# taz.de -- Pädagoge über Deradikalisierung: „Ein Restrisiko bleibt immer“ | |
> Thomas Mücke vom Violence Prevention Network arbeitet mit rechtsradikal | |
> oder islamistisch indoktrinierten Jugendlichen. Die Pandemie hat seinen | |
> Job erschwert. | |
Bild: Gedenkstätte in Wien: zwei Frauen zünden Kerzen für die Opfer des Terr… | |
taz am wochenende: Herr Mücke, der mutmaßliche Attentäter von Wien ist erst | |
kurz vor der Tat aus dem Gefängnis gekommen, dort saß er, weil er versucht | |
hatte, zum IS auszureisen. Er ist vorzeitig aus der Haft entlassen worden, | |
weil man ihm abnahm, dass er diesen Schritt bereut hat. Wie kann es zu | |
einer solchen Fehleinschätzung kommen? | |
Thomas Mücke: Im Grunde gibt es gibt zwei Möglichkeiten: Dass er wirklich | |
in der Deradikalisierung Fortschritte gemacht hat, aber man zu früh zu der | |
Einschätzung kam, dass er nicht mehr gefährlich ist. | |
Deradikalisierungsprozesse sind langfristig und müssen eng begleitet | |
werden. Es kann immer zu einer Reradikalisierung kommen und möglicherweise | |
war das in Wien der Fall. Die zweite Möglichkeit ist, dass die Person von | |
vornherein das Programm, die Sicherheitsbehörden und die Justiz getäuscht | |
hat mit der Absicht, einen Anschlag zu begehen. Wenn man das geschickt | |
macht, kann das kein Mensch erkennen. Aber das ist aus der Ferne schwer zu | |
beurteilen. | |
Sind die Deradikalisierungsprogramme in Österreich und Deutschland ähnlich? | |
Nein, das läuft anders, man kann die Programme nicht vergleichen. In | |
Österreich sind drei unterschiedliche Träger zuständig. Soweit ich weiß, | |
war es in diesem Fall [1][Derad], das ist ein eher religionspädagogisches | |
Programm. Wenn man sich vor allem die religiöse, die extremistische | |
Orientierung anschaut, reicht das nicht aus. Man muss auch im Blick haben, | |
was die Menschen ansonsten noch instabil hält und ob sie in Situationen | |
geraten, wo sie vielleicht zu Handlungen bereit sind. Aber wie gesagt, das | |
kann ich aus der Ferne schwer beurteilen. | |
Sie mussten Anfang Oktober eine ganz ähnliche Erfahrung machen wie der | |
Wiener Verein jetzt. Der Islamist, der mutmaßlich in Dresden ein schwules | |
Paar angegriffen und einen der [2][Männer] getötet hat, war vorher auch im | |
Gefängnis, Violence Prevention Network hat ihn dort betreut und nicht | |
bemerkt, wie gefährlich er mutmaßlich akut war. Wie ist das passiert? | |
Die Fälle sind sehr unterschiedlich. In Österreich ging es um einen | |
gebürtigen Wiener, in Dresden um einen Tatverdächtigen, der als | |
minderjähriger unbegleiteter Flüchtling mit 15 aus Syrien geflohen ist. | |
Dieser junge Mann, inzwischen 20, saß lange in U-Haft, wo wir nur erste | |
Kontaktgespräche führen konnten. Nach dem Urteil wollte er erst nicht mit | |
uns arbeiten, im April hat er sich umentschieden, dann kam Corona. Deshalb | |
konnten wir erst Ende Juni mit der Arbeit beginnen, da war die Zeit bis zur | |
Haftentlassung kurz. Es gab von uns, anders als in Wien, keine | |
Einschätzung, dass die Person deradikalisiert oder nicht gefährlich ist. | |
Wir waren noch ganz am Anfang der Arbeit. Es war bekannt, dass er ein | |
islamistisches Weltbild hat, er hatte einen Gefährderstatus und es gab eine | |
enge Zusammenarbeit mit den Sicherheitsbehörden. | |
Sie hatten nach der Tat noch Kontakt zu ihm. Wie war das? | |
Wir hatten am 23. September im Vollzug das letzte Gespräch, am 29. ist er | |
entlassen worden. Weil er als Gefährder eingestuft war, hatte er erhebliche | |
Auflagen und stand unter Führungsaufsicht. Wir hatten dann drei Termine mit | |
ihm, den ersten am 5. Oktober, das war ein Tag nach der Tat, die Kollegen | |
waren sogar mit ihm in der Nähe des Tatorts. Sie haben ihm keine Reaktion | |
angemerkt. Dann wurde er als Tatverdächtiger festgenommen. | |
Sie haben viel Erfahrung mit Deradikalisierungsprozessen. Woran merkt man, | |
wenn man getäuscht wird? | |
Wenn zum Beispiel jemand aus Syrien zurückkommt und gleich sagt: Ich hab | |
einen Fehler gemacht, jetzt soll es anders werden, dann werden wir | |
hellhörig. Das geht zu schnell, da wird meistens etwas tabuisiert. Diese | |
plötzliche Selbstderadikalisierung, die gibt es eigentlich nicht. Auch der | |
Dresdener Fall hat erzählt, er sei mit den falschen Leuten zusammengewesen | |
und habe einen Fehler gemacht. Das ist eine vereinfachte Darstellung. Da | |
merkt man schnell, dass es keine richtige Auseinandersetzung gibt. | |
Und planvolle, bewusste Täuschung? | |
Solche Versuche gibt es auch. Das sind wenige, aber sie kommen vor. Und | |
wenn wir merken, der ist nicht wirklich bereit, etwas zu verändern, sondern | |
behauptet das nur, dann bleiben wir trotzdem dran. Als Frühwarnsystem. Wir | |
achten natürlich immer auf Punkte, wo etwas passieren könnte. Man kann | |
nicht in die Menschen hineinschauen, aber man kann auf Signale achten, auf | |
Unruhe, wenn jemand labil ist. Da geht es nicht nur um Fakten, sondern auch | |
um Eindrücke, die geben wir auch an die Sicherheitsbehörden weiter. | |
Haben Sie in bei dem Dresdner Tatverdächtigen etwas übersehen? Haben Sie | |
einen Fehler gemacht? | |
Nein, ich wäre sogar fast erleichtert, wenn man einen Fehler sehen könnte, | |
dann könnten wir das verbessern. Aber in dem konkreten Fall haben wir noch | |
keinen Fehler gefunden. Es gab kein Signal. Wir fragen uns natürlich auch, | |
was war der Auslöser? Gab es ein lange geplantes Drehbuch, nach der | |
Haftentlassung zuzuschlagen? Oder was hat ihn getriggert? Welche Ereignisse | |
gab es? Vielleicht die Diskussion über die Mohammedkarikaturen? Dann ist | |
Dresden für Salafisten ja immer eine besondere Stadt wegen des Mordes an | |
der Muslimin Marwa El-Sherbini vor elf Jahren. Wir wissen es nicht. | |
Sie sagen: Man kann nicht in die Menschen hineinschauen. Muss man also, | |
auch bei einem noch so guten Programm, immer mit einem Restrisiko leben? | |
Ja, ein Restrisiko bleibt. Bei Deradikalisierung muss man davon ausgehen, | |
dass es zu Rückfällen kommen kann. Aber durch die Programme gibt es mehr | |
Sicherheit. Sie können nicht jedes Feuer löschen, aber verhindern, dass es | |
einen Flächenbrand gibt. Das trifft im Übrigen auch auf die | |
Sicherheitsbehörden zu. | |
Reicht das Angebot in den deutschen Gefängnissen? | |
Da ist in den vergangenen Jahren wirklich viel gemacht worden, wir sind gut | |
aufgestellt, seit 2015 über das Programm „Demokratie Leben“. Aber in der | |
letzten Zeit behindert die Pandemie natürlich die Arbeit. Wir konnten nicht | |
in die Gefängnisse, aber wir brauchen Face-to-Face-Kontakte. Klienten, die | |
aus der Haft entlassen wurden, waren isoliert, verunsichert und wieder | |
anfälliger. Es gab gezielte Rekrutierungsversuche in dieser Lockdown-Zeit | |
im Frühjahr, aber Gott sei Dank haben die Betroffenen uns informiert, | |
sodass wir eingreifen konnten. Extremisten nutzen die soziale | |
Verunsicherung. | |
Irgendwann wird eine größere Zahl Islamisten und Islamistinnen, die beim | |
„Islamischen Staat“ waren, zurück nach Deutschland kommen. Ein Teil von | |
ihnen, insbesondere Männer, dürfte im Gefängnis landen. Sind die | |
Haftanstalten darauf eingestellt? | |
Die große Zahl an Rückkehrern sehe ich noch nicht. | |
Nach Zahlen der Bundesregierung befinden sich mindestens 450 Deutsche, die | |
ausgereist sind, noch im Ausland. | |
Was stimmt: Insbesondere die Männer sind eine problematische Gruppe: oft | |
hochgradig ideologisiert, fanatisch und militärisch ausgebildet, sie waren | |
vielleicht an Kriegsverbrechen beteiligt. Diese Gruppe, mit der es noch | |
keine Erfahrung gibt, wird uns vor eine große Herausforderung stellen. Wir | |
werden mit ihnen arbeiten müssen, das wird schwer werden. Aber wir werden | |
Zeit haben. Noch ist völlig unklar ob und wann sie kommen, aber die meisten | |
werden wohl langjährige Haftstrafen bekommen. | |
Gefängnisse sind auch Orte, an denen sich Menschen radikalisieren. Wie ist | |
da Ihre Erfahrung? | |
Im Vollzug ist man inzwischen sehr aufmerksam. Die Deradikalisierungsarbeit | |
ist wirklich gut aufgestellt, daneben gibt es Arbeit im präventiven | |
Bereich. Sie soll Leute stark machen, damit sie nicht anfällig sind. Ein | |
Problem ist die Untersuchungshaft, die mittlerweile relativ lange dauert. | |
Da man von der Unschuldsvermutung ausgehen muss, können wir dort nicht | |
arbeiten. Wir haben aber auch die Angst, instrumentalisiert zu werden – | |
also dass man uns täuscht, um später im Prozess einen guten Eindruck zu | |
machen. Aber das ist natürlich vertane Zeit, in der die | |
Radikalisierungsspirale weitergehen kann. | |
Wie sieht es mit Rekrutierungsversuchen oder gar salafistischen Netzwerken | |
im Gefängnis aus? | |
Früher war das ein Problem, aber daraus ist gelernt worden. Da hat sich | |
wirklich viel getan, die Zusammenarbeit funktioniert. Diese Strukturen muss | |
man aufrechterhalten. | |
7 Nov 2020 | |
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[1] https://wien.orf.at/stories/3074346/ | |
[2] /Messerattacke-in-Dresden/!5724638/ | |
## AUTOREN | |
Sabine am Orde | |
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