |
ist dieser fantasmatische Traum, dieser Wahn, fürs Erste zumindest | |
geplatzt. | |
## Wichtiger moralischer Sieg | |
Unter all diesen Bedingungen bedeutet der Mammutprozess zum Terror des 13. | |
November 2015 einen wichtigen moralischen Sieg in Paris. Trotz aller | |
Verheerungen hat der Rechtsstaat die Oberhand behalten über eine | |
beispiellose Logik der Grausamkeit und des Gemetzels vonseiten der | |
Terroristen. Die Angeklagten sind letztlich dazu gezwungen gewesen, sich | |
bei den Opfern zu entschuldigen, auch wenn sie versucht waren, ihre | |
jeweiligen Rollen herunterzuspielen – wie etwa Salah Abdeslam, der noch | |
lebende Hauptangeklagte, der dafür plädierte, nicht unwiderruflich zu | |
lebenslanger Haft verurteilt zu werden. | |
Und dennoch – die Gefahr durch den Dschihadismus ist nicht vom Tisch, | |
[5][ist längst nicht gebannt]. Die Metastasen des vorerst verschwundenen | |
„Kalifats“ streuen weiter in Libyen und in Nigeria, in Mali und im | |
ägyptischen Sinai; sie breiten sich auch in Asien aus und sogar in | |
Afghanistan. Dort versucht der IS, die Taliban zu verdrängen. Solange der | |
Dschihadismus weltweit seine Anziehungskraft behält, solange wird das | |
aktuelle Urteil des großen Schwurgerichts von Paris bei weitem nicht | |
ausreichen, um seine tödliche Spirale zu durchbrechen. | |
Aus dem Französischen von Harriet Wolff | |
29 Jun 2022 | |
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