# taz.de -- Anschläge in Europa: Terror von zwei Seiten | |
> Der IS ist geschwächt, aber nicht besiegt. Seine Ideologie lebt weiter. | |
> Und weltweit sollen rund 20.000 Kämpfer zum Einsatz bereitstehen. | |
Bild: Trauernde nach dem Terroranschlag in Wien am Donnerstag Abend | |
Berlin taz | Es war ruhig geworden um den islamistischen Terrorismus in | |
Europa. Langsam glitt er aus dem Bewusstsein der Öffentlichkeit. In den | |
Fokus dagegen rückte, viel zu spät, eine andere Bedrohung: der Terror durch | |
Rechtsextremisten. Sie, so zeigt sich Bundesinnenminister Horst Seehofer | |
inzwischen überzeugt, stellten derzeit die größte Gefahr für die Sicherheit | |
in Deutschland dar – nach dem [1][Mord an dem Kasseler | |
Regierungspräsidenten Walter Lübcke] etwa und den Anschlägen in [2][Halle] | |
und [3][Hanau]. | |
Von Islamisten war kaum noch die Rede. Doch in den vergangenen Wochen hat | |
sich der islamistische Terror mit brutaler Gewalt in unser Bewusstsein | |
zurückgemordet. Mit der [4][Messerattacke auf ein schwules Paar in | |
Dresden], bei der einer der Männer starb, mit der [5][Enthauptung des | |
Lehrers Samuel Paty] bei Paris, der mit seinen SchülerInnen über | |
Mohammedkarikaturen diskutieren wollte, mit [6][dem Angriff in einer Kirche | |
in Nizza]. | |
Und zuletzt mit dem [7][Anschlag in einem Wiener Ausgehviertel], bei dem | |
ein Islamist wahllos auf Menschen schoss, dabei vier von ihnen tötete und | |
viele verletzte. Nun heißt es, der islamistische Terror sei zurück. | |
Tatsächlich war er nie weg. Nur ist er unauffälliger und leiser geworden. | |
Und er schlägt in Europa weniger spektakulär zu. Kleinere Anschläge und | |
Festnahmen von Terrorverdächtigen gab es auch in den vergangenen Jahren. | |
Sie blieben häufig unter dem Radar der Öffentlichkeit. | |
Die militärische Niederlage und der Verlust seines Territoriums, auf dem | |
der IS ein Kalifat mit einer enormen Anziehungskraft auf radikalisierte | |
Muslime in der ganzen Welt ausgerufen hatte, schwächte die | |
Terrororganisation zwar deutlich, doch endgültig besiegt ist sie nicht. Der | |
IS verfügt, so schrieb der Terrorexperte [8][Yassin Musharbash in der | |
Zeit], über schätzungsweise 100 Millionen US-Dollar und 20.000 Kämpfer. Sie | |
operieren in Syrien, dem Irak, Afghanistan und andernorts. | |
Noch vor wenigen Tagen stürmten drei IS-Kämpfer eine Abschlussfeier auf dem | |
Campus der Universität Kabul und erschossen 22 Menschen. Spektakuläre | |
Anschläge in Europa – wie 2015 in Paris, im Jahr darauf in Nizza und auf | |
dem Berliner Breitscheidplatz – zu organisieren, dazu ist der IS nach | |
Meinung vieler Experten derzeit hingegen nicht in der Lage. | |
Nichtsdestotrotz bleibt die Gefahr bestehen. Denn die Ideologie ist nicht | |
verschwunden. Der IS verbreitet seine Propaganda weiter im Netz. | |
## Islamismus und Rechtsextremismus ähneln sich | |
Und die Polizei stuft weiterhin 627 IslamistInnen in Deutschland als | |
GefährderInnen ein, traut ihnen also einen Anschlag zu. Einer von ihnen: | |
der Tatverdächtige aus Dresden. Die aktuellen Täter, so ist der derzeitige | |
Ermittlungsstand, agieren offenbar weitgehend unabhängig vom IS. Die | |
Terrororganisation hat sich nur zu der Tat von Wien bekannt. Dennoch | |
scheinen auch die anderen Anschläge von dem IS zumindest inspiriert gewesen | |
zu sein. | |
So hat der mutmaßliche Täter aus Dresden wie auch der aus Wien in der | |
Vergangenheit erfolglos versucht, ins Kalifat auszureisen. Ob der neue | |
Streit um die Mohammedkarikaturen oder später dann die Enthauptung Patys – | |
ein Mord ganz im Stil des IS – der Auslöser für die neuen Taten war, | |
darüber kann man derzeit nur spekulieren. Ist dem so, und die | |
Sicherheitsbehörden vermuten es, zeigt es aber, wie schnell Radikalisierte | |
im Zweifelsfall zuschlagen. | |
Es wäre also ein großer Fehler für die Sicherheitsbehörden und auch für die | |
Zivilgesellschaft, die Gefahr, die von Islamisten ausgeht, aus dem Blick zu | |
verlieren und ihre Bekämpfung zu schwächen, ganz unabhängig davon, dass es | |
so notwendig wie überfällig ist, die Bedrohung durch Rechtsextremisten | |
endlich ernst zu nehmen und diese entschieden zu bekämpfen. Ohnehin ähneln | |
sich beide mehr, als häufig gedacht wird: | |
Es sind menschen- und demokratiefeindliche Ideologien, die sich gegenseitig | |
in die Hände spielen. Denn jeder islamistische Anschlag fördert | |
Muslimfeindlichkeit, ein Kerngeschäft der Rechtsextremen. Und die Angriffe | |
der Rechtsextremen zielen häufig auf Migranten und Muslime, was deren | |
Radikalisierung fördern kann: Die Spaltung der Gesellschaft nützt beiden. | |
6 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Mord-an-CDU-Politiker-Walter-Luebcke/!5692952 | |
[2] /Prozess-zum-Nazi-Anschlag-von-Halle/!5726173 | |
[3] /Rassistischer-Anschlag-in-Hanau/!5709033 | |
[4] /Messerattacke-in-Dresden/!5720528 | |
[5] /Trauer-um-ermordeten-Lehrer-bei-Paris/!5720050 | |
[6] /Messerattacke-in-Frankreich/!5724653 | |
[7] /Nach-dem-Attentat-in-Wien/!5726523 | |
[8] https://www.zeit.de/2020/46/islamischer-staat-terroranschlaege-europa-wien-… | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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