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# taz.de -- Frankreich und islamistischer Terror: Das verwundbare System
> Die französische Politik stärkt den IS mehr, als dass sie ihn schwächt.
> In der französischen Gesellschaft zeigen sich beunruhigende Brüche.
Bild: Ein paar Tage nach dem LKW-Attentat in Nizza
Die beiden Männer, die am Dienstag in einer Kirche südlich von Rouen einen
Priester getötet und mehrere Gläubige als Geiseln genommen haben, waren
Terroristen. Einer von ihnen hatte versucht, nach Syrien zu gelangen, um
sich dort dem „Islamischen Staat“ (IS) anzuschließen. Er war aber an der
Grenze festgenommen und zurück nach Frankreich geschickt worden, wo er im
Gefängnis saß.
Ihn kann der IS als einen seiner „Soldaten“ präsentieren. Demgegenüber
hatte der Lastwagenmörder in Nizza mit Religion nicht viel am Hut. Er ging
nicht in die Moschee, trank ausgiebig, aß Schweinefleisch und nahm Drogen.
Seine Motivation ist eher auf der psychiatrischen Seite zu suchen:
Paranoid, gewalttätig und instabil, war er im Begriff, sich von seiner Frau
scheiden zu lassen, die er geschlagen hatte. Kein Traum von einer Reise
nach Syrien, kein islamistisches Delirium. Und dennoch hat dieser von der
Polizei als „Kleinkrimineller“ erfasste Typ aus Tunesien innerhalb nur
weniger Stunden einen Modus Operandi erfunden, der dem IS einen großen
Schritt nach vorn erlaubt.
Für den „Islamischen Staat“ repräsentiert der Täter von Nizza ein Ideal:…
brauchte niemanden, um sich eine Waffe zu besorgen (einen 19-Tonner), den
Moment des Verbrechens festzulegen (den Abend des Nationalfeiertages
unmittelbar nach dem Feuerwerk) und den Ort (die Promenade, wo sich alles
konzentriert, was in Nizza als familiär und festlich gilt). Obwohl er sich
lange vorbereitet und mehrere Komplizen hatte, agierte er offensichtlich
nicht auf Befehl des IS. Die Führer dieser Organisation mussten über seinen
Einfallsreichtum erstaunt sein, der ihnen gerade recht kam. Und sie
beeilten sich, den Mörder, diesen „Soldaten des Kalifats“, posthum für si…
zu vereinnahmen.
Jetzt können sie hoffen, dass sich andere an ihm ein Beispiel nehmen und
noch härter zuschlagen, ganz alleine, wie die Großen: So entsteht eine
unsichtbare Armee, die sich mit ganz gewöhnlichen Objekten bewaffnet (ein
Lastwagen, eine Axt, ein Küchenmesser) und Datum und Ort festlegt. Denn das
Ziel des „Islamischen Staates“ ist nicht so sehr, die größtmögliche Anza…
von Personen zu töten, sondern ganze Gesellschaften zu terrorisieren und zu
spalten. Dem Nizza-Mörder in seiner Ahnungslosigkeit ist es gelungen, dem
Terror eine neue Qualität zu verleihen und beunruhigende Brüche in der
französischen Gesellschaft zu provozieren.
Nizza ist keine Stadt wie jede andere. Über 20 Prozent der Bevölkerung sind
arabischer Herkunft. Mit Vierteln, die empfänglich für Aufrufe zum Dschihad
sind, und einer großen Gemeinschaft ehemaliger pieds noirs aus Algerien
bietet die Stadt einen idealen Nährboden für Rassismus und Spannungen. Bei
den Regionalwahlen 2015 erreichte die Kandidatin der extremen Rechten,
Marion Maréchal-Le Pen, 45 Prozent der Stimmen in der Region.
Am Tag nach dem Attentat versammelten sich dort, wo der Lastwagen gestoppt
worden war, Bewohner von Nizza, um auszuspucken und den Mörder zu
beschimpfen. Eine kleine Gruppe klatschte stürmisch Beifall. Der Hass aus
Kolonialzeiten wurde zu neuem Leben erweckt. Fast wie ein umgekehrter
Reflex der symbolischen Steinigung des Satans – diese Zeremonie, die für
die Muslime darin besteht, während ihrer Pilgerreise nach Mekka Steine auf
den Teufel zu werfen. Mit der Logik „wir“ gegen „sie“ aber ist man nicht
mehr im Bereich des Politischen, sondern des Irrationalen.
Was ist der große Traum des IS? Dass alle Muslime sich von der
Gesellschaft, der sie angehören, als getrennt wahrnehmen. Und dass sie,
angesichts eines wachsenden Rassismus ihnen gegenüber, danach streben, sich
der klinisch reinen Gemeinschaft des Kalifats anzuschließen.
Nach dem Drama stellten führende Vertreter der Opposition das Handeln der
Regierung in Frage. Die antwortete, dass das Attentat unvorhersehbar
gewesen und die Absicherung der Zone gewährleistet gewesen seien. Leider
stellte sich dieser Schutz als geradezu lächerlich heraus. Warum? Weil die
Behörden, indem sie den Sicherheitsaspekt in den Vordergrund stellten,
PolizistInnen auf dem Gelände verteilten, die seit Monaten von den
Anforderungen völlig erschöpft sind. Dies führte, wie vom IS vorhergesehen
und angekündigt, zu einer „Schwächung der Reihen“, die einen beliebigen
Punkt des Systems verwundbar machte. Die Rechte hätte es sicher nicht
besser gemacht.
## Rückzug des Rechtsstaats
Was bleibt, ist, dass sich die nationale Einheit, die anlässlich der
vorherigen Attentate zelebriert worden war, in Luft auflöste. Experten und
Verantwortliche wurden jedoch nicht müde, Alarm zu schlagen: Die Strategie,
die die französische Politik verfolgt, stärkt den IS mehr, als dass sie ihn
schwächt. Die Vernetzung von Polizei und Militär verhindert keine
Attentate. Der Ausnahmezustand, dessen Verlängerung gerade beschlossen
wurde, hat vor allem den Effekt eines sukzessiven Rückzugs des
Rechtsstaats. Um diese Tendenz umzukehren, haben Spezialisten einige
Vorschläge unterbreitet, die aber im Moment noch in den Schubladen bleiben.
Leider haben sich die Bombardierungen in Syrien und dem Irak, von denen man
glaubte, sie würden den IS zum Rückzug zwingen, als zweischneidig erwiesen.
Die zivilen Opfer sind für die Bevölkerungen unerträglich geworden. Am Tag
nach dem Fall der irakischen Stadt Falludscha, die der IS seit 2014
gehalten hatte, konnte die Koalition unter Führung der USA grausame
Racheakte schiitischer Milizen, die mit den regulären irakischen Truppen
verbündet waren, nicht verhindern. Und so zeigt sich: Solange die
sunnitische Bevölkerung auf dem Territorium des „Kalifats“ die schiitischen
Angreifer mehr fürchtet als die erbarmungslose Ordnung des IS, wird der
Krieg nur schwer zu gewinnen sein.
Der IS „denkt“ politisch und verfolgt eine grausame und effiziente
Strategie. Die Antwort des Westens, die auf dem Einsatz von Polizei und
Militär beruht, spielt ihm dabei in die Hände. Die Toten, Verletzten und
Traumatisierten in Nizza und Rouen haben gezeigt, wie gefährlich dieses
Spiel sein kann.
Aus dem Französischen von Barbara Oertel
27 Jul 2016
## AUTOREN
Selim Nassib
## TAGS
„Islamischer Staat“ (IS)
Schwerpunkt Islamistischer Terror
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